Mehr als sechs Jahre ist es her, dass sie gegangen ist und manchmal fühlt es sich noch immer an, als wäre es gestern gewesen, dass der Anblick der Rosen auf ihrem Grab dafür gesorgt hat, dass das Symbol der Liebe für mich den bitteren Beigeschmack des Todes erhalten hat. Mehr als sechs Jahre ist es her, dass sie gegangen und er allein hier in dieser Welt geblieben ist. Sechs Jahre lang hat er sein Leben ohne sie bestritten, bevor er vor sechs Wochen gegangen ist, um sie zu suchen, und einen Teil meiner Welt mit sich genommen hat.
Dieses Mal war es anders als bei ihr. Er wurde nicht so überraschend und doch irgendwie erwartbar aus dem Leben gerissen. Nein, der Tod hat ihn schon in den letzten Wochen beständig umkreist, aber ich wollte es nicht sehen. Ich habe geglaubt, dass er auch das irgendwie übersteht, weil er immer alles irgendwie überstanden hat. Egal, wie dunkel es aussah und wie schlecht es um ihn stand, er hat immer den einen Funken Licht gefunden, der seinen Alltag ein bisschen aufgehellt hat. Auf dieses Licht hat er sich konzentriert, hat darauf hingearbeitet, bis das Licht die Schatten überlagert hat. Die Dunkelheit war nicht weg. Eigentlich wurde sie sogar bei jedem Angriff ein bisschen präsenter, aber für ihn war sie nicht mal erwähnenswert. Manchmal glaube ich, es war sein größtes Hobby, Ärzten zu zeigen, dass sie mit ihren negativen Prognosen falsch liegen. Er war ein Stehaufmännchen und ich habe wirklich lange gedacht, dass es auch dieses Mal so ein würde. Selbst als er mich anrief, mit verzweifelter, tränenschwerer Stimme, um mir zu sagen, dass er sterben wird, vielleicht heute noch; selbst als die Ärzte sagten, dass er in der Schwebe zwischen Leben und Tod wankt und schnell zur einen oder anderen Seite kippen kann; selbst da dachte ich, dass alles gut wird. Ich dachte, dass das ein weiterer Schreckmoment sei, der uns mit zuvor nie dagewesener Nachdrücklichkeit zeigt, wie fragil das Leben ist. Dass er sich nochmal entgegen aller Erwartungen aus den Krankenhaus kämpfte, schien mir Recht zu geben. Eine Woche lang schien wieder alles in Ordnung zu kommen, ein letztes trügerisches Aufbäumen, bis die Dunkelheit zurückkehrte, erbarmungslos und unnachgiebig. Als wenige Tage später mitten in der Nacht das Telefon klingelte, nachdem er am Tag zuvor vor Schmerzen und Übelkeit kaum ansprechbar war, musste ich den Hörer nicht abnehmen, um zu wissen, was passiert war.
Seitdem habe ich manchmal das Gefühl, dass alles wie in einem Film an mir vorbeizieht und ich eine Rolle spiele, die ich nie haben wollte. Die ganze Zeit hatten wir Angst davor, dass es ihm schlechter geht; davor, dass er sein Leben nicht mehr zuhause bestreiten kann; davor, dass wir nicht mehr ausreichen, um ihm zu helfen. Für all das hatten wir Pläne geschmiedet, damit vielleicht doch irgendwie alles gut wird. Mittlerweile wird mir klar, dass wir uns damit einfach nur naiv vor dem eigentlichen worst case-Szenario abgelenkt haben, und jetzt, wo das eingetreten ist, woran ich nicht zu denken gewagt habe, habe ich kein Drehbuch. Ich weiß nicht, was die richtige Antwort ist, wenn seine Nachbarin mir unter Tränen sagt, dass sie jeden Tag sein Grab besucht und den Gedanken, dass er dort in der kalten Erde liegt, nicht erträgt. Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn die Pflanzen, die wir vor der Beerdigung von ihrem Grab geholt haben, um sie später dorthin zurückzubringen, plötzlich in meinem Gemüsebeet verwelken, weil sie den Umzug nicht verkraftet haben. