Eilig bewegte sich der junge Mann durch die diffusen Straßen, zwischen den alten Häusern, die an Kasernen erinnerten, hindurch, in denen hier und dort noch immer Licht in den Fenstern brannte, die nicht von Vandalen zerschlagen worden waren. Er konnte das Leben in den Gassen hören, das Lachen der gewöhnlichen Menschen, die sich einfachen Vergnügungen hingaben, das Getöse alter Fernsehgeräte, die auf voller Lautstärke liefen, Radiogedudel und das Klirren leerer Flaschen, die auf Gehwegen zerbrochen wurden.
Das waren die Geräusche seiner Kindheit und sie machten ihm keine Angst. Doch sie ließen ihn wachsam bleiben, denn das Geld in seiner Tasche war für manche derer, die hier lebten, Grund genug, jemanden abzustechen. Erleichtert atmete Kenneth durch, als er endlich das alte Backsteingebäude erreichte, über dem der Eaton Tower viele hundert Meter in den Himmel aufragte. Durch die verblichenen, aber dichten Vorhänge im ersten Stock konnte er sehen, dass seine Mutter tatsächlich auf ihn gewartet hatte. Mit einem Fluch trat Kenneth gegen die Haustür, die ständig klemmte, wenn man sie aufzuschließen versuchte, und schob sie nach innen. Er verzog den Mund, denn im Hausflur stank es nach Urin. Vermutlich hatte der verkommene Drecksack, der unter ihnen wohnte, wieder einmal seinen Hund nicht ausgeführt und ihn stattdessen in den Flur pinkeln lassen. Im Licht der flackernden Funzel sprang der junge Mann die wenigen Stufen in den ersten Stock hinauf und betrat schließlich die kleine Wohnung, in der er aufgewachsen war.
Es mochte ein Rattenloch sein, dieses Haus, doch seine Mutter hatte immer versucht, ihr Heim so gemütlich zu gestalten, wie es eben möglich war. Es war sehr sauber und mit alten Tapeten, die Kenneth von einem Bekannten seines Vaters geschenkt bekommen hatte, ordentlich hergerichtet. Die Teppiche und Möbel waren verblichen und an machen Stellen bereits geflickt, aber ordentlich und seine Mum war sehr stolz, dass sie einen Staubsauger hatte, mit dem sie alles sauberhalten konnte.
Schnell die Tür hinter sich schließend, damit der Mief aus dem Flur nicht in die Wohnung drang, schnupperte der junge Mann nach dem Duft, der ihn empfing. Es gab anscheinend Abendessen für ihn.
Ein leises, aufgeschreckt klingendes Schnarchen zeigte ihm an, dass seine Mutter sich offenbar, um sich die Wartezeit zu verkürzen, vor den fast antiken Fernseher gesetzt hatte und dann eingeschlafen war. Ken schaltete das Gerät aus und hockte sich neben den Sessel.
»Hey, Mommy, ich bin zuhause«, sagte er leise und die Frau öffnete ihre Augen leicht und lächelte dann.
»Hallo, mein Liebling, da bist du ja wieder. Du hast sicher Hunger. Ich hab eine Kartoffelsuppe gemacht.«
»Ich rieche es und ja, das habe ich. Bleib sitzen, ich werde uns etwas holen.«
In der einfachen Küche war ebenfalls alles blitzsauber und auf dem alten Herd köchelte auf niedrigster Stufe ein dicker Eintopf vor sich hin. Mit einem Lächeln konnte der junge Mann sehen, dass seine Mum sogar ein paar Würstchen dafür hatte auftreiben können. Er wollte gar nicht wissen, was sie dafür hatte tun müssen und war sich sicher, dass sie auch nicht wollte, dass er es erfuhr. Viele Händler hier in der Unterstadt nutzten die Not der Menschen, besonders die der Frauen, gern aus und Würstchen oder generell Fleisch war teuer.
Ein bitterer Nachgeschmack mischte sich in die anfängliche Freude, als er die Suppe auf zwei schlichte Porzellanschüsseln verteilte und Löffel hinein legte. Er brach zwei Stücke von dem in ein Tuch eingeschlagenen Brotlaib ab und kehrte ins Wohnzimmer zurück, in dem seine Mutter bereits ihre Nähsachen zur Seite geräumt hatte. Offenbar bestickte sie gerade für eine vornehme Dame einen eleganten Rock.
»Würstchen, Mum?«, konnte Ken sich die Frage schließlich doch nicht verkneifen.
»J-Ja ... Kershaw hat sie billig abgegeben, weil sie ein paar Tage drüber waren ...« Die Frau wich dem Blick ihres Sohnes aus, der sie zweifelnd ansah.
