Die Uhr zeigte etwas mehr als fünf Minuten nach 22 Uhr an, als Kenneth endlich den elendig langsamen und nervenzerreißenden Lieferantenfahrstuhl verlassen konnte. Wütend auf diesen klingelte er an der Tür zum Dienstboteneingang, fest davon überzeugt, dass diese Tour für die Katz gewesen war, dass er den Wein wieder zu Mr. Bernstein würde zurückbringen können und sich den Lohn für den Tag von der Backe putzen konnte. Genervt schellte er erneut, als weitere fünf Minuten verstrichen, ohne dass jemand ihm geöffnet hatte.
Waren diese reichen Dekadenzlinge so sehr mit sich beschäftigt, dass nicht mal die Angestellten bemerkten, dass jemand an der Türe klingelte?
Er wollte schon mit der Faust nachhelfen, als er endlich den harschen Klang eines im Schloss gedrehten Schlüssels hören konnte und die schwere Sicherheitstür aufgezogen wurde.
»Ja, bitte?«, schnarrte ihm ein streng und kühl aussehender Mann in einer merkwürdig aussehenden Butleruniform entgegen, den Schnurrbart gewachst, als würde er auf ein Kostümfest gehen wollen. Kenneth musste seinen Unmut über den Fahrstuhl, seine Verspätung und das blasierte Verhalten des Dieners herunterschlucken. Er hatte Wein im Wert von zwölfhundert Pfund in seinem Rucksack und wenn er diesen nicht loswurde, sein Lieferschein quittiert und der Überweisungsbeleg ausgefüllt wurde, würde er den Lohn für diese Tour verlieren. Dann war er umsonst einmal durch den Tower District gefahren und würde vielleicht von Bernstein gefeuert werden. Dieser würde nämlich nicht erfreut sein, so viel Geld zu verlieren.
»Ich komme von Bernstein Finest Goods und bringe den Wein ...«, versuchte Ken ruhig und gelassen herauszubringen, doch er konnte bereits am Gesicht seines Gegenübers erkennen, dass der Zug abgefahren war.
»Ich habe Anweisung von meinem Boss, den Wein nach 22 Uhr nicht mehr anzunehmen und es ist nun«, der Diener wandte den Kopf ein Stück und sah zur Seite, »22 Uhr 11. Also gehen Sie bitte wieder, wir nehmen die Ware nicht mehr ab.«
»Hören Sie, ich warte hier schon geschlagene zehn Minuten, dass mir einer die Tür aufmacht«, flunkerte Kenneth, dem das Herz etwas in die Hose gerutscht war. »Es kann kaum meine Schuld sein, wenn niemand von den Angestellten hier das Läuten hört, oder etwa doch?«
Er konnte sehen, dass der Butler einen Augenblick zu grübeln schien, doch dann schüttelte er wieder den Kopf. »Ich habe Anweisungen. So leid es mir tut, ich kann mich nicht gegen das Wort meines Bosses stellen. Das würde mir nicht gut bekommen ...«
»Und ich gehe nicht, bevor ich nicht meine Unterschrift unter dem Lieferschein habe, Sir. Ich war pünktlich und ich verlange, dass meine Ware abgenommen und bezahlt wird.«
Der Mann mittleren Alters rückte seine Krawatte zurecht und räusperte sich. »Kommen Sie einen Moment herein, ich werde eben nachfragen gehen, ob wir die kleine Verzögerung durchgehen lassen können.«
Kenneth betrat den Flur, der offenbar in eine Speise- und Kühlkammer führte und von dort aus in die Küche. Der Diener entfernte sich mit steifen Schritten, bei denen der junge Mann sich fragte, ob das seine natürliche Gangart war oder ob er sie aufsetzte, um vornehmer zu wirken. Auf den Kurier wirkte es jedenfalls wie ein Pinguin mit Stock im Hintern.
Von seinem Standpunkt an der Tür aus konnte er einen kleinen Eindruck der Küche gewinnen und zu seiner Schande gewann die Neugier. Er machte einige leise Schritte auf den Durchgang zu, der in den von Deckenleuchten lichtdurchfluteten Raum führte.
Kenneth glaubte, ihm müssten die Augen übergehen, denn allein diese Küche war größer als die Wohnung, in der er mit seiner Mutter zusammen lebte. Alles war strahlend weiß mit Schränken aus lackiertem Holz, marmornen Arbeitsplatten und Wasserhähnen aus geschliffenem Messing. Blitzblank geputzte Töpfe und Pfannen hingen dekorativ über einer Kochinsel, die frei im Raum stand. Vereinzelt standen farbige Krüge mit duftenden Küchenkräutern herum und den Esstisch zierte eine Vase mit Blumen, die Ken noch nie in seinem Leben gesehen hatte.