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, dass er mich zwei Tage vor seinem Tod darum gebeten hat, sein Leben zu beenden, weil er, der starke, stolze Kämpfer, es nicht mehr ertragen konnte und wollte, und ich weiß auch nicht, ob ich mich jemals trauen werde, meiner Familie davon zu erzählen. Ich weiß nicht, wie ich den Konflikt lösen soll, dass sich in tiefe Trauer von Anfang an auch Erleichterung mischte, die mich sagen und auch tatsächlich meinen lässt, dass es so das Beste für ihn war, während mein Herz mir zuruft, dass ich herzlos bin. Ich weiß nicht, wann ich nicht mehr beim Übertreten der Türschwelle davon erschlagen werde, dass sein Haus nicht leer und verlassen scheint, weil er immer noch so präsent in all den Kleinigkeiten ist. Der aufgeschlagene Kalender auf dem Schreibtisch mit dem Arzttermin, den er morgen gehabt hätte, das benutzte Glas mit einem Rest abgestandenem Wasser in der Spüle, die entgangenen Anrufe auf dem Telefon, sein Lieblingshemd auf der Stuhllehne, der Hut am Spazierstock neben der Haustür, eine offene Tube Zahnpasta neben dem Waschbecken und der Duft seines Rasierwassers in der gesamten Wohnung. All die Details beweisen mir, dass er gar nicht weg sein kann. Das ist nicht das Haus eines alten Mannes, der gestorben ist. Das ist kein Schrein voller Reliquien eines vergangenen Lebens. Nein, das ist das Refugium eines weisen Geistes, gefangen in einem Körper, der ihm nicht mehr gewachsen ist, und jede Ecke dieses Hauses schreit danach, dass er noch Pläne hatte. Auch wenn er am Ende gehen wollte, wird in all den Kleinigkeiten deutlich, dass er noch so viele Pläne hatte, die er sich nicht mehr erfüllen konnte.
Er ist noch so präsent in diesen Mauern, dass ich nicht anders kann, als jedes Mal von Raum zu Raum zu laufen, weil ich fast erwarte, dass er dort irgendwo wie immer auf seinem Stuhl oder dem Sofa sitzt. Natürlich wird diese Hoffnung jedes Mal enttäuscht. Dafür wundere ich mich jedes Mal erneut, dass die Wohnung sich wieder ein bisschen mehr verändert hat. Es macht für mich keinen Sinn, dass seine Bücher nicht mehr im Regal stehen. Es macht keinen Sinn, dass auch seine Kleidung nicht mehr im Schrank hängt. Es macht auch keinen Sinn, dass auf einmal Möbel verschwinden. Ich verstehe all das nicht, bis mir einfällt, was passiert ist. Ich selbst habe die Bücher in Kartons verpackt und seine Kleidung zum Altkleidercontainer gebracht, die Möbel zusammen mit meiner Familie durch die Haustür getragen und noch immer fühlt es sich falsch an. Es fühlt sich falsch an, über Dinge zu verfügen, die ihm gehören; es fühlt sich falsch an Dinge wegzugeben, ohne zu wissen, was sie ihm bedeutet haben und es fühlt sich falsch an zu wissen, dass diese Wohnung ohne seinen Bewohner eben doch nur noch ein lebloses Gerippe voller Erinnerungen ist - Erinnerungen, die im Moment noch so überlagert werden von Schmerz und Trauer, dass ich schon befürchte, die vergangenen, glücklichen Momente für immer verloren zu haben.
All das habe ich kommen sehen, und doch habe ich es erfolgreich verdrängt, und uns damit auch den Abschied gestohlen. Als ich das letzte Mal bei ihm war, habe ich ihm gesagt, dass ich ihn unendlich lieb habe und ihm dankbar für alles bin, aber er hat mich nicht gehört. Ich habe mich nicht wiederholt, weil ich dachte, dass ich es auch morgen noch sagen könnte. Ich habe ihn nicht in den Arm genommen, weil er vor Schmerzen gekrümmt im Bett lag und ich Angst hatte, an all den Schläuchen in seinem Körper hängen zu bleiben. Als ich das Zimmer verlassen habe, habe ich nicht nochmal zurückgeschaut, weil sein Anblick so geschmerzt hat. Ich habe die Tür geschlossen, bin gegangen und habe bereits auf den Krankenhausflur versucht mir auszureden, dass das gerade das letzte Mal gewesen ist. Auch meinen Bruder habe ich nicht angerufen, um ihn zu bitten, dass er noch heute und nicht erst morgen kommen soll. Ich habe nicht auf mein Bauchgefühl gehört und habe mich selbst zu dem Glauben verführt, dass wir noch eine Chance bekommen, weil es immer so war, aber in dieser Nacht ist er gestorben. Alleine. Und all die Dinge, die wir gerne ein letztes Mal getan hätten, wurden uns vom einen auf den anderen Moment genommen.
