Ich überlege lange was taktisch klüger ist.
Am Ende entscheide ich mich für den Man.
Er erscheint mir freundlicher. Schließlich hat er noch kein Wort gesagt. Und im Gegensatz zu der Frau, scheint er auch nicht so begeistert von der Idee zu sein, mich zu töten. Mit etwas Glück nimmt er sogar Rücksicht auf mich, weil ich noch ein Kind bin.
Aber schon nachdem ich meine Wahl ausgesprochen habe, fängt die Frau laut zu lachen an:
„Schlechte Wahl, sehr schlechte Wahl, Kleine!“
Der Man stellt sich mir gegenüber auf und verbeugt sich.
Danach wartet er darauf, das ich mich auch verbeuge.
Da ich keine andere Wahl habe, tue ich es ihm gleich. Vielleicht habe ich ja Glück und es kommt wieder irgendwer zu meiner Rettung. Ich muss schmunzeln. Wahrscheinlich bin ich längst schon verrückt. Jeder andere Mensch wäre jetzt einfach weggelaufen oder hätte um Hilfe geschrien. Aber nein, ich stehe hier und hoffe einfach Mal darauf, dass mich irgendwer rettet.
Als nächstes ziehen wir unsere Waffen und nehmen Kampfstellung ein.
Kurz nachdem ich meinen Degen richtig in der Hand habe, schlägt der Man auch schon zu.
Er trifft mich am Arm und die Wunde fängt sofort an zu Bluten.
Ich bin kurz davor in Panik zu geraten. Die Wunde brennt höllisch und auf einmal verfliegt selbst das letzte bisschen Hoffnung, dass ich bis eben noch hatte.
Gleich werde ich sterben.
Doch eine Stimme in mir sagt:
„Nein, wir werden nicht sterben! Wir sind ein Engel!
Wir sind DER Engel. Wir werden nicht sterben! Niemals! Also wehr dich! Kämpfe!“
Und mein Körper hört auf diese Stimme.
Ich schwinge den Degen, ohne das ich weiß was ich da mache. Als hätte ich den Autopiloten gestartet.
Aber anscheinend funktioniert es, denn die Frau und der Man reißen beide ungläubig die Augen auf.
Und als Höhepunkt treffe ich den Man auch noch in die Schulter.
Eigentlich hätte mein Schlag ihn mitten in der Brust getroffen, aber ich konnte den Schlag gerade noch umlenken.
Die Stimme in mir zischt wütend:
„Was sollte das!?“
Ich flüstere leise:
„Ich weiß nicht wer oder was du bist, aber ich werde ihn bestimmt nicht töten!“
„Wenn wir ihn nicht töten, wird er uns töten und das kann ich nicht zulassen! Außerdem hat dieser Man schon unzählige Menschen getötet und wenn du es nicht ertragen kannst es zu tun, schließ einfach die Augen und überlass mir die Kontrolle!“
Ich überlege ernsthaft den Vorschlag anzunehmen, aber ich weiß ja nicht einmal ob ich dieser Stimme vertrauen kann. Und bisher wurde ich von diesem übernatürlichem Kram nicht gerade positiv überrascht.
Aber die Stimme hat recht, dieser Man ist ein Mörder und er wird nicht zögern mich zu töten.
Also schließe ich die Augen. Mir wird schwindelig und ich spüre wie ich mich verwandle. Ein merkwürdiges Gefühl.
Wird das jetzt jedes Mal passieren, wenn ich mich verwandle?
„Nein, nur wenn ich es will. Ich werde dir nachher erklären was los ist, aber jetzt sichere ich erst einmal unser überleben.“
Mir wird schwarz vor Augen und ich sehe nichts mehr.
Ich spüre aber, wie mir Flügel wachsen und ich kann spüren, dass ich mich bewege. Aber ich habe keine Kontrolle mehr. Es fühlt sich an, als würde ich schweben.
Zudem höre ich, wie die beiden Killer erschrocken die Luft einziehen und wie die Frau ruft:
„Oh mein Gott, was ist das denn jetzt?!“
„Dein schlimmster Albtraum!“
Ach du meine Scheiße, habe das gerade ich gesagt?
Nein, aber es war eindeutig meine Stimme.
Ich höre Schreie und ich kann mir denken, was da gerade passiert.
Und als ich die Augen wieder öffnen kann, kann ich es auch sehen.
Ich bin zwar noch in meinem Körper, aber er gehorcht mir nicht.
Ich schwebe in der Luft und halte die Frau mit beiden Händen fest in der Luft.
Noch bevor ich überhaupt reagieren kann, lasse ich sie fallen.
