Etwas abseits vom Strand und den übrigen Múlsen, ein alter Begriff für die Unterkünfte unserer Heimat, stehen die Múlsen der Geburt. Ein Ort, an dem das neue Leben heranwachsen und geboren werden kann. In unserer Heimat war dies ein besonderer energetischer Knotenpunkt. Auf diesem Schiff musste jedoch künstlich nachgeholfen werden, durch Technologie dieses nachzustellen. Genauso wie alles andere, was diese Erinnerung einer Welt ausmacht.
Auch hier haben wir ein energetisches Netzwerk gebaut, welches sich durch den Boden zieht und sowohl unsere Heimat simuliert, als auch eine gewisse Harmonie in Frequenz zwischen uns und unserer Umwelt ermöglicht. Wie stark diese Illusion ist, zeigt sich sogar darin, dass die Múlsen unseren Unterkünften täuschend ähnlich und sogar begehbar sind. So wie auch die Múl, in der die anstehende Geburt vollzogen wird.
Was den Prozess unserer Fortpflanzung angeht, bin ich auf noch keine Spezies getroffen, die uns in dieser Hinsicht gleicht. Die meisten pflanzen sich durch körperliche Paarung fort. Es gibt aber in unserer Spezies keine solche spezifische Einteilung, die diese Art der Praktik erfordert. Es gibt bei uns eine Differenzierung, aber diese ist viel subtiler. Es gibt zum Beispiel keinen Körpergrößenunterschied, nur im Körperbau, der ein gewisses Männlich und Weiblich voneinander unterscheiden lässt. Während dem Weiblichen eine gewisse Zierlichkeit und sanfte Rundung zukommt, so ist das Männliche mehr durch Gerade Konturen geprägt. Es ist jedoch schon vorgekommen, dass anderen Spezies dieser Unterschied nicht direkt auffiel, besonders was unsere uneindeutigen Stimmen und feingeschnittenen Gesichter betrifft. Wir sind generell nicht sonderlich muskelbepackt, jedoch gut konturiert. Soweit ich mitbekommen habe, nannte man uns oft ansehnlich.
Was unsere Art der Fortpflanzung so besonders macht, ist der Prozess und die Dauer. Zwei Individuen, die sich dazu berufen fühlen, gehen dafür eine besondere Verbindung ein. Eine Verbindung, die Nähe mit sich bringt aber keiner Penetration bedarf.
Der Ausschlaggebende Punkt, findet auf seelisch geistiger Ebene statt und erzeugt ein Feld, welches sich zu einer Perle verdichtet. Ein pulsierendes Konstrukt mit feinstofflichen Rahmenbedingungen. Kein Feld gleicht dem anderen, jedes ist einzigartig, in seiner Farbe und Frequenz, welches die Perle in seiner Mitte schweben lässt. Diese Perle selbst, strahlt einen gewissen Glanz aus, der an die Partikel unserer Haut erinnert, subtil leuchtend und in sanften Farben gebrochenen Lichtes.
Nach alter Zeitrechnung, nimmt dieser Prozess etwa 7 Tage in Anspruch. Vom Funken, über Beseelung bis zum ersten Atemzug des neuen Lebens. Und genauso, wie die Geburt, so ist auch der Tod. Genauso, wie die Seele dem Körper das Leben verleiht, so löst er sich, beim lösen des Geistes vom Körper, wieder auf. Eines der vielen Gründe, warum wir uns stets unseres wahren Wesens bewusst sind. Wiedergeburt, ein Leben nach dem Tod und die Existenz der eigenen Seele, sind für uns ein fester Bestandteil unserer Kultur.