»Der Wichser ist ein Halsabschneider. Der macht sich über Dinge wie ein Haltbarkeitsdatum doch keine Gedanken.«
»Kenny, du brauchst mehr als immer nur Kartoffeln, Brühe und Brot. Vergessen wir es einfach und lassen es uns schmecken. Du hast dir das verdient.«
Ihr zuliebe schob er den Gedanken daran, dem schmierigen Händler eine Straße weiter die Fresse zu polieren, weil er seine Mutter angefasst hatte, zur Seite und setzte sich auf das durchgesessene Sofa. Mit zusammengezogenen Augenbrauen pustete Kenneth in die Schüssel und begann zu essen.
»Pollack hat den Köter schon wieder in den Flur pissen lassen«, erzählte er währenddessen. Seine Mutter nickte.
»Ich habe ihn heute den halben Tag pöbeln hören. Entweder redet der Mann neuerdings mit seinem Fernseher, mit dem Hund oder er hatte Besuch. Es war kaum möglich, hier in Ruhe zu arbeiten ... wenigstens ist es jetzt still.«
Ihr Nachbar, Cornelius Pollack, war ein unangenehmer Mann und es bereitete Kenneth immer wieder ein ungutes Gefühl, seine Mutter hier allein zu lassen, wenn der Alte einen dieser Tage hatte. Die Nachbarschaft vermutete, er wäre verrückt, hätte eine dieser psychischen Krankheiten, für die man einen Psychiater und Pillen bräuchte. Doch kaum einer hier in der Unterstadt war in der Lage, einen richtigen Arzt zu bezahlen, geschweige denn einen Spezialisten. Versicherungen konnten sich nur die leisten, die genug verdienten. Alle anderen behalfen sich mit Hausmitteln. Medikamente waren zu teuer.
»Vielleicht stirbt er endlich an den Mengen von billigem Fusel, die er immer in sich reinschüttet«, murmelte Kenneth mit dem Mund voller Brot, doch er erntete einen strengen Blick von seiner Mutter.
»Man wünscht niemandem den Tod, Kenny.«
»Ich weiß. Entschuldige. Aber ich werde mir doch Sorgen machen dürfen.«
Die Frau nickte und lächelte ihren Sohn liebevoll an, der müde und abgekämpft aussah. Dabei war er noch so jung und sollte sein Leben eigentlich genießen können wie andere junge Leute auch, die lachten, Spaß hatten und die Liebe fanden. Stattdessen hockte ihr Junge hier mit ihr in dieser schäbigen Wohnung und kämpfte um jeden Penny. Das Leben hatte ihrem Mann und ihr nicht viel gegeben, damit hatte sie sich abgefunden, doch für ihren Sohn hätte sie sich mehr gewünscht.
»Ich habe heute einen Vampir getroffen. Einen echten.«
»Unheimlich sind sie«, murmelte die ältere Dame und Kenneth nickte.
»Stell’ dir vor, seine Augen waren rot. Ich dachte immer, das wären nur Kontaktlinsen. Doch die Farbe veränderte sich. Also muss sie echt sein. Er war eine beeindruckende Erscheinung.«
»Schön sind sie ja. Aber dennoch gespenstisch und dass es Menschen gibt, die freiwillig zu ihnen gehen, um sich das Blut aussaugen zu lassen ... macht uns das nicht zu deren Vieh?«
»Ich habe gehört, viele Vampire bezahlen gut für einen gesunden Spender ...«
»Denk’ gar nicht erst dran, Kenny.«
Der junge Mann lächelte. »Aber nein, das war nur eine Aussage. Ich werde das nicht tun. Bernstein bezahlt gut genug. Ach übrigens, hier.«
Er übergab seiner Mutter die Scheine aus seiner Hosentasche, den Lohn des Weinhändlers. Sie sammelte und verbarg das verdiente Geld in einer alten und verbeulten Keksdose, die sie unter einem losen Dielenbrett versteckte. Jemand wie sie oder ihr Sohn hatten kein Konto bei einer Bank, die Gebühren waren viel zu hoch. Ihresgleichen bekam es nach getaner Arbeit oder an festen Zahltagen bar auf die Hand. Viele einfache Arbeiter wurden so bezahlt.
»Sehr gut. Dann ist die Miete für den nächsten Monat bereits zusammen.«
Kenneth stellte die leeren Schüsseln ineinander und brachte diese in die Küche, um sie rasch unter dem Wasserhahn abzuspülen.