Sie schlägt auf dem Boden auf.
Sie ist tot.
Neben ihr liegt der Man, ebenfalls tot. Um ihn herum hat sich schon eine riesige Lache gebildet.
Ich kann nicht glauben, dass ich das getan habe.
„Mach dir darüber keine Gedanken, das warst nicht du, das war ich. Also gib dir nicht die Schuld.“
Ich verstehe gar nichts mehr. Was um Himmelswillen ist hier los?
Noch bevor ich etwas sagen oder fragen kann, hören wir hinter uns Applaus.
Bevor ich nachschauen kann wird die Stimme in meinem Kopf leiser:
„Ich werde mich jetzt erst einmal zurückziehen. Du kannst dich jetzt auch so in einen Engel verwandeln, aber wenn du in Gefahr bist, ruf mich einfach und ich werde kommen.“
„Aber was bist du?“
Doch sie antwortet nicht mehr und bevor ich weiß wie mir geschieht fliege ich selbst in der Luft. Ein merkwürdiges Gefühl, aber gleichzeitig auch wunderschön.
Ich habe meinen Körper zurück.
Ich lande und drehe mich in Richtung Applaus um.
Vor mir steht, wie befürchtet, mein Stiefvater.
Neben ihm steht ein Mädchen, es klammert sich an ihm fest und er lächelt mich an.
Er sieht aus wie in meiner Erinnerung, als wäre er kein Stück gealtert.
Er hat kurze braune Haare und eine Brille, ist ziemlich groß und schlank.
Wie ich ihn hasse.
Das Mädchen neben ihn ist anscheinend auch ein Engel, denn sie hat Flügel.
Aber komischer weise ist einer ihrer Flügel aus Eisen. Der Andere sieht normal aus.
Aber etwas stimmt an diesem Bild nicht. Ihr Blick ist seltsam leer, so als wäre sie nur eine Puppe und das gefällt mir nicht. Sie sieht mich kurz an und läuft dann eilig davon.
„Mein kleiner, süßer Engel, kommst du endlich zu deinem Papa zurück? Womit verdiene ich diese Ehre? Wie lange glaubst du, habe ich auf diesen Tag gewartet! All das hier habe ich extra nur für dich gemacht. Dir ein neues Zuhause geschaffen, in dem zu in ruhe leben kannst.
Ist das nicht wundervoll meine Kleine?“
Ich schnaube. Das konnte nicht sein ernst sein. Er lässt mich im Irrenhaus versauern und tötet meine Mutter und danach hetzt er auch noch Mörder auf mich. Und jetzt tut er so, als wäre alles gut? Als wäre ich eine verschollene Tochter, die endlich nach Hause gekommen ist?
Ohne es wirklich zu wollen frage ich:
„Warum? Warum hast du das alles getan? Warum musst du mir so etwas antun?!“
Er lächelt mich weiterhin an und sagt:
„Willst du das wirklich wissen? Willst du wirklich wissen, was passiert ist? Nein, dafür haben wir heute keine Zeit. Unser erstes richtiges Treffen nach so langer Zeit sollte doch etwas erfreulicher sein oder? Ich will dir etwas anderes zeigen!
Du willst doch bestimmt wissen woran ich die ganze Zeit arbeite, oder?“
Ich atme einmal tief durch, um gegen den Drang anzukämpfen, ihm eine runter zu hauen.
Wenn er mir schon nicht alles erzählt, dann höre ich mir einfach an, was er vorhat. Jede Information könnte mir später helfen.
Also nicke ich.
Meine Hände sind jedoch zu Fäusten geballt. Bereit zuzuschlagen.
„Ich werde es dir erzählen, aber nur, wenn du dich zuerst zurück verwandelst. Das ist meine einzige Bedingung.“
Er hält abwehrend die Hände in die Luft und schaut mich neugierig an.
Ich weiß nicht, ob ich ihm trauen kann, aber was für eine Wahl habe ich denn?
Keine.
Es ist unangenehm mich zurück zu verwandeln.
Als sich meine Flügel in meinen Körper zurück ziehen fühlt es sich an, als würde ich von innen Platzen.
Einfach schrecklich.
Als meine Flügel weg sind, nickt mein Stiefvater zufrieden und fängt an zu erzählen:
„Als ich deine Mutter das erste mal traf, wusste ich sofort, das sie etwas Besonderes war. Sie war auch ein Engel musst du wissen. Vielleicht sogar einer der Ersten. Leider wusste sie es nicht. Zumindest am Anfang nicht, oder sie wollte es nicht wahr haben.