Die anstehende Verwirklichung, ist bereits die dritte dieser Verbindung. Mein Sohn Zúhli und seine Gefährtin Mooát, haben bereits bei den ersten beiden Wert auf die Begriffe unserer Heimat gelegt und sie nach den Jahreszeiten unseres Ursprungs benannt. Im dritten Jahr auf diesem Raumschiff, kam die erstgeborene Tochter des Namens Khïuki. Im neunten Jahr, kam der zweitgeborene Sohn des Namens Nïghio. Nun sind wir bereits im siebzehnten Jahr und ganz nach dem Vorgehen, wird mit Sicherheit der Name des drittgeborenen Kindes mit Lïhio gewählt werden.
Ob man es Schicksal nennt oder nicht, hat bisher nur Khïuki die sandfarbenen Partikel in den leuchtenden Augen, ganz so wie ihr Name für die wärmste Jahreszeit unserer Heimat steht. Und so selten wie eine Geburt zu Nïghio war, so außergewöhnlich sind auch seine Augen fast gänzlich Gold schimmernd.
Es hat eine Weile gebraucht, bis sie bereit dazu waren. Im Grunde erst, nachdem Mooát den Verlust ihrer Schwester Laenhis Novaah verarbeitet hatte, der sich kurz vor der Vervollständigung des Schiffes ereignete. Ihr Gefährte, Zuuri Novaah, brauchte etwas länger, da er, im Gegensatz zu Mooát, direkt anwesend war als es geschah.
Es war ein kleiner und kurzer Konflikt mit Menschen, die uns wie Beweise einer Tat auslöschen wollten. Denn kurz vor dem Ende unseres Baus, hatte der Befehlshaber der in dem Konflikt, bei dem unser Planet zerstört wurde, verwickelt war, von unserem Aufenthalt erfahren. Es gab einen Kampf, den wir mit Verlusten gewannen. Dabei war die Mithilfe eines anderen Befehlshabers entscheidend, der sich für die Aufdeckung unseres „Falls“, wie er es nannte, eingesetzt und am Ende den betreffenden Mann des Verbrechens gestellt hatte.
Sowohl für uns als auch für die Menschen, war es ein schmerzlich als auch lehrreicher Prozess, in dem die Wahrheit endlich ihren Weg auf beiden Seiten fand. Wir hatten zuvor zwar bereits 30 Jahre Zeit gehabt, die Emotionen zu verarbeiten aber zu verstehen, was wirklich geschehen war und warum es uns getroffen hatte, war noch etwas anderes. Es war für die meisten etwas erlösendes, selbst im Angesicht neuer Verluste. Denn es lag keine Frage nach dem Warum mehr im Raum.
Nach diesem Vorfall, als wir, unsere Reise in diesem Schiff aufgenommen, erneut und zuletzt auf Menschen trafen, war sogar derjenige dabei, der uns geholfen hatte. Durch ihn erfuhr ich unter anderem, welche Strafe dem Befehlshaber zukam, der uns so vehement auszulöschen versuchte. Eine Strafe, die gewiss ausschließt, dass dieser Mensch je noch irgendjemandem Schaden zufügen kann. Auch jeder, der wissentlich und wesentlich dazu beigetragen daran beteiligt war, sowohl beim einen als auch beim anderen Geschehen, wurde einer Strafe zugeführt.
Ich erinnere mich an dieses Gefühl. Diffus und unnahbar, ein Gefühl von Klarheit und Gewissheit, aber nicht auf mich oder mein Volk bezogen, sondern darauf, dass eine aktive Gefahr neutralisiert wurde. Denn es war sicherlich nicht das einzige seiner Taten und wir nicht die einzigen die darunter zu leiden hatten. Freundlich sind wir auseinander gegangen. Und so bewahre ich mir in Erinnerung, dass die Spezies Mensch zu vielem Fähig ist. Vor allem zu gutem.
„ Melóhïneï, wie schön dich hier zu sehen, Haban. Es ist bald soweit.“
Worte, genau zur richtigen Zeit, die mich aus meinen Gedanken befreien und durch Hände unterstrichen werden, die sich von der Seite an meine Schultern schmiegen. Aloï gesellt sich zu meiner linken, während ich ihren Gruß beantworte, wobei ich mich wie angewurzelt vor dem Eingang des Múls fühle. So stehen wir nun zu zweit hier, mit Blick auf die Struktur, die sich nach oben hin zu einer Spirale verjüngt dem Himmel entgegen streckt.
