Die Zeit dehnt, der Raum faltet sich und alles wird von einem allumfassenden Gefühl der Verzerrung verschlungen.
Es ist weniger als ein Wimpernschlag und doch fühlt es sich viel länger an. Ich spüre, wie sich alles in meinem Körper zusammenzieht, während sich mein Geist ausdehnt. Ich sehe durch meine Augen und doch bin ich zugleich außerhalb meines Körpers, mit einem Blick in unendliche Weiten. Sterne, die sich winden, Sonnensysteme, die sich verschieben, Galaxien, die sich verschränken, Universen, die sich vereinen und wieder trennen.
In diesem Moment spielt es keine Rolle, wo mein Körper sitzt, ob sich meine Hände an den Lehnen festhalten, ob mein Körper den Atem anhält, ob meine Augen etwas sehen oder ob es nur mein Geist zu erfassen vermag. Alles was zählt, ist dieser Moment.
Und es ist dieser Moment, in dem sich dieses Gefühl in meinem Inneren bestätigt. Wirkt es doch erst, wie ein harmloser, golden schimmernder Schleier, welcher sich dem Schiff entgegen wirft. Rauchige Spiralen, gleich eines gigantischen Torbogens, der sich in seiner dunstig feurigen Art, in unsere Richtung bahnt und im Rausche der Geschwindigkeit das Schiff erfasst, genau im Augenblick des Sprungs.
Mein zielstrebiger Blick, wie gefangen in erstarrter Bewegungslosigkeit, fängt erst verzögert die visuellen Reize der Umwelt um mich herum ein. Als würde ich nur die Wiederholung der Zeitlinie betrachten, wie sie im Zeitraffer, vermischt mit Bilder verlangsamten Zeitflusses, vor mir abläuft und ich dabei zusehen kann. Kontrolle, die sich mir entzieht. Ein Beobachter der eigenen Realität. Sehe ich dabei zu, wie sich Fassungslosigkeit im Raum ausbreitet.
Sternenbilder, die mir im ersten Moment noch vertraut waren, verwandeln sich in ein unbekanntes Wirrwarr. Sayoul ist nicht inmitten eines Trümmerrings gelandet, auch sind die umliegenden Planeten anders angeordnet und die Sonne im Zentrum wirkt gänzlich fremd.
Wir haben uns von der Zentralsonne dieser Schöpfung entfernt, der wir zuvor noch näher waren.
Dieses Sonnensystem scheint näher am Rand zu liegen. Alt genug, dass uns keine Feuerkugeln umkreisen und jung genug, dass scheinbar keine weiterentwickelte Zivilisation in Reichweite scheint. Zumindest lassen sich hier keine Raumschiffe erkennen und die Oberfläche des nächstgelegenen Planeten, wirkt unserer Heimat nicht unähnlich. Jedoch nur auf den ersten Blick, denn dies ist nicht die Heimat. Es ist nicht das, was das Ziel war. Es ist nicht das, was ich meinem Volk versprochen habe.
Langsam erhebe ich mich von meinem Platz, löse meine Hände von den Lehnen und schreite auf den Ausblick zu. Als würde ich mich versichern wollen, dass das hier keine Illusion ist. So beäuge ich in aller Gewissheit die Sterne der Umgebung und den Planeten, auf den wir langsam zufliegen. Das HUD meines Solarys Ocular, bietet jedoch keine schlüssigen Informationen, sondern eher Vermutungen und greift seltsamerweise, in seiner Suche, auf immer ältere Informationen zu. Vergleiche und Blaupausen von Archivmaterial, huscht über das Display meiner filigranen Linsen. Archivmaterial, welches wir dem Schiff auf unserer Reise hinzugefügt haben. Von der großen Zentralbasis, bis hin zu den kleinen Posten weniger bekannten Spezies.
Ohne Heimat und ohne Ziel, hatten wir es uns einige Jahre zur Aufgabe gemacht, Informationen zu sammeln und aus diesem Schiff eine Basis des Wissens zu gestalten. Das Ziel unserer alten Heimat, sollte die letzte Reise sein, uns zur Ruhe zu setzen und all das Wissen gebündelt und frei zur Verfügung zu stellen. Stete Ausstrahlung ins All. Die Bedingungslose Offenheit und Zugang zu allem Wissen, welches wir durch Zeit und Raum und durch uns Selbst sammeln konnten, sollte unser Vermächtnis sein.
So nahe am Ausblick, spüre ich den Drang, meine Hand auszustrecken, als könnte ich die Oberfläche der Realität berühren und einen Schleier zur Seite schieben. Hinübertreten und erkennen, dass dies hier nur ein kleiner Moment der Verschränkung wäre. Ein sich überschneidendes Bild, bevor sich die eigentliche Realität einstellt.
