»DER HAT MICH AN SCOOTER erinnert, mit seinen kurzen wasserstoffblonden Haaren«, sagte ich mehr zu mir selbst, nachdem unser Augenzeuge in einem Auto davongefahren war.
»Wie kommst du ausgerechnet auf Scooter?«, hatte Marlowe dann doch ein paar Worte für mich übrig.
»Die beiden Vampire, die mich entführt hatten, haben eine halbe Stunde lang Scooter im Auto laufen lassen.«
»Jesus Christ! Und das erzählst du erst jetzt!«, rief der Boss mir voller Entsetzen entgegen. »Dafür hättest du von der CF noch eine extra Portion Schmerzensgeld verlangen können.«
»Schmerzensgeld?« Ich wusste nicht, ob Marlowe nur einen Scherz machte.
»Du solltest mal deinen Kontostand überprüfen«, erklärte mein Boss mir und schaute mich während der Unterhaltung auch mal wieder direkt an. »Ich habe der CF ordentlich die Leviten gelesen, wegen der unterschlagenen Informationen zu der längst vermuteten Vampirplage. Sie haben eingesehen, dass sie eine Mitschuld an deiner Entführung tragen und dir viertausend Euro überwiesen.«
»Viertau- Oh – mein – Gott.« Ich war sprachlos. Finanziell hatten sich die vier Monate definitiv für mich gelohnt. Somit hatte ich ein nettes Startkapital für meinen Neuanfang in Hamburg.
»Mehr konnte ich ihnen nicht aus dem Kreuz leiern. Sagt man das so?« Marlowe schaute mich fragend an.
»Ähm, was? Ach, ja. Ja, ich glaube schon.« Ich war noch immer überrascht von dieser Neuigkeit. Zusammen mit dem teuren Smartphone und dem Monatsgehalt von 2700€ konnte ich mich absolut nicht beklagen. »Übernehmen Sie sich nicht wieder mit dem Sprechen und den Nettigkeiten. Wir sind keine Freunde. Schon vergessen, Boss?«
Er schwieg und wir gingen weiter durch das nächtliche Wernigerode. Vor dem Feuerwehrmuseum machten wir eine Pause, um Rücksprache mit Momo und Saskia zu halten.
»Bei uns ist auch alles ruhig«, sagte die Blondine und im Hintergrund konnten wir Momo grummeln hören.
»Meine Geräte zeigen absolut nichts an. Vielleicht ist das Wesen weitergezogen und längst nicht mehr in Wernigerode. Wenn es mir doch nur gelingen würde, den Radius zu erweitern. Ich komme kaum über die Grenzen der Kernstadt hinaus.«
»Gibt es denn weitere Meldungen?«, fragte ich nach, ob der CF etwas übermittelt wurde, das uns weitere Anhaltspunkte geben könnte. Diese hatte neben uns noch andere Agenten raus geschickt, welche die Gebiete rund um Wernigerode überwachten. Und auch die sozialen Medien im Auge behielten. Nichts wäre schlimmer, als wenn Videos wie das des jungen Mannes von vorhin die Runde bei twitter, Instagram und Co. machen würden.
»Bislang ist alles ruhig«, antwortete Mohammad nach ein paar Atemzügen. »Auch keine weitere Portalöffnung. Nirgendwo. Von allein wieder gegangen kann das Wesen also nicht sein. Und ihr denkt, das Video ist echt?«
»Er hat auf uns nicht den Eindruck gemacht, dass er sich so was ausdenkt«, beschrieb ich den Gaststättenmitarbeiter. »Das Video hatte eine miese Qualität, aber zumindest auf den ersten Blick wirkte es authentisch.«
Wir unterhielten uns noch kurz über Bachkalb, Muhkalb und andere infrage kommende Fabeltiere und setzten anschließend unsere Spaziergänge zwischen Fachwerkhäusern und engen Straßen fort.
»Es ist gleich Mitternacht«, stellte ich nach einem Blick auf meine Uhr fest. »Denkst du, das Vieh kommt noch? Der Bursche hat es ja gegen 22 Uhr angetroffen.«
»Jetzt also doch wieder per du?« Marlowe hob überrascht die Augenbrauen.
»Was? Ach so! Himmel, wer soll sich denn bei dir herausfinden? Du bist entweder ein Buch mit sieben Siegeln, ein Roboter ohne Bedienanleitung oder stehst dir einfach nur selbst im Weg. Entscheide du dich erst einmal, was du überhaupt willst.«
Er schwieg. Was hatte ich auch anderes erwartet?