Ich traf sie das erste mal fünf Jahre, bevor du überhaupt geboren wurdest.
Damals war sie noch nicht mit deinem Vater verheiratet, aber sie planten bereits zu heiraten.
Ich freundete mich mit deiner Mutter an und gewann so ihr Vertrauen.
Eigentlich wollte ich nur an sie heran, weil sie ein Engel war.
Ich brauchte ihre DNS. Ich forschte nämlich zu der Zeit daran eine Art höhere Rasse zu schaffen, aber es wollte mir nicht so recht gelingen. Immer wieder scheiterte ich in der letzten Phase und ich war mir sicher, dass sie mir helfen konnte.
Ich wusste, das ihr Blut die Lösung war. Das einzige Problem war nur, das sie es mir nicht geben wollte.
Also wartete ich. Ich wartete bis sich eine Gelegenheit bot. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis du geboren wurdest. Ich wusste nicht, ob sie ihre Fähigkeiten an dich weitergeben würde, aber einen Versuch war es wert.
Als du dann geboren warst und ich sicher sein konnte, das du auch ein Engel bist, habe ich versucht, mich mehr in das Leben deiner Eltern zu integrieren. Als dein Vater dann krank wurde und starb, packte ich die Gelegenheit am Schopfe. Als deine Mutter erfuhr das er tot war, ging ich zu ihr um sie zu trösten, um für sie da zu sein. Und gewann so mit der Zeit ihr Herz.
Nach zwei Jahren heiratete ich sie dann, du warst gerade erst 3 Jahre alt.
Die ganze Zeit habe ich dich beobachtet, dich studiert, wie du älter wurdest und ihr immer ähnlicher sahst. Ich kam nicht umhin wirklich Gefühle für euch zu entwickeln, weißt du. Ob du es mir glaubst oder nicht. Ich habe dich wirklich lieb gewonnen, so als wärst du meine eigene Tochter. Und das hat sich bis heute nicht geändert. Ich will nach wie vor nur das Beste für dich. Für einen kurzen Moment vergaß ich sogar meine Forschung. Bis zu den Abend, wo du verschwandst.“
Als er nicht weiter spricht sondern nur auf den Fußboden schaut, werde ich langsam nervös.
„Wann war das? Was war passiert?“
Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals verschwunden zu sein. Und auch meine Mutter hatte nie etwas in die Richtung erwähnt.
Er schaut schnell hoch, anscheinend war er tief in Gedanken versunken gewesen.
Er sieht mir in die Augen und flüstert:
„Du warst wie eine Tochter. Aber als wir dich an diesen schicksalhaften Abend fanden, wusste ich, dass ich mit meinen Forschungen fortfahren musste.
Aber ich setzte mir eine neues Ziel. Mir wurde klar, dass eure DNA, so wie sie war, mehr Fluch als Segen darstellte.
Deine Mutter und ich fanden dich erst nach mehreren Stunden. Wir hatten schon die ganze Nachbarschaft abgesucht, als du auf einmal einfach so vor unserem Haus auf der Straße standst. Wir wussten nicht wo du gewesen bist und du wolltest es uns auch nicht sagen. Aber anscheinend warst du auf einem Sonnenblumenfeld, denn du hattest eine Sonnenblume bei dir. Als wir dich sahen rannten wir zu dir. Im ersten Moment waren wir einfach nur froh, dass du wieder da warst. Aber im nächsten Moment wurden wir unglaublich sauer auf dich. Als wir lauter wurden und deine Mutter dich zwingen wollte uns zu erzählen, was passiert war geschah etwas seltsames mit dir.
Zum ersten mal sahen wir, wie du dich in einen Engel verwandelt hast.
Wir waren im ersten Moment wie verzaubert. Aber schnell bemerkten wir, dass du deine Kräfte nicht kontrollieren konntest.
Also fasste ich den Entschluss dir zu helfen. Ich musste lernen, wie ich die Macht des Engels in dir komprimieren und unterdrücken konnte.
All die Engel die du hier und überall siehst, sind allein durch dein Blut und meine Hand geschaffen worden.
Die Forschung und die Experimente mit ihnen helfen mir deine Kraft unter Kontrolle zu halten. Ich schlug deiner Mutter vor dich von anderen Menschen zu isolieren, aber sie wollte es nicht. Sie wusste, wie sehr du darunter leiden würdest und wollte, dass ich dir ein normales Leben ermögliche. Es war schwer und dauerte Jahre, bis ich mit der Hilfe deiner Mutter eine Möglichkeit fand dir zu helfen.
