»JA, MOIN!«, antwortete ich und ließ ein bisschen die Hamburgerin raushängen. In den letzten Jahren hatte ich täglich an einwandfreiem Hochdeutsch gefeilt. In Berlin und Eichenstedt gesellten sich allerdings zahlreiche regionale Wortschöpfungen zu meinem Sprachschatz. Das alles musste ich nun authentisch zusammenbringen.
»Ich bin Helen. Man hat mir gesagt, dass ich hier gebraucht werde.«
»Hat wer gesagt?«, der Zweimeter-Mann mit den breiten Schultern blieb misstrauisch. Ich hatte es befürchtet. »’N Kerl namens Dette. Isser nich hier?« Ich war nicht gläubig, dennoch betete ich zu Gott, dass er jetzt nicht irgendeinen Detlef ran rief, der meine Lüge auffliegen ließ.
»Ich kann doch nich jeden kennen. Guck selber nach. Aber vorher Jacke ausziehen.«
Er konnte nicht jeden kennen, also mich auch nicht. Hatte er wohl endlich selbst begriffen. Ich zog die Lederjacke aus und bekam im gleichen Moment beinahe einen Herzinfarkt. Hatte ich überhaupt geprüft, ob da irgendwo ein Schildchen eingenäht war, welches darauf hinwies, dass es sich um Eigentum des Schiller Theaters handelte? Verflucht, verflucht, verflucht!
Der wandelnde Wandschrank kramte in den Taschen herum, fand das Nasenspray, lächelte und nickte mir daraufhin zu. Dann legte er die Jacke kommentarlos auf einem Stapel ab, auf dem bereits andere Kleidungsstücke lagen.
»Nu jeh rin«, wies er mich an und seine schweißnasse Glatze glänzte in der fahlen Beleuchtung.
»Alles jut!«, imitierte ich den hiesigen Dialekt, was mir bei meiner anfänglichen hamburgischen Begrüßung im Nachhinein fahrlässig vorkam. Aber der Lulatsch war bereits mit jemand anderem beschäftigt. Ein junger Mann stand neben ihm, er hatte kurz geschorenes Haar. An seinem Hinterkopf war ein verblichenes Tattoo zu erkennen. Ein sonderbares verschnörkeltes Zeichen. Als er bemerkte, dass ich ihn beäugte, tat ich so, als würde ich zu jemanden schauen, der eben zur Tür hereinkam. Ich nickte diesem zu, als wiederum der in eine andere Richtung guckte, und dann drehte ich mich schnell um und ging weiter hinein in die alte Kaufhalle. Ob sich das komische Symbol in mein Gedächtnis eingebrannt hatte, würde ich erst in der Garage erfahren. Ich hoffte es jedoch, da das schließlich meine Aufgabe war.
Einmal drin, interessierte sich niemand mehr für mich. Ich tat stets so, als hätte ich ein genaues Ziel vor Augen, während ich mich an den zwielichtigen Gestalten vorbeimogelte. Es gelang mir, einige Gesprächsfetzen aufzuschnappen. Es ging zum Beispiel um eine ältere Dame aus der Bachstraße. Diese wollte bis morgen Abend die geforderten fünfzehntausend Euro aufgetrieben haben. Eine Übergabe war gegen 15 Uhr an der kleinen Kreuzung Bachstraße/Mozartweg geplant.
Merk dir das, Alexis!
Eine andere Gruppe tüftelte offenbar gerade an neuen Betrugsmaschen. In einigen Vierteln Eichenstedts gab es immer wieder Probleme mit dem Internet. Dort wolle man den Menschen gefälschte Verträge unterjubeln und monatliche Gebühren einziehen für eine Leistung, die natürlich nie erbracht werden würde. Ich hörte oft in den Nachrichten, dass es mehr als genug Leute gab, die arglos auf solche Maschen hereinfielen. Diese Ganoven wussten, wo die wunden Punkte zu finden waren.
Ich hatte mir viel einzuprägen. Mein Kopf begann bereits zu pochen. Ganz zu schweigen von meinem Herzen. Man konnte froh sein, dass das niemand hören konnte. Wobei ich mir bei zwei Kerlen nicht so sicher war. Sie drehten sich wie aus dem Nichts zu mir um, als ich näher gekommen war. Ihr Blick fiel dabei unheimlicherweise zuerst auf meine Herzgegend und dann beäugten sie mein Gesicht eindringlich. Nein, mein Dekolleté war es bestimmt nicht, was sie so in den Bann zog. Dass sie mein Herz hören konnten, war jedoch auch unmöglich. Wieder einmal bereute ich es, überhaupt hier zu sein. Glücklicherweise hatte Saskia ganze Arbeit geleistet. Auf der Straße würden mich die Brüder bestimmt nicht wiedererkennen.