Nach einer Weile hatten wir unser Ziel erreicht. Auf der Breiten Straße, einer Einkaufsmeile in Wernigerode, zweigte links eine Seitenstraße ab, die uns zum sogenannten Brunnenhof führte. Einem Platz mit verschiedenen Restaurants und Außengastronomie. Die Läden hatten bereits geschlossen, als wir den Hof betraten und uns an den Brunnen stellten, welcher in dessen Mitte stand. Es war kein Brunnen, wie man ihn sich vorstellte. Es war wieder mehr Kunst als das. Ein Wasserspiel stieg aus der Mitte einer eckigen Umrandung empor. Drumherum standen drei Kinderfiguren aus Bronze.
Ich betrachtete jede der Figuren und mein Herz schlug schneller bei dem Gedanken, dass eine davon sich plötzlich bewegen könnte. Das taten sie nicht. Es sprang auch nichts dahinter hervor. Alles war still. So still, dass ich mich vor Bens leisem Kichern erschreckte.
»Was ist denn so lustig?«, flüsterte ich. Mein Boss stand neben einer der Skulpturen und griente in sich hinein.
Ich stellte mich neben ihn und blickte zwischen Ben und dem kleinen Mädchen mit den seitlich ausgestreckten Armen hin und her. »Hab ich was übersehen?«, fragte ich in der Hoffnung, dass ihm etwas aufgefallen war, das unseren Fall lösen könnte.
»I just had to think of something«, sagte Ben und schaute mich amüsiert von der Seite an.
»Of what?«, fragte ich und stemmte die Hände in meine Hüften.
»Of you.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Bronzefigur.
»I dont’t get it, sorry.« So sehr ich mir das kleine Mädchen in dem Kleid auch ansah, ich kam auf keinen gemeinsamen Nenner.
»Denk mal an unseren Einsatz im Schloss Henriette«, half Ben mir ein wenig auf die Sprünge. »Du hast genauso dagestanden und auf Schwingungen gewartet, als wir in der oberen Etage nach Mothman gesucht haben.«
Jetzt fiel der Groschen. »Ach, du bist doch blöd!«, schubste ich Ben in die Seite. »Außerdem habe ich nicht auf Schwingungen gewartet, sondern wollte demonstrieren, dass ich kein Fabeltier-Magnet bin.«
»Versuchs doch noch einmal. Vielleicht springt dir das Bachkalb dann auf den Buckel«, schlug Ben vor und stellte sich erwartungsvoll vor mich.
»Hast du vergessen, dass das Viech nur Männer anfällt?«, erinnerte ich ihn an die Legende aus Aachen. »Stell du dich doch so hin und dann werden wir ja sehen, was passiert.«
»No problem.« Mit theatralischer Dramatik baute Ben sich neben dem Brunnen auf, schloss die Augen und winkelte die Arme waagerecht vom Körper ab.
Er sah nun genauso aus wie die Statue des kleinen Mädchens. Das musste ich einfach fotografisch festhalten. Ich holte mein Handy hervor und machte ein Foto von den beiden.
Den beiden?
Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, da hörte ich Ben bereits aufstöhnen und sah, wie er sich nach vorn krümmte. Ein flüchtiger Blick auf mein Display bestätigte meine Befürchtung. Auf Bens Rücken hatte sich das Bachkalb geklammert!
»Fuck! Get off of me!« Ben rüttelte sich und schüttelte sich, doch die zottige Kreatur ließ sich partout nicht abwerfen. »That thing smells like hell! Lex, tu irgendwas!«
»Was denn?!«, rief ich und flatterte nervös um die beiden herum. Ben hatte recht. Ich konnte einen fauligen Fischgeruch wahrnehmen. Mein Magen drehte sich beinahe um.
»In deinem Rucksack müsste auch eine Betäubungspistole sein«, strengte sich mein Boss hörbar an, zu mir durchzudringen. »An meine Eigene komme ich gerade nicht heran.«
»Bleib stehen! Wenn du dich so im Kreis drehst, kann ich nicht viel tun«, sagte ich, während ich meinen Rucksack nach der besagten Waffe durchkämmte.
»Das sagt sich so leicht«, hörte ich Bens keuchende Stimme unter dem kreischenden Lachen des Fabelwesens. »Es zerrt die ganze Zeit an meiner Schulter herum. Wenn ich mich nicht bewege, reißt es mir den Arm heraus.«
Angestachelt von unserer Panik trat das Untier ins Bens Flanken, so wie ein Reiter, der sein Pferd antrieb. Dabei wurde sein Lachen immer hysterischer.
