Die nächsten Tage verlaufen immer nach dem gleichen Schema.
Die Schwester kommt, die Schwester geht.
Dann kommt Helia, verwandelt sich und fliegt mit mir zu der Lichtung.
Nur die Übungen sind immer etwas anders.
Am Anfang, also die ersten zwei Tage, lässt sie mich durchgehend einen Gegenstand in der Luft halten.
Schon bald aber merkt sie, dass das keine Herausforderung mehr für mich ist.
Jeden Tag denkt sie sich jetzt neue Übungen aus, die mit jedem Mal schwieriger werden. Alles läuft reibungslos, bis zu dem Tag, als Nolan mich besuchen kommt.
Helia will gerade hereinkommen, als er das Zimmer betritt.
Zum Glück liege ich noch im Bett und kann daher so tun, als würde ich tief und fest schlafen.
Auch Helia merkt es rechtzeitig und fliegt schnell weg.
Ich höre, wie Nolan an mein Bett tritt und sich auf dem Stuhl daneben setzt.
Er besucht mich nicht oft, und wenn überhaupt auch nur für kurze Zeit.
Doch er wirkt heute irgendwie angespannt.
Eine Zeit lang sitzt er einfach nur da, doch nach einiger Zeit fängt er an zu sprechen. Seine Stimme ist leise, fast schon zögernd.
„Ich wünschte du wärst wach Angel. Ich weiß nicht wie ich es finden soll, aber dein Vater ist hier. Könntest du mir doch nur sagen was ich machen soll.
Ich glaube dir ja was du mir erzählt hast, aber ich will nicht, das er merkt das ich es weiß. Er würde mich und Nala rausschmeißen und wieder zurück in unsere Heimat schicken. Oder noch schlimmer, uns einfach auf die Straße setzen.
Und dann könnte ich dir auch nicht mehr helfen. Ich würde dich nie wieder sehen und du wüsstest wahrscheinlich nicht einmal, was mit mir passiert ist.“
Am liebsten würde ich jetzt irgendwas sagen oder machen, aber ich liege einfach nur still in meinem Bett.
Er seufzt einmal, steht dann auf und verlässt das Zimmer.
Als er raus ist, Atme ich erleichtert auf und setze mich auf.
Helia kommt diesen Tag nicht mehr zu mir. Aber im Moment könnte ich mich eh nicht auf unser Training konzentrieren.
Ich habe nur noch Gedanken, die sich entweder um Nolan oder meinen Stiefvater drehen.
Ich bin wirklich geschockt.
Mir war nicht bewusst, dass ich Nolan so viel bedeute. Ob das vielleicht mehr war als nur Freundschaft? Ich laufe rot an und versuche den Gedanken ganz schnell aus meinem Kopf zu vertreiben.
Viel wichtiger ist, dass mein Stiefvater hier ist. In unmittelbarer Nähe.
Aber momentan habe ich noch nicht die nötige Kraft um ihm ein Ende zu bereiten.
Wie lange er wohl noch bleiben wird?
Hoffentlich noch lange genug.
Wenn ich so überlege, komme ich fröhlich zu dem Ergebnis, das ich höchstens noch zwei Tage das Mittel bekommen soll.
Am nächsten Tag kommt Helia wieder um mich zu holen.
Sie bestätigt mir, dass ich jetzt nur noch morgen das Mittel bekommen soll.
Als Aufgabe soll ich heute einen großen Stein durch eine Art Hindernissparkurs schweben lassen. Aber ich schaffe nur die ersten paar Meter, weil meine Gedanken immer wieder zu Nolan und meinem Vater abschweifen. Am Ende hat Helia die Schnauze voll und bricht die Übungsstunde ab.