Doch ich strecke meine Hand nicht aus, denn ich bin mir gewiss. Schweigsam betrachte ich den blauen Planeten, während Sayoul an einem ganz ähnlichen vorbeifliegt. In der Ferne erkenne ich weitere Planeten, wobei einer wie ein roter und der andere wie ein blauer Ball anmuten. Einer unter ihnen, sticht besonders durch seine Größe und Anzahl an Monden hervor und ein anderer, durch seine große Distanz am Rande des Sonnensystems. Und gerade, als ich erneut nach Anzeichen von Leben Ausschau halte, laufen, simultan zur Suche nach Informationen, Scanns durch die Systeme, die jeden Planeten in Reichweite abtasten. Und es findet Leben, viel Leben.
Der Planet, den wir bereits hinter uns gelassen haben, sowohl auf dem Land als auch im Gewässer. Ähnlich und doch etwas anders, als der auf den wir zufliegen. Dieser ist um ein zehnfaches artenreicher und belebter. Diese Planeten sind wie Zwillinge, die sich allein durch die Distanz zur Sonne unterscheiden und dementsprechend andere Bedingungen bieten. Dabei erkennen die Systeme sogar komplexere Lebewesen, bis hin zu humanoiden Bewohnern. Auf den Zwillingen, aber auch auf dem Riesen und dem Roten. Auf den weiter entfernten Planeten befindet sich komplexeres Leben, neben Bakterien und Einzellern, entweder versteckt, unter ihren Oberflächen oder ist nicht vorhanden, denn ihr Scann fällt am übersichtlichsten aus.
Ich bin mir nicht sicher, welche Emotion ich bei diesem Anblick mehr verspüre. Ob es die Enttäuschung oder die Chance auf Entdeckung ist, welches mich mehr überwältigt. Ob es die Erkenntnis einer Vorahnung oder die leise Frage im Hintergrund ist, dies vielleicht verhindert haben zu können. Diese Situation von Ungewissheit, warum wir hier sind und nicht dort.
Und trotz allem, wenn ich auch nur eines gelernt habe, dann das alles aus einem bestimmten Grund geschieht. Doch wir sind eine aussterbende Spezies. Was haben wir für eine Zukunft hier? Weit weg von unserer Heimat gestrandet. Warum hat uns Sayoul hier her gebracht?
Auch wenn diese Fragen still in mir arbeiten und ich im Geiste einen Sinn erkenne, so belasse ich es schweigsam, als ich Schritte höre, die zu meinen Seiten zum stehen kommen.
Zuuri und Maari, zu meiner Linken und Rechten, vermag ich ohne direkten Kontakt beinahe, trotz der Distanz zwischen uns, schon zu spüren, so deutlich erkenne ich ihre Aura die meine streifen. Respektvoll wahren sie die Stille um mich herum und erweisen mir die Möglichkeit zu sprechen. In Worte zu fassen, was sich sonst keiner auszusprechen traut. Worte, die dem was geschehen ist, Raum und Klang verleihen sollen. Einsame Worte, in der Weite einer unbekannten Gegenwart.
„Sayoul hat uns an einen Ort gebracht, den wir nicht kennen. Die Sonne unserer Heimat, hat unseren Weg gelenkt. Es scheint, dass die Zeit unserer letzten Ruhe noch nicht gekommen ist, dass unser Weg hier her, statt an unser Ziels Ende geführt hat.“
In mich gekehrt, lasse ich meinen Blick auf das Bild vor mir ruhen. In dieser Stille, gebe ich meinen Worten die Möglichkeit, zu wirken und sich im Bewusstsein auszudehnen.
Dabei vergehen ein paar Augenblicke, ehe erneute Schritte den Raum erfüllen. Schritte, welche von außerhalb in den Raum vordringen und ich ahne bereits wessen es sind, noch ehe ich mich ihr zuwende. Es wundert mich nicht, denn sie wird es gespürt haben. Eine Geste der Begrüßung geht durch den Raum, während aller Fokus nun auf sie ausgerichtet ist.
Ihre leuchtenden Augen suchen meinen Blick auf. Ihre Mundwinkel sind zu einem verständnisvollen Lächeln verzogen, während sie ihre eigene Geste ausführt und danach ihre Hände nach mir ausstreckt. Aloïs Nähe tut in diesem Moment gut.
Mit einem Nicken bitte ich alle Umstehenden, sich zu uns zu gesellen und bilden automatisch einen Kreis der Verbindung. Dabei legt jeder seine Hände auf die Schultern seines nächsten. Ein Moment, das Band bewusst zu spüren.
Gemeinsam kehren wir in uns und suchen die Konstante der inneren Ruhe auf. Die Emotion des gegenwärtigen Geschehens, darf nicht die Entscheidung, die getroffen werden muss, trüben. Über die Bestärkung und durch die Gegenwart der Gemeinschaft, versuche ich indessen klare Gedanken zu fassen und lausche dabei dem gemeinsamen Atem.
