Wer heute meiner Oma begegnet, wenn sie ihrer neueste Beziehung von der Uni abholt, sieht eine vornehme Frau, die ihren Sohn abholt, bis zu dem Moment, wo sich die beiden küssen. Ab dem Moment ist dann nichts mehr normal. Jetzt könnten die nächsten erklären, dass es einfach unanständig ist, wenn so eine alte Frau sich so einen jungen Kerl schnappt. Worauf dann Oma die Gegenfrage stellt, wenn sie ein Mann wäre, würde sich nur noch wenige so aufregen. Aber ich sollte wohl erstmal erklären, wer hier wer ist.
Oma heißt für alle anderen Anja Tributaris. Sie hat mit fünfzehn meinen Vater bekommen, nach ein paar sehr aufregenden Monaten freier Liebe mit vielen politisch aktiven Männern. Mein Papa wiederum war hin und her gerissen zwischen dem erzkonservativen Opa und seiner revolutionären Mutter und entschied sich für ein Häppchen aus beiden Welten. So wurde er Anwalt, ergriff eine diplomatische Laufbahn und heiratete mit zwanzig eine Revuetänzerin in Paris. Er sah es als seine Pflicht an, weil ich unterwegs war, so die offizielle Geschichte. Aber die beiden haben sich auch geliebt, glaube ich. Ich bin mittlerweile über achtzehn und ihr dürft nun rechnen, wie alt meine Oma ist.
Dann wäre da Jelenna. Sie ist die ältere Schwester meiner Freundin Vanessa aus dem Internat. Sie war das schwarze Schaf der Familie, bevor sie meiner Oma begegnet ist.
Und das kam so. Jelenna war schon immer einem jungen Mann ähnlicher als einem Mädchen. Sie hatte so eine flache Brust, dass man hätte glauben können, sie hätte keine. Dazu trug sie am liebsten karrierte Hemden, schwarze Jeans und einen Kurzhaarschnitt. In ihrer Familie wurde sie daher ständig dazu aufgefordert, sich doch normal zu benehmen, bis sie mit siebzehn noch während ihrer vorgezogenen Abiturprüfungen entnervt auszog. Ab da trat sie konsequent als junger Mann auf. Aber auch als solcher hat man so seine Probleme und vor allem blank ohne jede Unterstützung durch ihre Eltern hätte sie auf der Straße enden können. Sie kratzte nach ihrem Abitur all ihr Bargeld zusammen und kaufte sich einen Transporter, in dem Anfangs nur eine Matratze lag. Damit fuhr sie dann eine Zeit Kreuz und quer durch Deutschland. Eine Zeit lang war auch ihre kleine Schwester dabei, aber das ist eine andere Geschichte.
Sie musste aber auch von etwas Leben. So fragte sie bei Handwerkern an, ob sie Jobs für sie hätten. Bei einem Bus- und Tiny-House-Bauer blieb sie dann länger. Und weil sie sich gut anstellte, wurde es auch etwas von einer Lehre. Er half ihr, ihren Transporter in ein gemütliches rollendes Heim zu verwandeln. Dabei entdeckte sie ihre Liebe zur Architektur. Von den neuen Konzepten des Wohnens war sie so begeistert, dass auch ihr Meister sie dahingehend unterstützen wollte. Er sponserte ihr ein Ingenieurstudium. Ab da fuhr sie jede Woche zweimal von Münster nach Köln und zurück. Auf einem dieser Fahrten traf sie Oma.
Meine Oma lässt sich gerne aufgabeln, wie sie es nennt. Sprich, sie fährt noch immer gern per Anhalter. Sie sagt: "Wenn du neue Leute kennen lernen möchtest, musst du sie dazu zwingen, dich eine Zeit in ihr Leben zu lassen. Und ein Teil vom Leben der Deutschen ist ihr Auto."
Sie fuhr damals von Berlin nach Bonn, weil sie ihre Partei rausgeworfen hatte. Sie war den neuen Grünen in ihren Ideen zu radikal. Immer wenn sowas passierte, fuhr sie zum Stammsitz der Tributaris. Auch wenn Oma voll den sozialen Schein hat, sie ist auch eine knallharte Kauffrau. Das musste sie ja sein, sonst hätte sie meinem Vater nie einen so guten Start ins Leben ermöglichen können. Der Stammsitz der Tributaris ist eine Stadtvilla in Bad Godesberg. In der noch drei Wohnungen vermietet sind, an Studenten-WGs.
Jedenfalls hatte sie jemanden gefunden, der sie von Berlin bis Lüdenscheid mitgenommen und auf dem dortigen Rastplatz raus gelassen hatte. Leider war das ein Fehler, weil der Parkplatz in einer Baustelle lag und nur von Leuten angefahren wurde, die entweder dringend aufs Klo oder tanken mussten. Zu allem Überfluss regnete es in Strömen. So stand sie wie ein begossener Pudel da, den Daumen raus und hoffte auf das beste. Lange Zeit wurde sie da nur nass. Es wurde Nacht und Oma zückte ihr Handy. Ich glaube, meiner Oma braucht auch in Technik keiner etwas zu erklären. Ein Smartphone, das für andere eine Buch mit sieben Siegeln ist, ist für sie ein profundes Mittel zur Meinungsbildung, auch etwas, was ihren Parteigenossen ... sagt man das bei den Grünen auch? ... so nicht passte. Sie ging zurück zur Tankstelle und stand dort am Eingang, als Jelena sie beinahe überfuhr.
"Wo ist das Klo", fragte sie meine erschreckte Oma, die noch immer von ihrem Handy aufblickend den Kühler des Van anstarrte. Die zeigte nur auf die entsprechende Tür. Auf dem Rückweg wurde es Jelena bewusst, was sie getan hatte und fragte meine Oma, ob alles okay sei. Die sagte, dass nichts okay sei und dass sie auf dieser Raststätte festsäße. Jelena bot ihr an, sie mit zunehmen und so hat Jelena meine Oma auf ihrer Fahrt von Münster in die Uni nach Köln an einer Autobahnraststätte auf der A1 aufgegabelt, wo meine Oma schon dachte, sie käme da nie weg.
Was genau auf der Fahrt geschah, haben die beiden erst nicht erzählt. Das kam erst Jahre später, als auch ich die eine oder andere ungewöhnliche Geschichte meiner Liebschaften meiner Oma erzählte und wie es dazu gekommen war.