„Was ist heute denn nur los mit dir!! Sonst schaffst du die Übungen mit Leichtigkeit!“
„Ich weiß auch nicht. Ich muss immer wieder an meinen Vater denken.“
„Aber das ist nicht alles, oder?“
„Du weißt also, dass er hier ist?“
„Kann schon sein.“
„Also weißt du es! Warum hast du es mir nicht gesagt!?“
„Warum hätte ich das tun sollen!! Es lenkt dich doch nur vom lernen ab. Das siehst du doch selbst, oder nicht!? Außerdem, was bringt es dir das zu wissen?! Du kannst nichts gegen ihn tun! Du bist noch nicht so weit!“
Ich bin wirklich entsetzt, wie kann sie so etwas nur sagen, sie weiß zwar nicht, was er alles furchtbares getan hat, aber alleine mein Ruhigstellung in den letzten Wochen sollten ihr doch wohl zu denken gegeben haben. Und selbst wenn ich noch nicht so weit bin, hätte sie es mir wenigstens sagen können.
Wütend drehe ich mich um und laufe in den Wald.
Helia scheint zu kapieren was sie da gerade gesagt hat und läuft mir nach. Ich höre sie rufen, ich solle stehen bleiben, aber ich denke nicht einmal daran.
Ich drehe mich im laufen um und stelle mit erschrecken fest, das Helia sich verwandelt hat und auf mich zu fliegt.
Ich laufe so schnell ich kann, aber leider nicht schnell genug.
Helia packt mich von hinten und fliegt mit mir zurück zur Lichtung.
Wütend schlage ich nach ihr und ich treffe auch.
Ich gebe ihr eine deftige Backpfeife.
Helia fasst sich erschrocken an die Wange.
Ich will schon sagen das es mir Leid tut, aber anstatt das zu tun, drehe ich mich bockig wie ein kleines Kind um und verschränke die Arme.
Eine Weile stehen wir nur so da, aber dann murmelt Helia leise:
„Es tut mir Leid Angel. Ich weiß das hätte ich nicht sagen sollen.“
Ich atme tief aus und drehe mich langsam um. Ganz unschuldig bin ich an der Situation ja doch nicht. Es wäre falsch, meinen ganzen Frust an ihr auszulassen.
Bevor ich etwas sagen kann umarmt sie mich.
„Wenn du willst, helfe ich dir dich gegen ihn zu wehren, gemeinsam können wir es schaffen.“
Ich umarme sie auch und flüstere:
„Danke.“
„Da kriegt man ja das Kotzen!“
erschrocken drehen wir uns um.
Vor uns steht ein Junge der mir seltsam bekannt vor kommt.
Es ist einer der Jungs von Marcos Party. Der, der mir so komisch zugezwinkert hat. Der Junge der wie ein Mädchen aussieht.
Er lacht mich aus, als er meinen verwirrten Blick sieht und sagt:
„Was denn!?
Du hast wohl nicht erwartet das ich ein Engel bin oder?
Tja, aber ich bin einer und dein Vater schickt mich dich zu töten. Tut mir Leid, weil du eigentlich ganz süß bist und Marco dich echt gern hat, aber naja was soll man machen.“
Helia sieht immer wieder von mir zu ihm und wieder zurück.
Sie fragt sich bestimmt wer das ist. Wenn ich so recht überlege, weiß ich nicht einmal seinen Namen.
„Wie heißt du, Freak?“
Okay, ein Freak ist er ja eigentlich nicht, aber ich mag ihn einfach nicht.
„Freak, das ist echt hart, meinst du nicht auch Püppi? Aber nun gut, ich werde dir meinen Namen verraten, als Letzten Wunsch sozusagen.
Max, mein Name ist Max.
Und jetzt geh sterben!“
Er ist eindeutig ein Feuerengel, denn er ist von Feuer umgeben und schießt mit Feuerbällen nach mir und Helia.
Doch komischer weise erreichen sie uns nicht.
„Lass die Beiden in Ruhe kapiert!?“
Zwischen dem Bäumen tritt ein weiterer Engel hervor.
Ach du meine Scheiße! Das kann jetzt doch nur ein schlechter Scherz sein!
