Manchmal lässt unsere Fantasie uns Dinge sehen, die das Herz mit ganzer Kraft herbeiwünscht. Auch wenn der Verstand eigentlich weiß, dass es nicht sein kann.
HINTER DEM FENSTER
„Sie müssen jetzt sehr stark sein…“
Wie durch einen Nebel sah ich die beiden Polizisten an meiner Tür, und die Worte, die sie sprachen, erreichten zwar meine Ohren, aber der Sinn dessen, was sie mir sagen wollten, drang sie nicht zu mir durch. Es war, als ob sich in Sekundenschnelle ein Schutzmechanismus in meinem Kopf aktiviert hatte, der verhinderte, dass das, was sie mir mitzuteilen versuchten, in mein Bewusstsein gelangen konnte.
„Glasgow... Regennasse Straßen… ein Auto… überhöhte Geschwindigkeit… er hatte keine Chance… tödlich… tiefempfundenes Beileid…."
Ich starrte die Männer in Uniform vor mir an, als kämen sie aus einer anderen Welt. Sie wurden plötzlich immer kleiner und verschwanden schließlich in einer Wolke aus wohltuender Dunkelheit, die mich beschützend einhüllte.
Irgendwann gewahrte ich ein Licht, das die schützende Dunkelheit durchdrang und langsam größer wurde. Mühsam blinzelnd öffnete ich die Augen. Das gleißende Licht verschwand und stattdessen erschien das Gesicht eines fremden jungen Mannes, der sich lächelnd über mich beugte.
„Ah, da sind Sie ja wieder. Sie haben uns ganz schön erschreckt“, sagte er und legte die Taschenlampe weg, mit deren Hilfe er anscheinend versucht hatte, in meine Augen zu leuchten, um meinen Bewusstseinszustand zu erkennen.
„Was… Wer… Wo bin ich?“, flüsterte ich mit heißerer Stimme und versuchte mich aufzurichten.
„Bitte bleiben Sie noch einen Moment liegen“, erwiderte der junge Mann und zwang mich mit sanftem Druck zurück in die Kissen. „Ich bin Dr. MacNeil. Sie sind zu Hause und hatten einen Kreislaufzusammenbruch.“
„Einen…was? Aber… wieso?“
„Sie haben eine schlimme Nachricht erhalten. Erinnern Sie sich an die beiden Polizisten?“
„Ja... ich weiß nicht… sie haben gesagt…“ Plötzlich traf mich die Erkenntnis wie ein Hammerschlag. „Ist es wahr? Ist er…“ Ich wagte das Wort nicht auszusprechen. Dieses eine Wort, das so schrecklich endgültig war.
Der Arzt nickte stumm und ergriff mitfühlend meine Hand. „Ihr Verlobter hatte keine Chance. Die Straße war nass und der Fahrer des Wagens zu schnell. Er konnte nicht mehr bremsen.“
Ich starrte ihn fassungslos an und hatte Mühe, seine Worte überhaupt zu verstehen. Doch nach und nach sortierte sich das Puzzle aus Worten in meinem Kopf zu einem Ganzen und dann hörte ich plötzlich einen qualvollen Schrei. Bevor ich erneut das Bewusstsein verlor, begriff ich noch, dass es mein eigener war.
Ich erwachte mit grässlichen Kopfschmerzen im Krankenhaus. Die Ärzte und Schwestern bemühten sich liebevoll um mich, aber ich war unempfänglich für jegliche Gefühlsregung. Stumm starrte ich vor mich hin, und wenn ich allein war, liefen mir unablässig Tränen über die Wangen. Ich empfand keinen Hunger, keinen Durst, nur Schmerz und Einsamkeit und die hoffnungslose Frage nach dem Warum…
Dr. MacNeil sah mehrmals am Tag nach mir, doch ich redete mir ein, dass auch er nur seine Pflicht erfüllte und ihm, genau wie allen anderen, mein Schicksal egal war. Weder er, noch meine Familie oder meine Freunde und Kollegen konnten auch nur im Ansatz ahnen, wie ich mich fühlte.
Nach ein paar Tagen durfte ich nach Hause. Ich zog mich in meine Wohnung zurück, an jenen so vertrauten Ort, an dem ich deine Anwesenheit noch immer spüren konnte. Du warst in jedem Raum so präsent für mich, als würdest du im nächsten Augenblick das Zimmer betreten.
Aus dem Haus ging ich nur, wenn ich etwas zu essen brauchte. Alles andere war mir egal. Meine innere Uhr lief nach deiner Zeit. Stundenlang hockte ich auf dem Sofa und starrte apathisch auf die Tür, in der irrealen Hoffnung, endlich dieses vertraute Geräusch zu hören, wenn dein Schlüssel sich im Schloss drehen würde.
Nachts warf ich mich schlaflos herum und tastete immer wieder nach dem leeren Kopfkissen neben mir, um mich dann hilflos weinend auf die andere Seite zu drehen.
Ich hatte einen Job, der mir immer viel bedeutet hatte, doch ich konnte mir nicht vorstellen, einfach wieder hinzugehen und weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Ich war von einer Sekunde auf die andere zu einem emotionalen Wrack geworden.
Als würde er ahnen, was gerade in mir vorging, rief mich mein Boss aus der Kanzlei an und meinte mitfühlend, ich solle mir so viel Zeit mit der Trauerbewältigung lassen, wie ich brauchte.
Trauerbewältigung?