Eine Person würde ich allerdings so schnell nicht wieder vergessen. Der Typ mit dem Tattoo auf der Kopfhaut gesellte sich zu diesen Kerlen. Auch er schien sich an mich zu erinnern. Irgendetwas hatte er an sich, was mich nervös werden ließ. Also noch nervöser als die ganzen anderen Verbrecher um mich herum.
Ich gab mich weiterhin unbeeindruckt und zog so viele Informationen auf, wie ich konnte. So langsam fand ich mich allerdings selbst verdächtig. Immerhin war ich die Einzige, die allein durch die verstaubten Regale schlenderte. Dabei schnappte ich noch so allerhand auf. Nicht alles war interessant. Einige unterhielten sich lediglich über Autos, Frauen, Drogen oder sonstigen trivialen Kram.
Hier und da schnappte ich aber Informationen darüber auf, wo sich die Drahtzieher aufhielten. So wurden Länder wie Tschechien, Taiwan, die USA oder sogar Südafrika und einige andere Staaten genannt. Mehrere Gruppen unterhielten sich in mir unbekannten Sprachen. Einer davon, ein eigentlich ganz hübscher und nett aussehender Kerl mit einem dunkelblauen Sweatshirt quatschte mich auf Polnisch an.
»Kim ty jesteś?«
»Helen«, antwortete ich fix. Ein paar Bruchstücke Polnisch hatte ich in Berlin gelernt, wo ich Nachbarn aus dem Land hatte. Das waren allerdings herzensgute und hilfsbereite Menschen und keine Verbrecher. Erneut war mein ganzes schauspielerisches Können gefragt, denn von diesem Augenblick an, hatte ich die Aufmerksamkeit gleich mehrere Personen auf mich gezogen. Die Schlinge zog sich zu.
Ich fand mich in einem ehemaligen Infopunkt wieder. Einem kleinen Nebenraum wenige Meter neben dem Kassenbereich, in dem Kunden damals Beschwerden und dergleichen loswerden konnten. Man konnte noch erkennen, wo einst der PC stand. Ein paar Aktenordner harrten in den Regalen aus, deren Staubschicht bereits ein Eigenleben entwickelt hatte.
»Also. Wer bist du und was machst du hier?« Ein hagerer Kerl mit braunem Pferdeschwanz saß mir gegenüber und beäugte mich eindringlich. Neben ihm standen zwei weitere Typen mit deutlich mehr Muskelmasse. The bodies and the brain.
»Ich wollte mich hier mal nach ’nem Job umschauen«, begann ich meine einstudierte Ausrede vorzutragen. »Hab gehört, dass ihr immer mal frische Gesichter sucht.«
»Aha. Wo hört man denn so was?« Er stellte die richtigen Fragen, das musste man ihm lassen.
»Hier und da.« Meine Antwort fiel knapp aus und meine Mimik ließ ich ebenfalls schweigen. Ich fand das authentischer. Aber ob das bei ihm auch so rüberkam, war kaum ersichtlich. Eine Weile lang schwieg er und knubbelte an einem losen Hautfetzen an seinem Daumennagel herum.
»Interessant. Wusste gar nicht, dass die da oben neuerdings Handzettel auf der Straße verteilen.« Meister Zopf und seine beiden Lakaien fingen an zu lachen.
Ich stieg kurz darauf in das Gelächter ein, um von meiner Unsicherheit abzulenken und ihnen weiszumachen, dass ich mir keiner Schuld bewusst war.
»Ne, komm. Schluss mit den Spielchen. Für wen arbeitest du?« Die Miene des Mannes, den ich um die fünfunddreißig Jahre schätzte, verfinsterte sich.
»Bis jetzt für niemanden. Aber ich hoffe doch, dass sich das gleich ändert.« Ich versuchte, die Fassade der Betrüger-Anwärterin aufrechtzuerhalten. Offenbar spielte ich diese Rolle einigermaßen überzeugend. Für einen Moment sah der Fatzke verwirrt aus.
»Schön, wie du willst. Dann erzähl mal ein bisschen von dir. Wo kommst du her, was hast du so getrieben in letzter Zeit?«
Glücklicherweise hatte ich mir eine Geschichte für Helen Kaufmann zurechtgebastelt. Ich erzählte flüssig von den Streitigkeiten in Helens Elternhaus. Wie sie mit siebzehn ausgezogen war und zunächst bei Freunden und später in einem Heim für obdachlose Jugendliche untergekommen war. Von ihrem Drogenproblem, den Diebstählen und schließlich der Körperverletzung gegen einen anderen Bewohner des Heims, welche einen Rausschmiss zufolge hatte. Ihre Zeit auf der Straße, ihrem Buddy Knorke, den sie später auf dem Alex in Berlin kennengelernt hatte und der Art und Weise, wie Helen dort Leute abgezogen hatte, um über die Runden zu kommen.