Wir bemerkten, dass alle anderen Engel auf eine merkwürdige Art mit dir verbunden waren und mit etwas Übung deine Kräfte umleiten konnten, um sie selber zu nutzen. Du warst nur noch eine Art Speicher und sie sorgten dafür, dass sich deine Macht nicht aufstaute.
Alles war gut, bis deine Mutter einen Unfall hatte. Erinnerst du dich? Sie kam von der Arbeit als ein Auto sie erwischte.“
„Du lügst! Was erzählst du da für einen Schrott! Ich erinnere mich an gar nichts davon! Meine Mom ist nicht durch einen Autounfall gestorben!“
Er sieht mich mit gerunzelter Stirn an. Ich höre ich nur leise flüstern: „Gar nichts?“
Nach einem kurzen Moment der Stille hebt er beschwichtigend die Hände.
„Du hast recht, sie ist nicht gestorben. Aber sie war sehr schwer verletzt und lag einige Zeit lang im Krankenhaus. Das muss etwa gewesen sein, als du 8 warst.“
Ungläubig schüttle ich den Kopf. Das musste alles eine Lüge sein. Er versucht mich zu beeinflussen. Wenn das alles war ist, dann müsste ich mich doch daran erinnern!
Mein Stiefvater spricht unbeirrt weiter: „Als wir deine Mutter das erste Mal besuchten war es schlicht unmöglich dich zu bändigen. Die Verletzungen deiner Mutter ließen dich die Kontrolle verlieren und selbst trotz des Abzweigens deiner Macht, konntest du noch genügend bündeln um Schaden anzurichten. Das Zimmer deiner Mutter fing Feuer und wir schafften es gerade noch rechtzeitig raus.
Danach bat mich deine Mutter dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passierte. Also nahm ich dich nicht mehr mit ins Krankenhaus und besuchte sie nur noch, wenn du in der Schule warst.
Deine Mutter ließ sich so schnell es ging entlassen und alles schien wieder in Ordnung zu sein.
Aber wir konnten sehen, dass du dich verändert hattest. Du wurdest ruhiger und ab und zu mustertest du uns mit deinem Blicken auf eine unbeschreibliche Art und Weise. Wir konnten uns dein Verhalten nicht mehr erklären und suchten nach irgendwelchen Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte. Aber es gab keine. Hätte es doch nur welche gegeben, dann hätte deine Mutter vielleicht nicht sterben müssen.“
Mein Kopf fängt furchtbar an zu schmerzen und für einen kurzen Moment befürchte ich das Bewusstsein zu verlieren. Ich schüttle mich einmal kräftig und die Kopfschmerzen vergehen für einen kurzen Moment.
Mein Stiefvater ist das jedoch nicht entgangen und er mustert mich kritisch.
„Geht es dir gut?“ Ich knirsche mit den Zähnen.
„Ist das dein Erst?! Natürlich geht es mir nicht gut! Jeder hier versucht mich zu töten und das nur deinetwegen! Und jetzt stehst du hier und erzählst mir von Dingen die nicht passiert sind! Was soll der Scheiß?!“
Ich kann sehen, wie es in seinem Kopf rattert. Nach einem kurzen Moment setzt er wieder an: „Weißt du Angel...“
„Magrit!“
Nein, das klingt falsch. Mein Name ist Angel und nicht Magrit. Was war nur los mit mir. Ich fasse mir an den Kopf als der Schmerz wieder einsetzt.
„Weißt du, die Vergangenheit ist Vergangenheit! Komm, ich wollte dir doch etwas zeigen.“ Mein Stiefvater deutet hinter sich und als ich mich auf ihn zu bewegen will, wird mir wieder schwindelig.
„Angel? Was ist los?“ Ich merke wie ich hin und her schwanke, mein Stiefvater lässt mich nicht aus den Augen. Warum? Warum sieht er mich so an? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich tatsächlich glauben, dass er sich Sorgen um mich macht.
Ich will noch etwas sagen, aber über meine Lippen kommt kein Ton.
Ich bekomme keine Luft mehr und mein Herz rast, als würde es ein Rennen gewinnen wollen.
Mein Stiefvater scheint etwas zu sagen, aber ich kann ihn nicht mehr hören, ich spüre wie ich falle.
Kurz darauf erscheint die Schwester über mir. Auch sie scheint besorgt zu sein.
Merkwürdig irgendwie werde ich ganz ruhig. Fühlt es sich so an zu sterben? Aber warum? Habe ich die Kämpfe und den ganzen Scheiß nur überlebt um jetzt an Kopfscherzen zu verrecken? Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein.
Mir wird kalt, und schnell gleite ich wieder in die Dunkelheit.