Nach ein paar Augenblicken, schließe ich die Augen und spüre diesen Moment der ist. Ich spüre eine Brise auf der Haut, das Licht meine Augenlider berühren, die Wärme mich in eine Umarmung nehmen und eine Energie der Vorfreude mich durchströmen. Ich fühle Aloï nahe bei mir und lege meinen linken Arm um sie. Ich höre ihren Atem im Einklang mit dem meinigen und meine fast neben mir zu stehen und zuzusehen, wie Aloï ihr Kinn auf meine Schulter legt und auch ihre Augen dem Moment gegenüber schließt. Ein Moment, so klar und rein. Augenblicke verschmelzen sich dabei zu einer Ewigkeit ungezählter Zeit und ich kann kaum ermessen, wie lang wir einfach nur so dastehen.
„ Melóhïneï, Melóhïneï.“
Meine Augen öffnen sich und ich erkenne, wie sich Grüße teilen und weitergeben. Es wirkt für einen Moment so unwirklich und doch greifbar, als wäre dies mehr als nur eine Illusion und sehe sie beide vor mir, als wären wir wirklich dort. Ich sehe ihre Gesichter voller Freude, mit einem kleinen Wesen auf dem Arm, wie sie dort gerade aus dem Eingang heraus kommen und ihre Hände zu einem Gruß an die Stirn legen, nur um sie uns entgegen zu strecken und zu öffnen. Ich sehe dabei so viel Freude, in jedem Aspekt ihrer Gestik. Gerade als ich ihren Gruß beantworte, wendet sich das Gesicht des kleinen Wesens mir zu und das erste was ich erkenne, sind diese klaren Augen. Dieses unvergleichliche Blau. Dabei verschmilzt mein Gedanke an was es mich erinnert, mit Worten die ich bereits ahne.
„ Lïhio ist ihr Name. Zu ehren meiner Schwester, dessen Augen ihr so ähnlich sind. Die Farbe der Blüte, ist wie eine Erinnerung an die Heimat. Selbst das Muster gleicht sich in ihren Augen.“
Zúhlis Stimme klingt sanft und voller Freude. Mooát ziert ein stetes Lächeln auf den Lippen. Mit freundlicher Mimik und vielsagenden Nicken, lasse ich meine Freude für sich sprechen. Aloï neben mir, ergreift nach ein paar Atemzügen jedoch die Initiative und nimmt Zúhli in den Arm, während sie Mooát sanft mitnimmt.
Vom Moment des Überschwangs getragen, geselle ich mich sogar für einen Moment dazu und lege meine Hände auf die Schultern der beiden Eltern. Dabei findet das Kind wieder einen Weg, sich umzudrehen und zwischen den beiden über dessen Schulter zu mir hinüber zu schauen. Wache Augen, die mich mustern. Und etwas, das wie ein Lächeln aussieht. Ich kann es beinahe spüren, eine Ahnung und Frage, ob es möglich wäre, ob sie vielleicht wieder ihren Weg zu uns zurück gefunden hat, um ein neues Leben in unserer Mitte zu führen?
Gerade als ich mich wieder löse, löst sich auch die allgemeine Nähe und wir stehen uns erneut gegenüber. Noch während ich auf meine letzte Frage in Gedanken, mit Blick auf das Kind, einzugehen versuche, höre ich, wie sich Schritte nähern und die Atmosphäre sich greifbar verändert. Erst mit respektvollem Abstand, um sich dann doch vor zu trauen. Einzeln oder paarweise kommen sie auf sie zu, um mit Gesten der Freude ihre Glückwünsche zu bekunden. Aloï und ich ziehen es derweil vor, uns ein Stück weit zurück zu ziehen und dem Geschehen den notwendigen Platz zu geben, während sich die Atmosphäre schlussendlich in eine Stimmung der Feierlichkeit wandelt.