Ich musste gestehen, dass ich selbst ein bisschen stolz auf mich war. Improvisationstheater-Kurs sei Dank.
»Du bist gut, sehr gut sogar.« Nach einer weiteren bedrückenden Pause beugte sich Meister Zopf zu mir vor und schaute mir in die Augen.
»Dann kriege ich einen Job bei euch?«, fragte ich mit gestiegenem Selbstbewusstsein.
Seine Miene blieb wieder versteinert. Dann fing er an zu lachen. Er schlug sich auf die Schenkel und schaute seine beiden Minions an, die ebenso wenig die Welt zu verstehen schienen, wie ich. Um sich das nicht anmerken zu lassen, begannen auch sie wieder lauthals los zu keifen.
Ich kam nicht mehr dazu, dasselbe zu tun, da packte mich der Rädelsführer am Schlafittchen und zog mich über den Tisch.
»Soll ich dir mal was verraten, Schätzchen?«, spuckte er mir ins Gesicht. Der Zigarettengeruch nahm mir beinahe den Atem. Noch mehr jedoch die Todesangst, in der ich mich in diesem Moment befand. »Hier kommt keiner her und bewirbt sich. Unsere Leute werden zentral von oberster Stelle angeheuert. Warum sonst suchen wir uns immer wieder ein neues Versteck, hm? Wir gehen damit nicht hausieren. Also rück endlich mit der Sprache raus. Woher weißt du, dass wir uns heute hier versammelt haben, und was hattest du vor?«
»Gar nichts, ehrlich!«, keuchte ich, was ich durch den Lärm, den mein rasendes Herz verursachte, selbst kaum hören konnte. »Ich habe durch Zufall was auf der Straße aufgeschnappt und bin einfach mal vorbeigekommen, um zu gucken, ob ich bei euch einsteigen kann. Ich habe keine Ahnung, wer euer Anführer ist.«
»Anführer!« Erneut lachte der Zopfmann, ließ mich zum Glück aber endlich los, sodass ich wieder Luft holen konnte.
»Als ob es einen großen Oberbösewicht geben würde. Wir sind nicht Team Rocket.«
Im Ernst jetzt? Der Arsch kannte sich mit Pokémon aus? Ich konnte mich nicht lange darüber wundern, da spürte ich eine grobe Hand an meinem Kopf.
»Schau mal einer an, hast wohl keinen Kamm ergaunern können, auf der Straße, hm?« Mit einem heftigen Ruck riss mir einer der Beistelltypen die Perücke vom Kopf. »Na so was! Sind ja gar keine echten Haare. Was sagt man dazu?« Er und sein Kollege gaben grunzende Laute von sich. Ihrem Chef war das Lachen offenbar vergangen. Mit verzogenem Gesicht stampfte er um den Tisch herum in meine Richtung.
Ich sprang panisch vom Stuhl auf und dann passiert der Super-GAU: durch das Ziehen an den Haaren hatte sich der Funkempfänger in meinem Ohr gelöst. Gemeinsam mit dem falschen Ohrring fiel er klimpernd auf den Boden.
»Und da hätten wir den Beweis«, knurrte der Kerl mit dem Zopf. »Los, warnt die anderen! Wir haben einen Schnüffler im Haus!«, brüllte er seine Mitläufer an, die sofort nach draußen stürmten, woraufhin das große Chaos ausbrach.
Geistesgegenwärtig trampelte ich den Funkempfänger kaputt und verfluchte mich selbst, dass ich beim Einlass das Pfefferspray nicht mitgenommen hatte. Schon hatte mich der Wüstling am Arm gepackt und zog mich zu sich.
»Schön hiergeblieben, Bullenschlampe.« Er dachte offenbar, dass ich von der Polizei war. Damit konnte ich nicht dienen, aber mit Selbstverteidigungskünsten.
Vielen Dank, Fräulein Strupp!
Geschickt drehte ich mich aus seinem Griff und schaffte es sogar noch, ihm kräftig in die Leibesmitte zu treten. Das und der Schreck ließ ihn kurz zögern und ich war frei.
