Chris
Gut gelaunt saßen wir bei Johnny, Jess und Stella und tranken dabei Bier. Zwischendurch kam immer mal wieder Jack zu uns rüber. Meine Freunde und ich hatten dann mit ihm abgemacht, dass wir unsere Instrumente morgen abholen würden. Der Abend war wirklich schön, aber mit jeder weiteren Stunde wurde ich müder. Somit bezahlte ich meinen Deckel, doch bevor ich gehen konnte, fragte mich Johnny nach meiner Handynummer. Nach dem Austausch der Nummern, verabschiedete mich von meiner Band und von den anderen. Kaputt von dem Tag nahm ich meine Lederjacke und Zigaretten und machte mich auf den Weg nach Hause.
Während ich ging, steckte ich mir meine Kopfhörer in meine Ohren und machte mir eine Zigarette an. Der Tag hatte sich doch zum Guten gewandet. Ich hoffte nur, das Damon mich endlich in Ruhe ließ. Sei es drum, wir kamen heute unserem Ziel ein Stückchen näher und wir haben neue Leute kennengelernt. Und obwohl so viel Positives geschah, schreite es auch heute in meinem Kopf. Die negativen Gedanken schwirrten ständig in meinem Kopf herum, mal waren die Stimmen leiser, mal waren sie lauter. Ich hatte tierische Angst, davor zu versagen, wieder in ein Loch reinzufallen, wo ich nie wieder zurückwollte. Schon beim ersten Mal hat es Jahre gedauert, da nochmal rauszukommen. In der Vergangenheit hatte ich schon meiner Mutter und meiner Schwester sehr viel Kummer bereitet, dies wollte ich nicht noch einmal. Jeden Tag war ein Kampf gegen meinen eigenen Kopf. Dennoch seitdem ich mit meiner Familie in Amerika bin, ging es mir bisschen besser. Obwohl mir in Deutschland so viel Schlimmes widerfahren ist, vermisste ich dieses Land doch sehr.
In einem lauten Hallo trat ich in die Wohnung ein. Dann hörte ich von der Küche aus meine Mutter und meine kleine Schwester lachen. Müde bewegte ich mich in die Küche, meine Mutter bemerkte mich als Erstes. Meine Mutter war ein gutes Stück kleiner als ich und hatte wie ich blaue Augen. Sie kam auf mich zu und schenkte mir ein Lächeln. “Und wie lief das Konzert?” Diese Frage kam nicht von meiner Mutter, sondern von meiner Schwester Anna. Zu Hause sprachen wir auf unserer Muttersprache, es war im ersten Moment immer etwas verwirrend, weil ich mittlerweile so dran gewöhnt war englisch zu reden. “Es lief wirklich sehr gut. Die Bar war voll und wir haben eine andere Band kennengelernt. Also nicht komplett, aber zwei Mitglieder. Der Frontmann und ich haben die Nummern ausgetauscht.” Gähnend nahm ich mir dann noch ein Bier aus dem Kühlschrank. Mit der Zeit hatte ich mich an den Geschmack vom amerikanischen Bier gewöhnt, aber das deutsche Bier war dann doch immer noch um Welten besser.
Ich setzte mich an die Theke, gegenüber von meiner Mutter. “Es war aber doch noch was anderes oder Liebling?” Sofort fiel meiner Mutter das auf, diese Sache mit Damon hing noch etwas an mir. Bevor ich ihr antwortete, atmete ich ein und wieder aus. “Damon war in der Bar gewesen. Hab ihm gesagt, das er gehen soll. Ich hoffe er versteht es diesmal.” Das Gesicht meiner Schwester verfinsterte sich mit einem Mal, sie konnte ihn von Anfang an nicht leiden. “Wenn nicht zeig ich ihm mal, dass er von dir fernbleiben soll.” “Anna beruhig dich.” Ermahnte meinte Mutter sie. Normalerweise war Anna eher die ruhige Person, aber wenn es um die Familie ging, fuhr sie schnell aus der Haut. Innerlich lächelte ich über ihre Reaktion.
Ich selbst hatte große Gewissensbisse ihr gegenüber, weil ich das Gefühl hatte als großer Bruder versagt zu haben. Sie war mehr für mich da als ich für sie. Für sie war der Umzug nach Amerika unfassbar schwer gewesen, sie ließ mehr zurück als ich. Sie hatte ihre engsten Freundinnen dort gelassen, aber sie hatte auch erkannt, dass der Umzug in ein anderes Land für unsere Mutter und mich wichtig war. Die Vergangenheit war geprägt von Gewalt und Missbrauch, ich wollte nie wieder dahin zurück.
„Die Jungs aus der Band haben ihm auch schon gedroht, laut Damons Gesichtsausdruck würde er es nicht nochmal wagen mir näher zukommen.“ Ich war dankbar für solche Freunde und das wir denselben Traum teilten. Zufrieden schaute ich in die Gesichter meiner Familie. Ich trank mein Bier leer und wünschte ihnen eine gute Nacht. Erledigt von dem Tag schritt ich langsam zu meinem Schlafzimmer. Morgen hatte ich noch frei und dann musste ich zurück zur Arbeit. Ich jobbte in einer Bar und nebenbei gab ich paar Jugendlichen Gitarren und Klavier Unterricht. Früher wollte ich eigentlichen einen sozialen Beruf ausüben, aber ich hatte mich davon entfernt. Nun war ich zufrieden, wie es war, flüchtige Bekanntschaften in der Bar und Jugendlichen etwas beibringen, was ich selbst liebte.