Beschämt darüber, dass er in jemand anderes Heim eingedrungen war, wollte er sich bereits wieder abwenden, als die Tür auf der anderen Seite der Küche aufgestoßen wurde und einen Augenblick lang den Blick auf die Halle dahinter freigab, die einen Eindruck von noch mehr Pracht bei Kenneth hinterließ.
Er erstarrte unwillkürlich, als er realisierte, dass es sich bei der Person, die soeben den Raum betreten hatte, nicht um den Diener handelte, der ihn hereingebeten hatte. Im Gegenteil war der Mann sehr viel besser und teurer gekleidet und trug den Hauch eines guten Aftershaves an sich. Er schien wegen irgendetwas verärgert zu sein, denn seine dichten und wohlgeformten Brauen waren düster über den dunklen Augen zusammengezogen und die Lippen zu einem festen Strich verkniffen, was seiner bemerkenswerten Erscheinung jedoch nicht schadete.
Ohne den Fremden in der Küche zu bemerken, öffnete der Mann den großen Kühlschrank, nahm eine Flasche heraus, bei der Ken vermutete, dass es sich bei ihrem Inhalt um Alkohol handelte, und genehmigte sich einen tiefen Schluck. Erst als er die schwere Tür des Kühlers wieder zugeschlagen hatte, fiel der Blick aus seinen rötlich glimmenden Augen auf den Kurier, der wie ein Kaninchen vor der Schlange an dem Durchgang zum Dienstboteneingang stand und inständig hoffte, der Diener möge endlich zurückkommen.
»Wer sind Sie?«, fragte der Mann mit so viel Desinteresse in der Stimme, dass Kenneth innerlich aufatmete. Würde es ihn erzürnen, dass er hier war, dann würde er nicht so gelangweilt klingen.
»Ich ... will etwas abliefern.«
»Ah, der Wein?«
Kenneth nickte nur, obwohl ihm sein Vater beigebracht hatte, niemals nur mit seinem Körper zu sprechen, solange er noch eine Stimme hatte, denn das sei schlampig.
Beunruhigt konnte er sehen, dass auch dieser Mann auf die Uhr blickte. Ken fragte sich, ob es sich bei ihm um den Besitzer dieses Penthouses und somit um den Vampir handelte. Der, der sich den Namen eines antiken Gottes gegeben hatte und von dem Kenneth schon so manchen in der Stadt hatte reden hören, aber nie wirklich darüber nachgedacht hatte. Der Unsterbliche, von dem man sagte, er sei annähernd eintausend Jahre alt.
Die Küchentür schwang ein weiteres Mal auf und der Diener trat wieder ein. »Verzeihen Sie, ich kann ihn nicht ... Sir!« Der Butler zuckte beim Anblick seines Bosses zusammen, der nur spöttisch eine Augenbraue hob und den Mundwinkel zucken ließ.
»Was ist das hier, Valet? Warum lässt du den Jungen warten, anstatt ihm die Flaschen einfach abzunehmen? Der hat bestimmt nicht die ganze Nacht Zeit.«
Der Diener errötete leicht und schob das Kinn vor. »Sie hatten gesagt, nach 22 Uhr keine Annahme und er war nicht rechtzeitig hier!«
»Das ist nicht wahr!«, verteidigte sich nun Kenneth, »Ich habe hier zehn Minuten vor der Tür gestanden und keiner hat das Klingeln gehört.«
Der Vampir hob die Hände. »Genug jetzt! Ich weiß, was ich gesagt habe. Aber ich habe heute meinen großzügigen Tag. Einigen wir uns künftig auf eine Viertelstunde Kulanz, Valet. Jetzt unterschreib' den Wisch, lass dir die Rechnung geben und damit hat es sich. Ich möchte mich für heute zurückziehen. Sieh zu, dass die ganze Bande vor dem Morgengrauen aus meiner Wohnung verschwunden ist. Die Überstunden kannst du natürlich aufschreiben, ich stelle dir einen Scheck aus. Ich bin müde ...«
Valet nickte und Dionysos schickte sich an, die Küche in Richtung seiner Suite zu verlassen, doch etwas hielt ihn auf, ein Zwicken in seinem Hinterkopf, ein Stolpern, das ihn innehalten ließ und zwang, sich an der Tür noch einmal in den Raum umzudrehen und diesen Mann anzusehen, dessen Haare die Farbe des Mondlichts hatten.
Unwirsch schüttelte der Vampir leicht den Kopf und setzte seinen Weg die Treppe hinauf fort. Er verriegelte die Tür zu seinen Privaträumen sorgfältig, da er den betrunkenen Gästen seiner Party im Vollrausch auch zutrauen würde, in der Nacht zu ihm zu kommen. Er würde niemals wieder jemandem gestatten, ihn gegen seinen Willen anzufassen, ob sie es nun böswillig meinten oder glaubten, ihm damit einen Gefallen zu tun. Es mochte in der Tat eine Ewigkeit her sein, seit er in seiner Kindheit fürchterliche Erfahrungen hatte machen müssen, doch diese Wunden in seiner Seele waren niemals ganz verheilt. Aber nun war er kein kleiner Junge mehr und wusste sich zur Wehr zu setzen.