So schnell, wie nie zuvor in meinem Leben, rannte ich durch den Supermarkt. Bei dem Kuddelmuddel, was unter den Banditen in der Zwischenzeit ausgebrochen war, konnte ich den Ausgang jedoch nicht sofort finden.
»Haltet die Schlampe auf!«, hörte ich den Zopfmann hinter mir brüllen. Schon geriet ich ins Sichtfeld einiger Typen. Nein, zwei Frauen waren auch dabei. Die hatte ich vorhin bereits gesehen. Sie unterhielten sich darüber, wie man es schaffen konnte, dass ein älterer Mensch am Telefon dachte, er würde mit seiner Enkeltochter sprechen.
Eine von ihnen, eine zierliche Frau Ende zwanzig mit langen dunkelbraunen Haaren stellte mir ein Bein. Zum Glück bemerkte ich es rechtzeitig und sprang zur Seite und genau gegen den Typ mit dem Tattoo am Kopf!
Er fing mich auf und als mich seine Hände berührten, spürte ich etwas ganz Seltsames. Ich konnte es nicht einordnen, aber es ließ mich für einen Augenblick vergessen, dass ich gerade auf der Flucht war.
Der Kerl schien meine Reaktion auf ihn zu bemerken, auch seine Augen verengten sich, als er mich ansah.
»Halt sie fest!« Das Schreien des Zopftypen lenkte den Tattoomann für einen Moment ab und ich konnte mich aus seinem Griff befreien.
Ich quetschte mich durch die aufgebrachte Menge und fand endlich den Ausgang. Dann rannte ich, als wären einhundert Teufel hinter mir her. Mein Weg schlängelte sich durch die parkenden Autos. Etwas abgeduckt hoffte ich, dass ich so schlechter zu verfolgen wäre.
Spätestens bei der Einfahrt, die eine kleine Steigerung hatte, war ich aber wieder voll ins Blickfeld gerückt.
Die Schufte waren mir bereits auf den Fersen. Also rannte ich. In diesem abgeschiedenen Teil der Stadt war gerade niemand auf den Straßen unterwegs. Ich war völlig auf mich allein gestellt. Dann geschah etwas Unerklärliches:
Der Kerl mit dem Tattoo stand auf einmal genau vor mir!
Wie konnte das sein? Wie schnell war er gerannt? Oder wie lahm war ich? Ich hatte mich eigentlich für fit gehalten, machte regelmäßig ein bisschen Sport. Offenbar zu wenig, um vor Ganoven zu flüchten.
Wieder war da dieses komische Gefühl. Der eindringliche Blick des Mannes zog mich wie magisch an, obwohl ich seine Augen in der Dunkelheit kaum erkennen konnte. Gerade, als er etwas sagen wollte, wurde er von einem Hundegebell aufgeschreckt. Ein Mann mit zwei größeren Mischlingshunden kam den Fußweg entlang, auf dem wir standen. Ehe ich einordnen konnte, was geschah, war der Typ mit dem Tattoo verschwunden.
Stattdessen hörte ich aus einiger Entfernung die widerliche Stimme des Zopfmannes. Ich holte tief Luft und rannte weiter. Den Mann mit den Hunden um Hilfe zu bitten, kam nicht infrage. Er hätte die Polizei gerufen. Diese würde nach meiner Identität fragen und das wollte ich vermeiden. Nichts und niemand durfte etwas davon erfahren. Von den Detektiven und, dass ich da mit drinsteckte. Das galt auch für die Polizei. Zumindest dachte ich das in dem Moment.
Endlich hatte ich die Innenstadt erreicht. Die Geschäfte hatten natürlich längst geschlossen. Ein Gebäude fiel mir allerdings mit seinen großen offenen Toren sofort ins Auge – die Kirche!
Ohne weiter darüber nachzudenken, flitzte ich in das Gotteshaus hinein und versteckte mich zwischen den Sitzbänken. Dort saß ich eine gefühlte Ewigkeit und schnappte heftig nach Luft.
Erst in diesem Moment merkte ich, dass ich am ganzen Leib zitterte, wie Espenlaub. Mein Puls war mindestens bei 210 und trotz der kühlen Temperaturen schwitzte ich wie blöde.
Ich konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, bis ich wieder aufstand. Ganz vorsichtig und achtsam wie ein Reh. Es war nichts zu hören, vielleicht hatte ich meine Verfolger wirklich abgehängt.
Ich bemerkte, dass die Kirche einen weiteren Ausgang auf der entgegengesetzten Seite hatte. Dorthin begab ich mich und entdeckte über der Flügeltür eine Schrifttafel auf der in Frakturschrift geschrieben stand:
Extra ecclesiam nulla Salus – Außerhalb der Kirche kein Heil.