Ich spüre mit jedem Atemzug, wie sich die Energie im Raum klärt und die unterschwellige Unruhe weicht. So kehrt auch die Klarheit zurück in meinen Körper. Als sich meine Augenlider wieder öffnen, tun sich nach wenigen Augenblicken auch die aller anderen wieder auf. Mit einem erneuten Nicken in die Runde, löse ich die Situation wieder auf.
„Mit deiner Erlaubnis, werde ich die anderen informieren. Es war weithin zu spüren, dass etwas nicht stimmt. “
Aloï spricht gefasst und sucht mit einem letzten Körperkontakt meine Nähe. Kurz berühre ich dabei ihre Stirn und umfasse mit meinen Händen die ihren, ehe ich sie loslasse. Mit einer Geste meiner Mimik bejahe ich ihre Anfrage und schaue beinahe gedankenverloren zu, wie sie aus dem Raum hinausgeht. Voller Anmut schnellen ihre Schritte. Zurück in die Geborgenheit der Wärme, derer ich ihr ohnehin empfohlen hätte zurückzukehren.
Doch statt wieder in der Stille zu versinken, erheben sich nun Worte aus einer anderen Richtung. Worte, denen ich lausche, während ich mit meinem Blick durch die Gesichter der Anwesenden gleite. Gesichter die meinen Blick aufsuchen, auf der Suche nach Orientierung.
„Kaiser, wie sollen wir weiter vorgehen? Sayoul hält weiter auf diesen Planeten zu und laut Daten, ist dies sogar das Ziel. In den Aufzeichnungen gibt es keinen eindeutigen Hinweis, wo wir uns befinden und was dies für ein Planet ist. Aber es beherbergt Leben. Leitet uns der Weg des Lebens zu diesem Ort? Sollen wir uns diesen Ort ansehen?“
Zuuris Worte wirken, in seiner pflichtbewussten Art, von Ruhe durchzogen, während Maari einen flüchtigen Blick nach draußen wirft. Ein Blick, dem ich Interesse ablesen kann. Interesse, was sich dort auf der Oberfläche befinden könnte, während Zuuri sich nach mir zu orientieren versucht und meine Gedanken zu seinen Worten abwartet.
Eine Haltung, die sich mit den verstreichenden Augenblicken, nach und nach, in einem jeden ihrer Gesichter sich einfindet.
„Wir werden die Zeit, die uns gegeben ist, sinnvoll nutzen. Soweit ich gesehen habe, umkreist ein einzelner Mond unser Ziel. Sayoul soll auf dessen Schattenseite außer Sichtweite verweilen. Wenn die Bedingungen auf diesen Planeten es erlauben, dürfen sich freiwillige dazu bereiterklären, mit eines der Noyous Kurzstreckenschiffen, zum Planeten zu fliegen.“
Die Gruppe lässt sich erneut von der leicht schwingenden Energie, die Maari auf meine Worte hin ausstrahlt, tragen und sie wirken, als würden sie sich mit diesem Planeten etwas erhoffen. Eine Hoffnung, der Zuuri mit seiner gefassten Art schweigsam begegnet. Genau so wie ich.
Ein Gegengewicht, welches rasch wieder auf das wesentliche zurück führt und die kleine Runde von Versammlung vollends auflöst. Soweit sich alle wieder auf ihre Posten zurückbegeben, bleibt nur Zuuri an meiner Seite zurück und fragt mit einer respektvollen Geste um meine Aufmerksamkeit. Eine Geste, derer ich mit einem Nicken meinerseits antworte und geduldig seine Worte abwarte.
„Ich schätze diese Entscheidung sehr, Kaiser. Wenn es mir erlaubt ist, werde ich dennoch tun was ich kann, um eine mögliche Rückkehr zu unserem ursprünglichen Ziel zu berechnen.“
Erneut nicke ich ihm zu und schenke ihm ein anerkennendes Lächeln, sowohl für seine Offenheit, als auch für seinen Willen. Jeder Aspekt sollte bedacht werden. Sowohl für das, was vor uns liegt, als auch das, was noch vor uns liegen könnte. Alles was war, ist und noch kommen mag, ist eine stetige Manifestation. Die Zukunft ist so beweglich, wie jede einzelne Entscheidung, aus der sie geformt wird. Meine Entscheidung, diesen Planeten genauer zu betrachten, mag sich dabei als hilfreich oder aber auch als Fehltritt herausstellen. Doch das ist in diesem Moment nicht entscheidend. Denn ich spüre, dass es etwas damit auf sich hat.
Etwas befindet sich auf diesem Planeten, dessen ich mir mit jedem weiteren Atemzug mehr bewusst werde. Etwas, das auf uns wartet. Dabei kann ich nicht ausmachen, was genau es ist und für wen es bestimmt sein könnte. Ich spüre nur einen gewissen Fluss von Energie, die unseren Weg in diese Richtung des Weges zieht. Ein Schicksal, dessen wahres Gesicht sich erst noch zeigen wird.