Erschöpft, aber mit dem Gefühl, rundum satt zu sein, entledigte er sich seiner Kleidung und fiel hüllenlos und todmüde in die kühle, seidene Bettwäsche.
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Erleichtert schob Kenneth den unterschriebenen Lieferschein und die abgezeichnete Kopie der Rechnung in seinen Rucksack, als er wieder in dem langsamen Dienstbotenaufzug stand, der ihn in die Lobby bringen sollte. Nun konnte er beruhigt zu Bernstein zurückfahren, seinen Lohn abholen und zu seiner Mutter heimkehren. Es war inzwischen halb elf und bis er dort angekommen sein würde, würde es Mitternacht sein.
Sicher würde sie, wie jeden Abend, auf ihn warten, über einer ihrer Näharbeiten eingeschlafen, die sie für reichere Damen anfertigte, um selbst etwas zur immer klammen Haushaltskasse beizusteuern.
Sein schlechtes Gewissen, etwas geschwindelt zu haben, damit man ihm den Wein doch noch abnahm, hielt sich in Grenzen, auch wenn sein Vater es immer scharf verurteilt hatte, wenn jemand log. Ein aufrechter Mensch steht zu seinen Fehlern, hatte er immer gesagt. Und Kenneth stimmte ihm diesbezüglich uneingeschränkt zu. Doch in diesem Fall hatte er nicht riskieren können, diesen Auftrag zu vergeigen und seinen Lohn und vielleicht den Job selbst zu verlieren.
Sonst würde das Geld für seine Mutter und ihn selbst nicht ausreichen, sie hätten nichts zu essen oder der Besitzer der schimmligen Bruchbude, in der sie hausten, würde sie auf die Straße setzen. Für Leute wie die Grahams war nirgendwo anders in London Platz.
Niemals würden sie es sich leisten können, selbst eine der einfachsten Wohnungen in einem etwas höher gelegenen Teil der Stadt zu mieten. Also blieben nur die ursprünglichen Gebäude am Fundament der großen Türme übrig, die oftmals schäbig waren, undichte Fenster oder tropfende Wasserleitungen hatten, aber wenigstens ein Dach über dem Kopf boten und Schutz vor der Kälte. Die Häuser waren mehrere hundert Jahre alt und das war ihnen auch anzumerken. Doch es war besser als auf der Straße zu hausen und am Ende von der Polizei eingefangen und ein Arbeitshaus gesperrt zu werden.
Von so einer Wohnung wie diesem Penthouse konnte der junge Mann höchstens träumen, doch es brachte nichts, jemals auf so etwas zu hoffen.
Kenneth würde in Londons Unterstadt sterben, so wie er dort geboren worden war. Er würde niemals mehr sein als eine Kanalratte, mit dem Blick nach oben in den Himmel, um die imposanten Türme aus Stahl zu bewundern, in denen man seiner Arbeit nachgehen, aber niemals selbst leben würde.
Auch wenn seine Mutter bereits vom Tag seiner Geburt an davon überzeugt gewesen war, dass Gott etwas Größeres mit Kenneth vorhaben würde, hatte der junge Mann niemals daran geglaubt. Nur weil er diese außergewöhnliche Haarfarbe hatte, war er nicht besonderer als andere. Er war nur ein Kerl, der sich mit zwei festen Jobs und einer Kuriertätigkeit auf Abruf über Wasser zu halten versuchte. Alles, um seiner Mutter noch ein paar ruhige Jahre zu verschaffen, bevor der Moloch, in dem sie lebten, sie verschlingen und man sie auf einem Armenfriedhof irgendwo draußen außerhalb des Tower Districts verscharren würde.
Kenneth würde ihr gern mehr bieten und ihr eine Stelle auf einem richtigen Gottesacker kaufen, wo sie einen Grabstein bekommen könnte und Blumen. Sie liebte Friedhöfe, was ihr Sohn nie wirklich verstanden hatte. Doch sie sagte immer, sie würden ihr Ruhe geben, besonders die ganz alten, die den Krieg überstanden hatten und auf denen die Namen derer, die man vor über einhundert Jahren dort bestattet hatte, noch auf den Steinen lesbar waren. Gern würde Ken ihr diesen Wunsch danach erfüllen und auch seinen Vater in einem ordentlichen Grab bestatten lassen. Doch bei zwei eher schlecht bezahlten Jobs, dem Bisschen, was seine Mutter dazu verdiente und den Provisionen durch die Botengänge für Bernstein, kamen sie in guten Monaten vielleicht gerade an die Tausend Pfund-Grenze heran. Davon ging knapp die Hälfte nur für das Rattenloch drauf, das sie ihr Zuhause nannten.