»Was passiert, wenn ich dich treffe?« Ich zielte mit zittrigen Händen auf das sich windende Bündel vor mir.
»Wirst du nicht. Und wenn doch, dann werde ich jedenfalls nicht sterben.«
Fein. Das sollte mich ungemein beruhigen. »Also dann«, murmelte ich mir selbst Mut zu, atmete tief ein und brachte meine Hände unter Kontrolle. Ich zielte auf den struppigen Leib des Bachkalbes.
Noch ehe ich abdrücken konnte, verlor Ben augenscheinlich das Übergewicht und fiel zusammen mit der übel riechenden Kreatur gegen eine der drei Brunnenfiguren. Nahezu im selben Augenblick zog er seine eigene Waffe hervor und traf seinen Angreifer zielsicher zwischen den Schulterblättern.
»Die Fesseln!«, rief er mir routiniert zu und ich fischte die Handschellen aus meinem Rucksack. Es waren ganz gewöhnliche Polizeifesseln, da nicht davon auszugehen war, dass Fabeltiere diese durch Anwendung von Magie öffnen konnten.
»Wow, beeindruckende Show«, lobte ich Marlowe für seinen vollen Körpereinsatz.
»So eine Polizeiausbildung hat eben seine Vorteile. Wobei ich sagen muss, dass wir auf derlei Angreifer kaum vorbereitet wurden.« Er trat vorsichtig an das Bachkalb heran, welches am Boden hockte und dem Anschein nach die Situation kaum selbst einschätzen konnte. »Das Vieh ist klein, aber verdammt kräftig. Und gewöhnliche Verbrecher springen dir nicht auf die Schulter. Das war – spannend.« Ben holte tief Luft und beugte sich behutsam zu dem Bachkalb herunter. Dieses schien sich beruhigt zu haben. »Bleib hinter mir und halte die Knarre bereit. Wir können nicht wissen, wie es reagiert.«
Ich stand mit aufgerissenen Augen hinter Ben und ließ das Wesen nicht einen Moment unbeobachtet. Es hatte sich mittlerweile auf den Boden gelegt und atmete schwer aber gleichmäßig.
»Es scheint zu schlafen«, flüsterte Ben mir zu. »Ich lege ihm die Fesseln an und dann sagen wir Momo Bescheid, dass er den Wagen holen soll.«
Ich atmete durch. Dennoch durchströmte noch immer Adrenalin meinen Körper. Ben saß nun direkt vor dem Bachkalb und streckte seine Hände nach dessen krallenbewehrten Pranken aus. Ich erkannte, dass sein schwarzer Trenchcoat zahlreiche Risse aufwies.
»Bist du verletzt?«, fragte ich Ben und ging ebenfalls in die Hocke, um ihn mir aus der Nähe anzusehen.
»I’m alright«, versicherte er mir. »Die Klauen sind überraschend stumpf. Sie sind nicht bis zu meiner Haut vorgedrungen. Was spürst du?«
»Hm.« Angst, Sorge, Erleichterung. Gleichzeitig auch so eine Art Freude, die ich nicht einordnen konnte. Aber nichts Übernatürliches. »Um ehrlich zu sein – nichts. Nichts, das ich mit den anderen Begegnungen vergleichen könnte.«
Ben schaute mich verwundert an. In seinen dunklen Augen spiegelte sich das fahle Licht einer Laterne. Ein rasselndes Geräusch zerstörte diesen Augenblick der Stille und ich sah etwas Silbriges an mir vorbeisausen, gefolgt von Bens Schmerzensschrei. Dann wurde ich weggeschubst und landete unsanft auf dem Allerwertesten. Das Bachkalb rannte aus dem Brunnenhof heraus zurück auf die Breite Straße.
»Ben! Alles in Ordnung?« Ich sprang sofort zu meinem Boss, der sich gerade wieder erhob. Mit der rechten Hand hielt er sich die Stirn.
»Da kommt wohl noch eine fette Beule zu der Narbe hinzu«, stöhnte er und überprüfte seine Handfläche auf Blutspuren.
»Lass mal sehen.« Instinktiv wühlte ich mich durch sein dunkles Haar, konnte aber bis auf eine stark gerötete Stelle keine weiteren Verletzungen entdecken. Dennoch schwankte Ben ein wenig. »Setz dich hin. Nicht, dass du eine Gehirnerschütterung hast. Das Vieh hat dich voll erwischt mit seinen Ketten.«
»Keine Zeit. Wir müssen hinterher. Sag Mohammad und Saskia Bescheid. Nach dieser Dosis Beruhigungsmittel kann es nicht weit gekommen sein.« Mein distanzierter Boss ging sogleich auf Abstand zu mir und folgte unserem Fabelwesen auf die Wernigeröder Einkaufspassage.