Es ist Nolan, aber er sieht ein wenig verändert aus. Seine Haare sind gut dreimal so lang wie vorher und auch seine Augen scheinen kräftiger zu leuchten.
„Du bist doch dieser Arsch, der sich ständig mit Marco zofft oder? Was willst du hier!?“
Ich kann nicht anders als Nolan anzustarren.
Er sieht mich ein wenig traurig an und sagt:
„Ich erkläre es später okay?“
Mechanisch nicke ich.
Zu Helia sagt er ernst:
„Bring sie bitte in ihr Zimmer zurück. Die Schwester dürfte dort jeden Moment auftauchen.“
Helia nickt ebenfalls und fliegt mit mir weg.
Ich wehre mich nicht, weil ich weiß, das ich mich eh nicht wehren kann, ich bin nicht stark genug. Noch nicht. Und wenn die Schwester jetzt bemerkt, dass ich nicht mehr in meinem Zimmer bin, würde ich nur noch mehr Ärger bekommen, als ich ohnehin schon habe.
Helia bringt mich so schnell sie nur kann in mein Zimmer zurück.
Und tatsächlich kommt die Schwester gleich zu mir in mein Zimmer. Aber anstatt mir mein Mittel zu geben, flößt sie mir ein widerlich schmeckendes Gebräu ein.
Mein Herz fängt an zu rasen und ich kann nicht anders als aufzuspringen und das Glas Wasser auf ex aus zutrinken das neben meinem Bett steht.
Die Schwester lächelt mich freundlich an und sagt:
„Es hat also funktioniert. Ich habe befürchtet das es dich nicht wecken würde. Aber wie es scheint war meine Sorge ohne Grund.“
Sie seufzt einmal und sieht mir dann direkt in die Augen.
„Ich weiß nicht warum, aber ihr Vater wünscht sie zu sehen.“
ich halte den Atem an und versuche einen Ausweg aus dieser Situation zu finden. Mein Herz rast noch immer und meine Gedanken scheinen auf Hochtouren zu laufen.
Die Begegnung mit Max hat mir klar gemacht, in was für einer Gefahr ich schwebe.
Um Zeit zu schinden frage ich die Schwester:
„Darf ich vorher noch duschen? Und mir etwas anderes anziehen?“
„Natürlich mein Kind, aber lass dir nicht allzu viel Zeit. Er wartet.“
Ich dusche so lange ich kann, ohne das es verdächtig erscheint.
Die Gedanken um Nolan und seine möglichen Gefühle für mich sind wie weggewischt, ich kann nur noch an das bevorstehende Treffen zwischen mir und meinem Stiefvater denken.
Es ist so lange her, dass ich ihn gesehen habe, ich weiß schon gar nicht mehr wie er aussieht.
Aber warum in drei Teufels Namen will er mich ausgerechnet jetzt sehen?
Läuft das hier jetzt genauso wie im Irrenhaus? Ich werde in einen Raum geführt und er darf mich beobachten?
Das mach ich nicht noch einmal mit.
Nach dem duschen ziehe ich mir ein blaues T-Shirt und eine Röhrenjeans an.
Ich kämme mir so lange wie ich kann die Haare und gehe dann wieder zur Schwester zurück.
Zum ersten mal fällt mir auf, dass ich ihren Namen überhaupt nicht kenne, also frage ich:
„Wie heißen Sie eigentlich?“
Sie sieht mich verwundert an und für einen Moment befürchte ich, das sie mir ihren Namen nie verraten wird doch dann lächelt sie wieder und sagt:
„Mein Name ist Roza. Wir sollten uns jetzt beeilen.“
Ich nicke ernst und frage:
„Kann ich vielleicht was mitnehmen?
Er hat mir mal einen Brief geschrieben in dem stand, dass wenn er mich mal sehen will, ich meinen Degen mitbringen soll.
Also darf ich?“
Natürlich ist das gelogen, aber sie kann das ja nicht wissen.