Es blieb nichts übrig, um für eine oder gar zwei Grabparzellen auf einem schönen Friedhof zu sparen. Oder für sonst etwas anderes als Strom, Wasser und Seife, Nahrung sowie die Miete. Ihre Kleidung bekamen sie unentgeltlich von der Heilsarmee, für einige Pennys aus Secondhandshops oder Mrs. Graham nähte sie selbst, wenn sie von einer ihrer Auftraggeberinnen mal ein paar Meter Stoff geschenkt bekam.
Kenneth wusste, dass seine Mutter sich ihr Leben lang keine Träume erlaubt hatte bis auf diesen einen - ein ordentliches Grab. Und es schmerzte ihn, dass er ihr diesen Wunsch vermutlich nicht würde erfüllen können.
Ken spürte die Last des langen Tages in seinem Rücken, als er aus dem Zug stieg und sich die Treppen nach unten arbeitete, die ihn zum Laden von Mr. Bernstein brachten. Der Kurier wusste, dass der dicke Mann noch wach sein würde, denn er wollte sicher wissen, ob die Ware nun bezahlt werden würde oder nicht.
Kenneth klingelte am Lieferanteneingang und konnte in der nächsten Sekunde die schweren Schritte auf den ausgetretenen Holzbohlen des Geschäfts hören sowie den rasselnden Schlüssel im Schloss.
»Da sind Sie ja endlich. Ich hatte schon Sorge, der Wind hätte Sie von den Brücken gefegt.« Mr. Bernstein, der im hinteren Teil des Weinladens seine kleine Wohnung hatte, trug bereits ein blau-weiß gestreiftes Nachthemd, über das er nur rasch einen alten, burgunderroten Morgenmantel geworfen hatte.
»Die Züge. Sie wissen doch, was freitags um diese Uhrzeit da oben los ist ...« Kenneth lächelte, nahm den Rucksack ab und betrat den Laden, bevor der Händler nach einem argwöhnischen Blick vor die Tür, diese wieder schloss.
»Hat der Blutsauger die Ware abgenommen?«
»Natürlich. Sonst wäre ich deutlich kleinlauter hier wieder aufgetaucht, meinen Sie nicht?« Ken öffnete die Tasche und zog den Lieferschein und die Rechnungskopie heraus. »Bitte sehr.«
»Gut, gut ... hoffen wir nur, dass die Zahlungsmoral dieses edlen Herrn besser ist als die des letzten, wo ich die Polizei rufen musste, weil er sich geweigert hatte, seine Schuld zu begleichen.«
Kenneth tippte sich an das Kinn und rieb sich den Nacken. »Sir, wenn Sie diese Wohnung gesehen hätten, wüssten Sie, dass die zwölfhundert Pfund für den Wein in diesem Haushalt nicht fehlen werden.«
Bernstein verstaute die Papiere und machte ein Häkchen in seinem dicken Auftragsbuch, während er knurrte: »Merken Sie sich, Mr. Grisham ...«
»Graham, Sir.«
»... Mr. Graham, dass die, die genug haben, oftmals die sind, die immer mehr wollen, aber nicht bereit sind, den Preis dafür zu bezahlen. Die können auf ihren Millionen sitzen und sich trotzdem weigern, den Lohn eines ehrlich arbeitenden Mannes zu zahlen, der diesem zusteht.«
Der junge Mann nickte. Die Reichen, waren es nun die Menschen oder die Vampire, kümmerten sich nicht um das Elend, das sie umgab, solange sie nur bekamen, was sie wollten und die Armen sie nicht behelligten.
»Vielleicht bin ich naiv, Sir, doch ich denke, dieses Mal werden Sie keine Enttäuschung erleben.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr, Junge. Und nun machen Sie, dass Sie nach Hause kommen. Wartet Ihre Mutter nicht auf Sie?« Bernstein schloss die Kasse auf und zählte einige Scheine ab, die er Kenneth hinhielt. Dieser nahm sie. Sechsunddreißig Pfund. Drei Prozent des Wertes der ausgelieferten Ware. Wie immer.
»Danke, Sir. Gute Nacht.«
»Kommen Sie gut nach Hause, Mr. Graham.«
Der Schlüssel im Schloss wurde mehrfach herumgedreht, nachdem Kenneth das Gebäude verlassen hatte und sich an den Abstieg in die finsteren Straßen von Londons Unterstadt machte. Ihm tat der Rücken weh, seine Beine waren müde und sein Hals kratzte, wie immer, wenn der Tag so lang gewesen war.