»Ich werd noch duschen und dann ins Bett gehen, Mum. Ich muss morgen um sieben bei Flickerman im Laden stehen, wenn die Ware kommt. Bleib’ nicht mehr zu lange auf.«
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Lange bevor er den Sonnenaufgang über den Dunst der Stadt sehen konnte, lag Dionysos bereits wach und blickte durch die zimmerhohen Fenster seines Schlafzimmers hinaus in die nur zu erahnende Morgenröte.
Etwas, das er nur schwer einordnen konnte, hatte ihn geweckt. Hatte er geträumt? Er konnte es nicht sagen. Normalerweise führten ihn seine Träume immer an denselben Ort, zurück zu einem gepflegten Haus am Rande einer kleinen Stadt, im Schatten eines bewaldeten Talhanges, für ihn der Hafen in stürmischer See, der ihm Frieden und Ruhe brachte. Zurück in das Haus seiner Liebe, die ihm Zuflucht und Sicherheit gewährt hatte.
Doch dieses Mal war er nicht dort gewesen. Er konnte sich jedoch auch nicht mehr an die Dinge erinnern, die er diesmal vor seinem geistigen Auge gesehen hatte. Es wurmte ihn, denn es machte ihn unruhig.
Knurrend setzte er sich in den Laken auf und zog die schwarze Seidenbettdecke höher, um seine Nacktheit zu verbergen. Es war kalt im Zimmer und er spürte dies deutlich. Der Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es noch nicht ganz sechs war. Es war müßig, noch einmal die Augen schließen zu wollen, denn seine acht Stunden waren voll. Er war gesättigt und ausgeschlafen.
Also konnte er sich ebenso gut ankleiden und nachsehen, ob Valet getan hatte, was er diesem aufgetragen hatte und ob alle Partywütigen sein Anwesen bereits verlassen hatten.
Zerzaust verließ er das Schlafzimmer durch die französischen Flügeltüren, durchquerte mit wenigen langen Schritten den Salon und betrat das Badezimmer. Der Blick in den Spiegel zeigte dem Vampir, dass das Blut ihm gutgetan hatte. Er sah frisch aus und irgendwie jünger als gestern noch.
»Was der Lebenssaft einer Jungfrau doch ausmachen kann, nicht wahr, alter Mann?«, knurrte er seinem Spiegelbild zu, stellte das Wasser an und warf sich welches ins Gesicht. Er trimmte sich den Bart, kämmte sich die Haare und putzte sich die Zähne, um die Schwere der Nacht loszuwerden.
Gekleidet in eine einfache schwarze Trainingshose und ein graues Unterhemd ging er schließlich auf nackten Füßen die Treppe in den Eingangsbereich des Penthouses hinunter. Es war still und der Vampir konnte nur das leise Atmen seiner Angestellten hören, die der Einfachheit halber mit in dem Appartement wohnten. Es war immerhin groß genug und auch so gebaut worden, dass es einen eigenen Dienstbotenflur mit einigen kleinen Schlafzimmern gab. Wenn es nach Dionysos ginge, bräuchte er die Dienerschaft nur, wenn er mal wieder vorhatte, eine Party zu geben. Er wäre sehr wohl auch in der Lage, dieses Appartement allein sauber zu halten und für sich selbst zu sorgen. Das hatte er schließlich von seinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr an getan. Vielleicht sogar schon früher, denn in dem Kloster, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, hatte ihn auch niemand beschützt. Versorgt hatten die Mönche ihn nur so weit, dass er nicht verhungerte und er hatte für jeden Bissen schwer arbeiten müssen.
Sich wappnend, was er für ein Chaos vorfinden würde, öffnete er die Tür zum Salon und machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Die Luft, die ihm entgegenschlug, war so dick, dass man sie schneiden konnte, schwer, süß, alt und abgestanden. Dionysos hatte seinen Dienern verboten, über Nacht das Fenster offenstehen zu lassen, falls es regnen sollte und so roch es nach schal gewordenen Drinks, nach kaltem Haschischrauch, altem Schweiß und abgebrannten Räucherstäbchen. Ohne groß zu atmen, durchquerte der Vampir das Sammelsurium aus leeren Flaschen und Gläsern, herumgeworfenen Kissen, vereinzelten Kleidungsstücken, die die Besitzer im Rausch vergessen hatten, und benutzten Kondomen, riss die Vorhänge auf und öffnete die gläsernen Flügeltüren. Gehässig schmunzelnd musste er sich eingestehen, dass er froh war, nicht dieses Chaos aufräumen zu müssen. Aber Valet hatte es zumindest geschafft, dass keine Schnapsleichen zurückgeblieben waren, denn Dionysos hasste es, am nächsten Morgen noch jemanden beherbergen zu müssen, weil der zu besoffen gewesen war, um nach Hause zu kommen. Auch die Hostessen waren noch in der Nacht wieder gegangen, nachdem sie ihren Lohn erhalten hatten. Valet war zuverlässig, wenn es um so etwas ging. Aber das war schließlich sein Job, für den er großzügig entlohnt wurde.
