Wie vom Donner gerührt verharrte ich und wagte kaum zu atmen. Da war ein Schatten hinter der halbblinden Scheibe, blass, schemenhaft, doch als ich genauer hinsah, glaubte ich ganz deutlich ein Gesicht zu erkennen - dein Gesicht!
War das möglich?
Nein, das konnte nicht sein…
Mein Herz schlug wie wild in meiner Brust und nahm mir fast die Luft, während meine Beine unkontrolliert zitterten, als ich endlich wagte, erneut näher an das Cottage heranzugehen. Der helle Schatten hinter dem Fenster bewegte sich ebenfalls, hob langsam den Arm, als wolle er mich zu sich heranwinken. Und da war es, dieses Lächeln, so zärtlich, so vertraut, dein Lächeln! Atemlos starrte ich hinauf.
Wirklichkeit oder nur ein Trugbild meiner gepeinigten Seele?
Und plötzlich vermeinte ich im Säuseln des eisigen Windes ganz leise deine vertraute Stimme zu hören: „Gib nicht auf, ich bin noch bei dir!“
Ich stand wie erstarrt, doch bevor ich näher darüber nachdenken konnte, was ich hier vermutlich gerade gesehen und gehört hatte, öffnete sich die schwere Eingangstür und ein alter Mann mit schlohweißem Haar trat heraus. Er hatte breite Schultern, war von kräftiger, mittelgroßer Statur und trug verwaschene, ausgebeulte Jeans und ein großkariertes Baumwollhemd unter einer grobgestrickten dunklen Joppe, die ihn wohl vor der Kälte schützen sollte.
Erstaunt hob er die buschigen Augenbrauen und betrachtete mich mit einem kurzen abschätzenden Blick. Anscheinend erkannte er in mir sogleich die unerfahrene Touristin auf Zimmersuche und sein wettergegerbtes Gesicht verzog sich hinter dem kurzgestutzten weißen Vollbart zu einem freundlichen Lächeln. Für einen winzigen Augenblick erinnerte ich mich an meine Kindheit und daran, dass ich damals immer darüber nachgegrübelt hatte, wohin Santa Claus wohl nach dem Fest verschwand. Vielleicht war ja hier dieser Ort?
„Herzlich willkommen! Suchst du eine Bleibe für die Nacht?“, holte mich der Alte mit seiner überraschend angenehm klingenden dunklen Stimme aus meinen Gedanken.
Ich zitterte noch immer wegen der Erscheinung hinter dem Fenster wie Espenlaub, schluckte und konnte nur stumm nicken. Er sah mich an und nickte mitfühlend. Vermutlich deutete er mein Verhalten falsch und glaubte, mir wäre kalt.
„Dann komm schnell herein, hier draußen ist es um diese Zeit wirklich eisig. Drinnen brennt ein Feuer im Kamin, da ist es schön warm.“
Mit wackligen Knien folgte ich ihm ins Haus. Wohlige Wärme schlug mir entgegen, als ich die kleine gemütliche Stube betrat, in der sich Santa Claus wahrscheinlich sehr wohl gefühlt hätte.
„Hier kannst du dich erst einmal aufwärmen“, sagte der Alte und deutete auf den Schaukelstuhl am Kamin. „Der Winter in den Highlands wird von den Touristen oft unterschätzt. Wenn die Sonne untergegangen ist und die Nacht hereinbricht, wird es hier draußen richtig ungemütlich.“
„Sie… haben ein…“ Meine Stimme gehorchte mir noch immer nicht richtig. „Haben Sie noch ein Zimmer frei? Kann ich hier übernachten?“
Wieder lachte der Alte freundlich.
„Natürlich kannst du bleiben. Ich habe nicht allzu oft Gäste in meinem Haus. Aber bitte sag Donald zu mir. In dieser Gegend legen wir nicht so viel Wert auf Förmlichkeiten.“
„Donald“, wiederholte ich und nickte erleichtert.
„Oben ist ein kleines Zimmer für Gäste, mit einem angrenzenden Bad, dass ich vor drei Jahren eingebaut habe, nachdem meine Frau verstorben war. Es ist nicht sehr vornehm, aber es erfüllt seinen Zweck.“
Ich dachte an das, was ich draußen hinter dem Fenster gesehen hatte und wollte unbedingt Gewissheit.
„Darf ich es sehen?“
„Aber natürlich. Komm mit nach oben, ich zeige es dir.“
Er ging voran und ich folgte ihm mit will klopfendem Herzen die alte Holztreppe hinauf.
„Mein Sohn wohnte hier oben. Es war sein Reich, bis…“ Er brach ab und öffnete die Tür zu dem kleinen Zimmer mit der holzvertäfelten Dachschräge.
Atemlos trat ich ein und blickte mich um. Abgesehen von einem Bett, einem Schrank, sowie einem kleinen Tisch mit Sessel war das Zimmer leer. Da war niemand. Niemand, der am Fenster stand und auf mich wartete.
Enttäuscht wandte ich mich um und atmete tief durch, um mich innerlich zu beruhigen.
„Vielen Dank. Es ist wirklich sehr gemütlich hier.“
Mein Gastgeber nickte nachdenklich.
„Er hat es geliebt, hier oben am Fenster zu stehen und hinunter ins Tal zu sehen.“
„Wer?“, fragte ich irritiert.
„Mein Sohn“, erzählte der Alte und mir schien, als würde die Erinnerung sein von unzähligen feinen Fältchen durchzogenes freundliches Gesicht überschatten. „Aber das ist lange her.“
„Was ist aus ihm geworden?“
„Er ging fort, um in Glasgow einmal die Großstadt zu sehen. Es war auf den Monat genau vor elf Jahren, als sie herkamen und mir sagten, dass es einen Unfall gegeben hatte und er nie wieder nach Hause zurückkommen würde.“
Ich starrte ihn aus brennenden Augen an.
„Das… tut mir leid…“ hörte ich mich wie aus weiter Ferne sagen.
„Es ist lange her“, erwiderte der Mann mit rauer Stimme und räusperte sich, als wolle er damit die traurigen Erinnerungen verjagen. „Komm mit nach unten, meine Liebe. Du musst hungrig sein nach der langen Fahrt. Ich habe gerade Abendessen gemacht, das reicht gut für zwei.“
Ich sah mich noch einmal suchend in dem kleinen Zimmer um und folgte ihm dann wortlos.
Was ich vorhin gesehen und soeben gehört hatte, das hatte mich tief erschüttert. War das mehr als ein Zufall? Hatte irgendein geheimnisvolles Schicksal mich hierhergeführt?
Ich konnte es nicht erklären.
In der folgenden Nacht träumte ich von dir. Ich sah dich hinter dem Fenster und du winktest mir wieder zu. Ich wollte zu dir laufen, doch ich vermochte mich nicht von der Stelle zu rühren. Nach und nach verblasste dein Bild hinter der halbblinden Scheibe. Du wandtest dich ab und warst wieder verschwunden, Ich wachte mit wild klopfendem Herzen und tränennassem Gesicht auf und starrte in die Dunkelheit.