Ein neues Leben ist ein Grund, alles andere hintenan zu stellen und uns ganz diesem Moment zu widmen. Und so wie ich es bereits geahnt habe, ist dieser Moment für alle das, was sie alles andere vergessen lässt. So sammeln sie sich, ob jung oder alt, samt Kinder, ob auf dem Arm getragen oder bereits sicher auf den Füßen. Es ist schön anzusehen. Es lässt meine Gedanken schwelgen und mein Herz erwärmen. Aloï lässt es sich nicht nehmen, bei diesem Anblick meine Nähe zu suchen und so stehen wir da, wie zwei Beobachter einer Vorführung neuen Lebens und erinnern uns, zumindest ich für meinen Teil, an die Geburt unserer eigenen Kinder.
Es war Lïhio, die Zeit der ersten Blüte, als genau zum Zeitpunkt, als sich die erste Knospe öffnete, ein Kind die Heimat erblickte. Ihre Augen hatten die selbe klare Farbe, wie die Blume. Die filigrane Art, glich den zarten Blättern und genauso, wie sich diese zarten Blumen durch Sand und Erde gruben, so kam sie ebenso zielstrebig. Ich erinnere mich an ihr Lachen, an ihr Strahlen und die stete Energie der Liebe, die sie verströmte. Ich erinnere mich an das Band, welches wir teilten. Die Perle meines Lebens, geliebtes Kind. So halte ich sie in meinem Herzen in Erinnerung. Eine Erinnerung, die mir beim Anblick des Kindes einströmt.
Es war Khïuki, die Zeit der warmen Winde und langen Tage. Wenn die Früchte reiften und nur noch die ausdauerndsten Blüten das Inland säumten. Eine Zeit, die starke Geister schuf. So schön wie die Augen seiner Schwester, so außergewöhnlich waren auch seine Augen. Silbern, wie die Blüten der Khïuki und sandfarben durchzogen, wie der Wind dieser Zeit die Sandkörner der Küste mit sich trug. Ich erinnere mich an seine Stärke, Ausdauer und Strebsamkeit, die er schon damals inne hatte. An das Band, welches wir bis Heute teilen. Loyal und respektvoll, hat er stets zu mir aufgeschaut und so sehe ich ihn noch Jetzt und erinnere mich bei seinem Anblick mehr denn je daran. Sehe es in seinen Augen und erkenne es in seiner Aura.
Noch während ich meinen Fokus auf diese Versammlung ruhen lasse, erkenne ich neue Bewegung sich formieren. Dabei erkenne ich ebenso, wie sich ihre beiden anderen Kinder, Khïuki und Nïghio, nun zu ihnen gesellen, um einen Blick auf das Neugeborene wahrzunehmen. Ein kleiner Moment, ehe auch Zúhli und Mooát der allgemeinen Richtung anschließen und sie an den Händen mit sich nehmen.
Wie eine Strömung, löst die Versammlung sich nach und nach in Richtung des Strandes und sammeln sich in Sitzkreisen, in dessen Mitte der Formation Platz für Zúhli und Mooát samt ihren Kindern gelassen wird, um sich niederzulassen. Genug Platz, dass Aloï und ich uns dazugesellen könnten. Doch in diesem Moment geht es nicht um uns, auch nicht um mich. Es ist ein Moment, den ich ganz ihnen überlassen möchte. Und so sehen wir aus der Ferne, wie sich eine tiefe Stille ausbreitet. Eine Anerkennung des Lebens. Sehen zu, wie hier und da nach einer ganzen Weile, Gesang erklingt und zarte Töne verschiedener Instrumente die Atmosphäre erfüllt.
Ein vollkommener Moment, der mich meine Gefährtin in eine Umarmung schließen lässt, diesen Moment im inneren Austausch der Stille zu genießen.