Noch immer klingen die Worte der Pfarrerin mir in den Ohren, die versuchte den Schmerz zu lindern, dass wir in seinen letzten Momenten nicht bei ihm waren: „Egal, was ihr alles getan hättet, es wird immer etwas geben, dass unvollendet geblieben ist. Es hätte für ihn nichts geändert. Er wusste, dass er mit ganzem Herzen geliebt wurde, er hat euch mit ganzem Herzen geliebt und das hat gereicht, damit er in Frieden gehen konnte.“ Tief in meinem Innern weiß ich, dass sie Recht hat, aber bis diese Erkenntnis in mein Bewusstsein vorgedrungen ist, wird es noch eine ganze Weile dauern. Bis dahin suche ich weiter nach Zerstreuung, um mich nicht mit dem Unausweichlichen beschäftigen zu müssen. Dabei fallen mir immer wieder die Rosen auf, die im Umfeld seines Todes wieder und wieder aufgetaucht sind. Zum ersten Mal habe ich sie gesehen, als ich einen Tag nach seinem Tod in seinem Garten war. Dort strahlte in voller Pracht der Rosenbusch, den er einst für sie gepflanzt hatte. Zuerst habe ich mir nichts dabei gedacht und war davon abgelenkt, dass mir schon wieder Tränen in die Augen stiegen. Das nächste Mal sind mir die Rosen begegnet, als ich seine Anzeige in der Zeitung sah. Sie prangten in den Anzeigen links und rechts von seiner eigenen Anzeige und rahmten so das Bild seiner Heimat ein, aus der er einst als Jugendlicher vertrieben wurde. Das hielt ich für einen schönen Zufall. Es war fast so, als wollte er uns ein Zeichen schicken, dass alles in Ordnung sei und er wieder zuhause angekommen ist. Ich habe diesen Gedanken niemandem erzählt, weil ich mir nicht sicher war, ob meine Familie mich verstehen würde und mich die Erkenntnis traf, was es bedeutete, seinen Namen dort in der Zeitung zu lesen. Die Rosen waren auch da, als wir ihn das letzte Mal sehen durften. Als ich zum letzten Mal über seine kalten Hände strich, begriff ich endgültig, dass er für immer gegangen war und er alles, was er noch erleben wollte, nicht mehr erleben wird. Kurz bevor wir gingen, legte mein Vater ihm einen kleinen Strauß Rosen aus seinem Garten in die Hände, und dieses Bild hat sich bis heute tief in mein Herzen eingebrannt. Das Zeichen der Liebe im unmittelbaren Angesicht seines Todes zu sehen, nahm mir den Atem. Es kam mir so grausam vor, nichts mehr tun zu können, außer ihm diesen letzten Beweis der Zuneigung zu erbringen, und darüber war ich in diesem Moment unglaublich wütend.
Zum letzten Mal sah ich die Rosen auf seiner Beerdigung. Sein Sarg war bereits in das Grab herabgelassen worden und wir warteten im Regen, bis all seiner Freunde und Bekannten sich verabschiedet hatten. Zusammen mit meinen Geschwistern stand ich dort und wartete, bis es vorüber war, als eine Nachbarin an das Grab trat und zwei Rosen hineinwarf. In diesem Moment traf mich die Erkenntnis, dass genau hier, an dieser Stelle die Rosen vor sechs Jahren zum ersten Mal ein Symbol des Todes für mich geworden waren. Mit ihnen hatte diese Geschichte begonnen und mit seinem Tod und den Rosen seiner Nachbarin würde diese Geschichte nun enden und neben all dem Schmerz, mischte sich Trost in diesen Gedanken, weil ein Bild vor meinem inneren Auge erschien.
Leichten Schrittes geht er auf sie zu. Er hat nicht mehr den schlurfenden, gebückten Gang eines alten Mannes, der sich auf einen Stock stützen muss, sondern läuft so kraftvoll und elegant, wie er es früher getan hat. Ihr Mund grinst breit und ihre Augen strahlen. Die schweren Gedanken, die ihr Leben in den letzten Jahren so schwer gemacht hatten, sind verschwunden. Ihre Körper sind nicht mehr von der Zeit gezeichnet und das Vermissen hat endlich ein Ende. Lachend kann er sie nach so langer Zeit wieder in die Arme schließen und sie werden sich niemals wieder loslassen. Er wäre gerne noch bei uns geblieben, das weiß ich, aber die Sehnsucht nach ihr war stärker. Er ist tröstlich, dieser Gedanke, dass sie nun bis in alle Ewigkeit in ihrer Umarmung verharren können; ihr Kopf sanft gegen seine Schulter gelehnt, während er mit ihren Haaren spielt. Ich glaube, es würde mich nicht wundern, wenn er ihr eine Rose mit nach oben gebracht hätte, um zu beweisen, dass er sie nach wie vor noch immer genauso liebtwie früher...