Als ich mitten im Raum stand warf ich meine Jacke in die Ecke und schaute verträumt zu meinem Klavier. Klavier war so ein schönes Instrument und so anders als eine Gitarre. Dies war meine andere Seite von mir, eine sehr weiche Seite von mir. Meistens spielte ich nur für mich selber auf diesem Instrument. Meine Freunde wollten immer das ich für sie spiele, aber es war etwas, was ich mir selbst herhalten wollte. Daher kam es sehr selten vor. Es gab mal eine Situation, als ich gespielt habe, wo ich so vertieft in meiner Melancholie war, dass ich gar nicht gemerkt habe, dass ich angefangen hatte zu weinen. Meine Freunde fragten mich, was los sei, aber ich sagte ihnen, es sei alles gut. Zwischendurch kamen die Erinnerungen von früher hoch. Wäre es nicht schon so spät, hätte ich wahrscheinlich noch ein Lied gespielt. Die Müdigkeit übermannte mich und zwang mich, mich schlafen zu legen.
In dieser Nacht schlief ich unruhig, denn nach langer Zeit träumte ich wieder von meinem Vater. Immer wieder rief meine Mutter, dass er aufhören sollte. Kauernd versteckte ich mich unter dem Tisch bis mein Erzeuger den Tisch unsanft wegtritt. Dann packte er mich am Arm und schliff mich über den Boden. Meine Mutter trat an ihn heran, aber er schubste sie nach hinten. „Wie konntest du mir nur so einen ekelhaften Sohn gebären!“ Erst zog er mich leicht nach oben bevor er mich auf den Boden warf. „Christian...“ Das Wimmern meiner Schwester, die im Türrahmen stand, erdrückte mein Herz. Erschöpft lag ich auf dem Teppich, mein ganzer Körper tat mir weh. Meine Arme und mein Rücken waren geschmückt mit blauen Flecken und Narben, die von einem Gürtel stammten. Ich versuchte, gegen die Erschöpfung anzukämpfen, aber bevor ich mich aufrappeln konnte, traf mich eine Faust in meinem Gesicht.
Voller Schock schrak ich auf und lag schweißgebadet in meinem Bett. Tränen rannten mir über die Wange und legte mir meine Hand über die Augen. Durch diese Erinnerungen spürte ich die Schmerzen wieder Mal auf meiner Haut. Es war nur eine von vielen Situationen gewesen, aber genau diese hatte sich in mein Gehirn gebrannt. Anna stand weinend am Anfang des Raums, es war nicht das erste Mal, dass sie das sehen musste. Zu meinem Glück hatte er sie nie geschlagen, aber warum auch? Sie war ja `normal`. Gegen meine Mutter hatte er aber auch paar Mal die Hand erhoben, wenn sie mich beschützen wollte oder weil sie mich geboren hatte. Es gab für ihn immer einen Grund mich zu schlagen, aber allen voran, weil ich eine Schwuchtel war. So viele Jahre musste ich diese Erniedrigung aushalten, bis meine Mutter uns packte und wir nach Amerika fliehen konnten. Mittlerweile lagen zehn Jahre dazwischen, aber wenn ich davon träumte, fühlte es sich nicht so lang an.
Vor zehn Jahren verfolgten mich diese Träume noch jede Nacht, aber seit der Therapie und dem Ausgleich mit der Musik verringerten sich die Träume. Dennoch wurde ich sie nie ganz los und es war egal, wie viel Zeit verging, es wühlte mich jedes Mal auf Neues auf. Dieser Missbrauch durch meinen Vater war bedauerlicherweise nicht der Einzige gewesen, weswegen mich diese ganze Scheiße nie ganz loslassen wird. Mein erster Freund war besitzergreifend und kontrollsüchtig gewesen. Ich wusste bis heute nicht, was mich dazu geritten hatte. Ich war schon ein seelisches Wrack gewesen und er hatte es noch schlimmer gemacht. Er hat es ausgenutzt, dass ich kein Selbstvertrauen hatte, er wollte mich glauben lassen, dass ich nur mit ihm überleben könne. Absoluter Irrsinn, aber zu meinem Glück konnte ich mich schnell von ihm losreißen. Es wäre schön gewesen, wenn dies das Ende gewesen wäre an Gewalt und Demütigung. Warum war diese Welt so grausam? Was hatte ich nur getan? Fragen, die ich mir lange gestellt hatte, aber nie eine Antwort drauf fand.
Schweratmend stand ich auf und trat an den Spiegel. Durch meine ganzen Tattoos konnte man die Narben schwerer erkennen, aber für mich machte es keinen Unterschied. Zaghaft fuhr ich mit der rechten Hand über meinen linken Arm. Für paar Sekunden schloss ich meine geröteten Augen und dann blickte ich rüber zu meinem Klavier. Kurz darauf setzte ich mich auf die kleine Bank und schaute auf die Notenblätter vor mir. Alles selbstgeschriebene Klavierstücke, die ich noch nie jemanden gezeigt hatte. Es gab so viele Texte und Melodien, die ich meinen Freunden noch nie gezeigt hatte. Es waren höchstsensible und persönliche Texte, sie besaßen keine Zweideutigkeit, sondern nur tiefer Schmerz. Diese Lieder waren für mich eine Art Tagebuch, Wahrheiten die ich nie offen gesagt hätte. Eine Zeitlang starrte ich die Blätter an, bevor ich mich dazu entschied das Fenster aufzureißen, um eine Zigarette zu rauchen.