»Shht.« Ben hob seinen rechten Zeigefinger und lauschte die stille und kühle Herbstluft nach dem Kettenrasseln des Bachkalbes ab. »Er ist da lang, glaube ich.« Er zeigte die Breite Straße rauf Richtung Osten. »Ich gehe schon vor. Du wartest hier auf die anderen und ihr folgt mir dann.«
»Du bist verwundet. Du kannst dem Ungetüm doch nicht allein gegenübertreten.« Ich krallte mich in Bens Ärmel fest.
»Besser ich als einer von euch«, sagte er kaum hörbar. »Ich bin Polizist und bewaffnet. Wenn die Betäubung nicht wirkt, muss ich eben –« Er schluckte schwer und ging ohne ein weiteres Wort seiner Wege.
Er will es töten, dachte ich und hatte ein ganz beschissenes Gefühl dabei. Immerhin hatte ich keine Präsenz gespürt. Weder eine Positive noch eine Negative. Was das bedeutete, konnte ich nicht einschätzen. Ich musste Ben vertrauen.
»Lex, was zur Hölle ist los?« Momo kam auf mich zu gerannt. Er hielt seine Brille dabei fest, was ihn wie einen überambitionierten Professor wirken ließ. Saskia folgte ihm.
»Beeilen wir uns lieber«, rief ich meinen Kollegen zu und lief sofort los. »Es konnte nicht betäubt werden. Es hat uns angegriffen. Marlowe ist leicht verletzt, hat die Verfolgung aufgenommen.«
Wir flitzten so lange, bis wir einen Kreisverkehr am Ende der Breiten Straße erreicht hatten. Nördlich und südlich davon grenzten kleine parkähnliche Grünflächen mit Spielplätzen. Wir lauschten, konnten aber kein Kettenrasseln hören.
»Und nun?«, fragte Saskia in die Runde und stupste Momo an. »Wir haben doch alle einen GPS-Sender. Momo, such ihn endlich.«
»Ah, was? Ja, natürlich! Der Sender.« Fix zückte Momo sein Handy und stellte die Suchoptionen in seiner Software um. Nach wenigen Augenblicken blinke ein blauer Punkt auf seinem Bildschirm auf. »Da lang!« Der Computerfreak deutete auf den nördlich gelegenen Park. »Da ist irgendeine Statue oder ein Denkmal. Ich kann Marlowe orten aber kein Fabelwesen.«
»Ich habe auch keins gespürt«, sagte ich daraufhin. Meine Freunde maßen dieser Bemerkung weit mehr Bedeutung bei als ich selbst.
»Also ist das Vieh gar kein Fabeltier oder was?«, brachte Saskia auf den Punkt, was offenbar auch Momo mich fragen wollte.
»Weiß ich doch nicht!«, hob ich entschuldigend die Hände. »Ich habe doch gesagt, dass ich kein Wundermedium oder so was bin. Hört auf, euch auf meine komischen Gefühle zu verlassen.«
»Ist auch egal«, rief Saskia und flitzte zu dem Ort, den Momo uns gezeigt hatte. »Wir müssen Marlowe finden. Los!« Sie winkte uns hinter sich her und nach einigen Metern erkannten wir auf der anderen Seite einer Straße einen Adler mit goldenen Augen auf einer steinernen Säule aufragen. Darunter stand Marlowe und blickte auf etwas, das zwischen den kahlen Sträuchern am Fuße des Denkmals kauerte.
»Waffen weg«, sagte er in ruhigem Ton, als er uns mit gezückten Pistolen näherkommen sah.
Wir schauten uns ratlos an.
»Ist das das Scheusal, das dich verletzt hat, Boss?«, knurrte Saskia und steuerte auf das zitternde Etwas zu. Marlowe stoppte sie. »Was soll das? Das Viech ist gefährlich. Wie schwer bist du verwundet?«
»Gar nicht. Nur eine Beule«, wich er Saskia genauso aus, wie mir vorhin. »Das ist kein Fabelwesen.«
»Wir müssen es fesseln und ins Auto – Moment. Wie jetzt, kein Fabeltier?« Momo war ebenfalls bereits auf dem Weg zu dem vermeintlichen Bachkalb und machte auf halber Strecke halt.