Ich konnte mir nicht einmal im Ansatz vorstellen, wie ich fortan ein Leben ohne dich bewältigen sollte.
Eines Abends klingelte es an der Wohnungstür. Ich schleppte mich zum Spion und lugte hindurch. Dieser Doktor stand draußen, wie hieß er noch? MacNeil. Was wollte der denn schon wieder? Mir ging es doch gut. Na ja, nicht wirklich, aber bei meinem Problem konnte mir kein Arzt helfen. Es sei denn, er würde mir dich wiederbringen.
Nein, ich wollte niemanden sehen. Sätze wie „Du darfst dich nicht aufgeben“, „Du musst gegen deinen Kummer ankämpfen“ oder „Er hätte nicht gewollt, dass du dich so quälst“ wollte ich nicht mehr hören. Woher zum Teufel glaubten sie zu wissen, was du gewollt hättest? Sie sollten mich alle in Ruhe lassen. Ich wollte allein sein und um dich weinen. Und ich wollte herausfinden, ob es überhaupt einen Sinn für mich machte, weiterzuleben, oder ob es einfacher wäre, dir zu folgen.
Als ich am nächsten Morgen die Tür öffnete, um mir im Laden um die Ecke etwas zu essen zu holen, fiel mir eine Broschüre vor die Füße, die jemand an den Türrahmen gesteckt hatte.
„In den schottischen Highlands Ruhe und inneren Frieden finden“ stand als Werbeslogan darauf. Ich fragte mich, wer die Broschüre wohl für mich hier hinterlegt hatte. Dieser Doktor vielleicht?
Zunächst legte ich sie achtlos beiseite, aber irgendwann nahm ich sie doch noch einmal zur Hand. Mit zunehmendem Interesse betrachtete ich die wunderschönen Fotos und las den Text, bis die Buchstaben vor meinen Augen verschwammen. Und plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte.
Am nächsten Tag packte ein paar warme Sachen zusammen, setzte mich in mein Auto und fuhr los.
Meine Fahrt führte mich mitten hinein in den wild-romantischen Norden Schottlands, vorbei an endlos sanften Hügeln, hohen Bergen, glitzernden Seen und dichten Wäldern. Bereits nach ein paar Stunden befand ich mich mitten in einer atemberaubenden und einmalig schönen Landschaft aus scheinbar unberührter Natur, deren besonderer Faszination ich mich trotz meiner traurigen Stimmung nicht ganz zu entziehen vermochte.
Es begann bereits zu dämmern und am Himmel zogen wilde Wolken, die im Schein der untergehenden Sonne ebenso schön wie bedrohlich wirkten, als ich von Glasgow aus nach fast dreieinhalb Stunden Fahrt das auf dem Prospekt verzeichnete Tal Glen Coe in den schottischen Highlands erreichte.
Mein Navi zeigte seit einigen Meilen aus unerfindlichen Gründen eine Störung an, und es war schon eine Weile her, seitdem ich die letzten Hinweisschilder auf den gleichnamigen Ort Glencoe am Straßenrand gesehen hatte. Die schmale Straße, die weiter nach Norden führte, lag verlassen vor mir und schien kein Ende nehmen zu wollen. Ich fuhr an mehreren einsam gelegenen Seen vorbei, sah die von weitem beeindruckenden steil aufragenden Bergrücken des Glen Coe-Tales und obwohl die überwiegend aus vulkanischem Gestein bestehende Landschaft hier in den Highlands atemberaubend schön war, hatte ich das Gefühl, am Ende der Welt gelandet zu sein. Trotzdem verspürte ich keinerlei innere Unruhe, und obwohl ich noch nie zuvor hier gewesen war, berührte mich dieser Ort irgendwie.
Nach einer gefühlten Ewigkeit entdeckte ich in der Ferne endlich ein einzelnes Cottage unweit des Ufers eines im Abendlicht der untergehenden Sonne verheißungsvoll glitzernden Sees.
Es war ein kleines, augenscheinlich sehr altes Haus, aus verwitterten Natursteinen gebaut und mit dunklem Schiefer gedeckt, was für die Gegend hier nicht untypisch war.
Das Cottage sah zwar nicht sehr einladend aus, aber aus irgendeinem Grund zog es mich wie magisch an.
Also hielt ich an und stieg aus. Sofort blies mir ein rauer, beißend kalter Wind ins Gesicht und nahm mir für einen Moment den Atem. Die über dem See bereits sehr tiefstehende glutrote Sonne wirkte wie ein ferner, fremder Planet und spendete um diese Jahreszeit keine Wärme.
Weit und breit war niemand zu sehen und ich hoffte, dass das Haus überhaupt noch bewohnt war. Als ich näherkam, entdeckte ich gleich neben der schweren Eichenholztür ein Schild mit der verblichenen Aufschrift „Zimmer frei“.
Das ließ mich hoffen.
Nein, besonders gastlich wirkte das Cottage auch auf den zweiten Blick nicht auf mich, aber das war mir egal. Ich war froh, vor Einbruch der Dunkelheit noch eine Bleibe für die Nacht gefunden zu haben und klopfte entschlossen an die Tür, doch nichts rührte sich. Nach zwei weiteren vergeblichen Klopfversuchen wendete ich mich schließlich enttäuscht ab und wollte schon zurück zum Wagen gehen, als ich aus dem Augenwinkel heraus an einem der oberen Fenster eine Bewegung wahrzunehmen glaubte.
Ich drehte mich um und erstarrte…