Erst sieht sie mich nachdenklich an, schließlich kennt sie meine Vorgeschichte, doch als ich sie zuckersüß anlächle sagt sie gnädig:
„Nun gut, in Ordnung. Wenn Ihr Vater das so wollte, wird es wohl schon richtig sein.“
Ich schnappe mir meinen Degen der in der Ecke steht. So kann ich wenigstens versuchen zu kämpfen.
Die Schwester geht zur Tür von meiner kleinen Wohnung und ich folge ihr.
Wir gehen die steile Treppe hinunter und dann in Richtung Küche.
Genau wie befürchtet gehen wir zum Labor.
„Ich dachte niemand dürfte das Labor betreten?“
„Eigentlich stimmt das auch, aber er macht bei Ihnen anscheinend eine Ausnahme.“
Die Labortür ist nur angelehnt und als mir die Schwester bedeutet hinein zu gehen, zögere ich erst.
Ich atme tief durch und nehme all meinen Mut zusammen. Danach trete ein.
Das Labor ist riesig und überall stehen oder liegen Sachen herum.
Die Wände sind kahl und der Fußboden ist gefliest.
Aber von meinem Stiefvater ist keine Spur zu sehen.
Als ich jemanden etwas sagen höre, drehe ich mich einmal um mich selbst.
„Du bist also Angel.“
Ich schaue mich im ganzen Raum um, kann aber niemanden entdecken. Eins kann ich aber mit Gewissheit sagen. Es war nicht mein Stiefvater der da gesprochen hat.
Es war eine Frau.
„Wer sind Sie?“
„Das brauchst du nicht zu wissen.“
Ich versuche zu hören woher die Stimme kommt, aber sie scheint aus den Wänden zu kommen.
„Wo bist du! Du Feigling!“
„Also wirklich wir sind doch keine Feiglinge. Wir sind einfach gut in dem was wir tun.“
Das gefällt mir gar nicht.
Erst Max und jetzt diese merkwürdige Stimme. Das konnte nichts gutes bedeuten.
Ich kann nur erahnen, mit was für Leuten ich es jetzt wieder zu tun habe. Aber angesichts meiner mordlustigen Geschwister konnten dass jetzt auch genauso gut Profikiller sein. Mein Stiefvater will mich schließlich tot sehen, dass hatte er mittlerweile klar gemacht.
„Wo seid ihr! Zeigt euch endlich!“
„Nun gut, wenn du sooo nett fragst.“
Die Stimmen kommt jetzt von rechts und als ich mich umdrehe stehen dort tatsächlich zwei Personen. Ein Man und eine Frau. Sie tragen beide eine Art Kimono oder so was in der Art. Der Mann hat blonde lange Haare und braune Augen. Die Frau hat rosafarbene Haare und leuchtend Grüne Augen. Aber mein Blick fällt sofort auf ihr Hand. Sie hält eine Schwert.
„Ah gut, wie ich sehe hast du deine eigene Waffe mitgebracht. Dann sparen
wir uns ja dir Eine zu geben. Dein Vater hat uns zwar den Auftrag gegeben
dich zu töten. Und das werden wir auch tun, keine Sorge. Allerdings hat er nicht gesagt wie. Also haben wir uns überlegt, dir eine faire Chance zu geben. Naja, so fair, wie es halt geht. Einer von uns wird gegen dich kämpfen. Wenn du gewinnst, lassen wir dich leben. Fairer Preis oder?“
Sie lacht.
Wow, dass ist nicht ihr Ernst oder? Ich kann ja gar nicht gewinnen!
Ich hatte noch keine einzige Fechtstunde, weil mein Knöchel kaputt war.
Also ist es keine Chance. Sie wollen nur ihr krankes Spiel mit mir treiben!
Die Frau unterbricht meine Gedanken indem sie fragt:
„Also wer soll es sein?“
„Was?
Sie seufzt theatralisch und fragt noch einmal:
„Gegen wen willst du kämpfen, Kind?“