»Es ist ein Mensch.« Marlowe deutete mit einem Kopfnicken zu dem fransigen Bündel am Sockel der Adlerskulptur. Erst jetzt nahmen wir Wimmern und Schluchzen war. Menschliches Weinen.
»Ich – ich bin kein Untier.« Der monströse Kopf mit den riesigen leuchtenden Glupschaugen lag neben dem Wesen. Auf dessen Schultern erkannten wir stattdessen das rundliche Gesicht eines jungen Mannes. Er bebte am ganzen Körper, als er auch die Bärentatzen-Handschuhe abstreifte und darunter kleine Hände zum Vorschein kamen.
»Keine Angst, wir tun Ihnen nichts«, versuchte Saskia mit dem kleinwüchsigen Mann ins Gespräch zu kommen. »Sie haben uns einen schönen Schrecken eingejagt. Uns und ganz Wernigerode.«
»Es tut mir leid«, schniefte der dunkelhaarige Kerl und wischte sich mit dem Zottelfell die Tränen aus seinem Gesicht. »Es sollte nur ein Scherz sein. Dann ist alles außer Kontrolle geraten. Ich – ich wollte doch nur sehen, wie es ist, wenn die anderen Angst vor mir haben und nicht immer andersrum.« Sein Gesicht wurde rot und er schlug mit den Fäusten gegen die Steinsäule.
»Was meinen Sie damit?«, fragte Saskia ihn weiter und setzte sich neben den Mann. So einfühlsam hatte ich meine Kollegin bisher nie gesehen. »Wer hat Ihnen Angst gemacht, hm?« Sie legte ihren Arm um ihn und langsam beruhigte er sich ein wenig.
»Steven und seine Bande!« Sein Blick sah ins Leere. »Sechs Jahre lang haben sie ihre Witze über mich gemacht. Mich bespuckt, geschubst, ausgelacht oder nicht beachtet. Vor den Lehrern haben sie die hilfsbereiten Mitschüler gespielt, aber auf dem Schulweg war davon nichts zu merken. Abgezogen haben sie mich. Erpresst.«
Wir warfen uns stumme mitfühlende Blicke zu. Mobbing war und ist etwas, das Lehrer nur allzu gerne übersahen oder nicht sehen wollten. Aus eigener Ignoranz, Hilflosigkeit oder Angst heraus. Dennoch wären sie verpflichtet, solche Untaten unter den Schülern zu unterbinden. Wenn nötig eben durch Hilfe von anderer Stelle. Aber Nichtstun und Wegschauen sollten sie auf keinen Fall.
»Ganz ruhig. Wir finden eine Lösung. Hab keine Angst.« Saskia nahm unser falsches Bachkalb in den Arm und ertrug den grauenhaften Gestank, den dessen Kostüm ausströmte. »Wie heißt du eigentlich?«
»Michel. Was die ganze Sache nicht einfacher gemacht hat. Manchmal haben sie mich in den Werkenraum eingesperrt, wo ich Holzmännchen schnitzen sollte.«
»Diese verdammten Arschlöcher«, spukte Saskia aus und half Michel dabei, auch das restliche Kostüm loszuwerden.
»Dieser Kerl mit den hellblonden kurzen Haaren – ist das einer von denen?«, fragte ich Michel und verstaute meine Pistole tief in meinen Rucksack.
Michel nickte. »Ich wollte ihm und den anderen nur ein bisschen Angst machen. Meine Freunde haben mir geholfen, kräftiger zu werden. Ich arbeite in einem Fitnessstudio«, sagte er stolz und präsentierte seinen Bizeps. »Eines Tages bin ich auf die Legende vom Bachkalb gestoßen und dann habe ich dieses Kostüm gebastelt.« Michel trat dieses weit von sich. »Meine Mutter ist Friseurin und mein Vater arbeitet in einem Fischgeschäft. Der Rest ist aus Plüschtieren, Dekoartikeln und Faschingskostümen zusammengebastelt.«
»Nicht übel. Schon mal daran gedacht, als Kostümbildner zu arbeiten?«, versuchte ich, die Stimmung ein bisschen aufzubessern.
»Alexis hat recht. Wir haben dich für ein echtes Bachkalb gehalten, zumindest vom Aussehen her.« Marlowe warf mir einen vielsagenden Blick zu.
»Und was um alles in der Welt seid ihr?«, drehte Michel den Spieß schließlich um und befragte uns. »Seid ihr Ghostbusters oder so? Womit habt ihr auf mich geschossen?«