Der Vampir verließ den Raum in Richtung der Küche, in der es zum Glück keine Anzeichen gab, dass jemand der Gäste sich hier hineinverirrt hatte. Alle Räume seiner Wohnung abgesehen von dem Salon und den beiden Badezimmern im Erdgeschoss, waren für die Partygäste tabu und da machte der Unsterbliche auch keine Ausnahmen.
Hungrig auf ein ordentliches Frühstück, riss Dionysos den Kühlschrank auf und machte sich eine große Portion Rührei mit Speck, das er im Stehen an der Arbeitsplatte der Kücheninsel verzehrte. Er horchte auf, als er das Klappen einer Tür hörte und sah auf die Uhr. Es war kurz nach sieben. Valet hatte offenbar gerade seinen Dienst angetreten und in der Tat öffnete sich wenige Augenblicke später die Küchentür. Der Mann mittleren Alters blickte irritiert auf den Vampir, der barfuß und noch halb in Unterwäsche da stand und sich selbst etwas zu essen gemacht hatte.
»Schau nicht so, Valet. Ich kann mir auch allein Frühstück machen.«
»Ja, natürlich, Sir. Ich war nur überrascht, Sie um diese Zeit schon auf zu sehen, das ist alles.«
Dionysos schob sich etwas Ei in den Mund und zuckte nur spöttisch mit den Augenbrauen. Dieser Mann war ein schlechter Lügner. Er hielt ihn für einen dieser Bambino-Vampire, die in ihrem Leben noch nichts allein auf die Reihe bekommen hatten. Die sich bemitleiden ließen, weil ein böser böser Blutsauger sie zu einem der ihren gemacht hatte und sie nun ganz allein die Last der Ewigkeit tragen mussten. Dabei wussten diese Kinder nichts darüber, nicht, dass sie zuallererst Verfall bedeutete, Verlust. Stattdessen nutzten sie sie als Mittel, um sich verhätscheln zu lassen, zu streicheln und zu feiern von den Menschen und ließen sich ihr kostbares Blut abnehmen, damit die Pharmaindustrie ihr sogenanntes Vampirserum daraus herstellen konnte.
Jung und schön wie ein Vampir, agil, vital und gesund für lange, lange Zeit. Das versprach dieses »Wundermittel« und die Menschen interessierte es nicht, dass dieses Zeug ihnen zwar ein paar Jahre und Jugend schenken konnte, aber keine Unsterblichkeit. Es war nichts anderes als das Botox des 22. Jahrhunderts.
Ihn sollte es nicht kümmern, für welche Luftschlösser die Sterblichen ihr sauer verdientes Geld zum Fenster hinauswarfen, doch er würde sich nicht auf diese Ebene herablassen, sein Blut für jedermann herzugeben. Er hatte es gern getan, für ihn, all die Jahre, die sie zusammen gewesen waren, damit er ein gesundes Leben haben konnte. Doch das war etwas ganz anderes gewesen. Dort hatte Dionysos es aus Liebe getan. Nicht für schnöden Mammon. Geld hatte er inzwischen schließlich mehr als genug.
»Hat es sehr lange gedauert, die Gesellschaft aufzulösen?«, fragte der Vampir den Diener, um sich von den trüben Gedanken abzulenken.
»Nein, Sir. Die meisten waren noch vor Mitternacht so erledigt, dass ich sie problemlos habe nach Hause schicken können. Einige waren sogar so vorausschauend, sich einen eigenen Abholer kommen zu lassen, der sie heimbringt.«
»Wann waren die letzten gegangen?«
»Gegen zwei, Sir. Deswegen habe ich es auch versäumt, den Salon bereits etwas aufzuräumen. Ich war selbst erschöpft.«
Dionysos nickte nur und spülte seinen Teller ab. »Ich habe bereits das Fenster aufgemacht. Der Mief war unerträglich.«
»Danke, Sir.«
»Sag mal, Valet, den Wein, den hast du von Bernstein, richtig? Am Eaton Tower?«
»Ja, Sir. Stimmt etwas damit nicht?« Der Diener hatte sich bereits mit einem Müllbeutel und Handschuhen bewaffnet, um dem Chaos im Salon zu Leibe zu rücken.
»Ruf’ ihn an und frag’ ihn nach dem Kurier.«
»Sir?«
Dionysos zog die Brauen über den dunklen Augen zusammen und lächelte entschlossen. »Ich habe ihm ein Angebot zu machen.«