Alles wiederholt sich nur im Leben,
Ewig jung ist nur die Phantasie;
Was sich nie und nirgends hat begeben,
Das allein veraltet nie!
Fr. v. Schiller
EIN ENTZÜCKENDER SPRUCH von einem der bedeutendsten Dichter des 18. Jahrhunderts. Ich hatte ihn in den vergangenen vierzehn Monaten fast täglich gelesen. Er stand auf einem künstlich auf alt getrimmten Blatt Papier an der verwitterten Eingangstür des »Schiller Theaters« in Eichenstedt. Des ehemaligen »Schiller Theaters«. Heute war unsere letzte Vorstellung. Maria Stuart sollte uns endgültig in der Theaterlandschaft dieser Region etablieren, nachdem das Ensemble vor etwas mehr als anderthalb Jahren gegründet wurde. Stattdessen starb mit der Hauptperson auf der Bühne auch unser gemeinsamer Weg. Alteingesessene Theatergrößen wie das »Nordharzer Städtebundtheater« waren eine zu große Konkurrenz für uns Kodderschnuten, wie man in meiner alten Heimat Hamburg zu sagen pflegte.
Ich hatte die Hansestadt gleich nach dem Abitur verlassen, um in Berlin eine Schauspielschule zu besuchen. Nicht unbedingt das, was sich meine konservative Familie für mich gewünscht hatte, deren Steckenpferd seit jeher bei handfesten Tätigkeiten lag. Dabei ging es in der Schule von Fräulein Angelika Strupp – ja, sie wünschte ausdrücklich, Fräulein genannt zu werden – durchaus auch rabiat zu. Sie hatte uns einen Rundumschlag für alle möglichen Rollen geboten und uns sogar einen Selbstverteidigungskurs an Herz gelegt.
Einer Rolle, nämlich die der Buhlschaft des Jedermann aus dem gleichnamigen Klassiker von Hugo von Hofmannsthal, schien ich besonders überzeugend zum Leben erweckt zu haben. Nach der Vorstellung wurde ich jedenfalls von zwei Typen angesprochen, die mir aufgeregt die Hände schüttelten und eine Anstellung in ihrem neugegründeten Theater in Eichenstedt anboten.
Während mich alle meine Freunde davor warnten, packte ich dennoch meine sieben Sachen und zog in dieses kleine verschlafene Nest vor den Toren des Harzes, von dem ich zuvor nie etwas gehört hatte. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Aber es war die erste Chance nach der Ausbildung sofort auf den Brettern, die die Welt bedeuten, Fuß zu fassen. Carpe diem!
Dass es nicht leicht sein würde, hier, mitten in der ostdeutschen Provinz ein Theater aus dem Boden zu stampfen, war mir wohl bewusst. Dum spiro, spero – solange ich atme, hoffe ich, war mein Motto.
Allerdings liefen die Kartenverkäufe von Beginn an schleppend und besserten sich in den folgenden Monaten kaum. Wir waren unserer zwölf Personen, alle Mitte 20 und standen noch immer finanziell auf der Kippe. Zwei Leute hatten die Gruppe bereits vor drei Monaten verlassen, um Engagements an größeren Spielhäusern anzunehmen. Drei Weitere wollten sich für Studien in Richtung Theaterwissenschaften eintragen. Einer davon spielte sogar mit dem Gedanken, ins Filmgeschäft zu wechseln. Er hatte das Zeug dazu. Timo hatte Talent und war charismatisch. Ich traute ihm alles zu und drückte ihm die Daumen. Der Rest unserer Truppe strebte bedauernswerterweise Karrieren fernab der bildenden Künste an. Ich selbst hatte noch keinen Plan, wie es weitergehen sollte, und stand an diesem Abend vor den Scherben des »Schiller Theaters« und meines eigenen Lebens.
In dieser dunklen Stunde dachte ich an die letzten Worte des Teufels aus Jedermann zurück:
Die Welt ist dumm, gemein und schlecht
Und geht Gewalt allzeit vor Recht,
Ist einer redlich, treu und klug,
Ihn meistern Arglist und Betrug.
Vielleicht war ich einfach eine zu ehrliche Haut und sollte es als Scharlatan versuchen.
»Lex, lass den Kopf nicht hängen«, hörte ich eine Stimme hinter mir, die mich von derlei sarkastischen Gedanken befreiten. Es war David Merten, einer der Gründer des »Schiller Theaters«. Er stammt ursprünglich aus Baden-Württemberg und kehrte am nächsten Tag dorthin zurück. Gemeinsam mit seinem Partner Dustin, unserem Bühnenbildner. Mit hängendem Kopf nahm er den letzten Spielplan ab, knorkelte ihn zusammen und warf ihn in einen Mülleimer, der im Schatten einer kleinen Bushaltestelle stand.
Ich lehnte mich an die Wand unseres Theaters. Der Putz bröckelte an vielen Stellen ab. Im kommenden Frühjahr wollten wir es umfangreich sanieren. Diese Aufgabe blieb nun an den neuen Besitzern hängen. Ich zupfte meine Ponyfrisur zurecht und machte gute Miene zu bösem Spiel.
»David, na. Freust du dich schon auf die alte Heimat?«
»Unter anderen Umständen wäre es mir lieber gewesen. Aber man muss das Beste aus der Situation machen. Außerdem kehre ich nicht allein zurück.« Mit einem verschmitzten Lächeln deutete er auf Dustin. Seit vergangenem Sommer waren die zwei unzertrennlich.
Manchmal bereute ich es, der Sache zwischen Timo und mir keine Chance auf mehr gegeben zu haben. Aber was vorbei ist, das ist vorbei. Oder Acta est fabula, wie mein Opa immer sagte.
Ich ging zum Mülleimer, aus dem mich meine eigenen Augen entgegenblickten. Mit etwas Fantasie konnte man auch meinen Namen auf dem Plakat noch erkennen – Alexis Emmerich als Maria Stuart stand darauf. Geschrieben in blutroten Lettern. Darüber das heutige Datum – 05.09.2017. Ich warf eine leere Getränkedose hinterher. Es muss sich niemand an dieses Kapitel meines Lebens erinnern. Nicht, wenn ich nicht ein neues schreiben konnte. Und das hatte ich vor, obwohl ich noch keine einzige Zeile im Kopf hatte.
»Du hast das nötige Talent. Ich bin sicher, dass sich eine neue Tür für jeden von uns öffnen wird.« Dustin sprach manchmal so poetisch, dass ich mich fragte, warum er nur Bühnen und nicht auch die entsprechenden Texte für unsere Stücke kreierte. »Ach so! Und alles Gute zum Geburtstag«, ergänzte der kleine, aber muskulöse Kerl mit den rotblonden Haaren mit Blick auf sein Smartphone, bevor er und David händchenhaltend in die Dunkelheit verschwanden.
Richtig. Mit Schlag Mitternacht war der 06. September angebrochen. Mein 24. Geburtstag. Es hätte wohl keinen besseren Tag für einen Neuanfang, beziehungsweise einen Start von 0 geben können.
Ich nickte meinen Freunden ein letztes Mal zu und ließ das Theater hinter mich. Das Theater und all die Träume und Hoffnungen, die ich darin gesetzt hatte.
Friedrich Schiller war auch als Wundarzt tätig gewesen, doch von dieser Wunde hätte selbst er mich nicht kurieren können.