Am nächsten Morgen war der Alte nicht da. Neben einem liebevoll zubereiteten reichhaltigen Frühstück lag ein Zettel auf dem rustikalen Holztisch: „Bin gegen Mittag zurück. Geh nicht zu weit weg, es ist sehr kalt und windig.“
Ich hatte mich warm angezogen und wanderte den ganzen Tag, der Kälte und dem Wind trotzend. Es tat mir gut, mich auszupowern. Auf diese Art hoffte ich nicht dauernd nachdenken zu müssen. Stattdessen wollte ich die einmalige Schönheit der Natur in den Highlands auf mich wirken lassen. Doch meine Gedanken schweiften immer wieder ab und ich ertappte mich ständig bei dem Gedanken, wie ich mir mit aller Kraft wünschte, du wärst jetzt hier, bei mir. Ich wünschte es mir so sehr, dass die Erinnerung an dich meinen Brustkorb zusammenzuschnüren schien und mir das Atmen erschwerte. Wie von einer unsichtbaren Kraft gehetzt lief ich immer weiter, trotzte der Kälte und schien den eisigen Wind irgendwann gar nicht mehr zu spüren.
Erst in der Abenddämmerung kehrte ich durchgefroren und frustriert zum Cottage zurück.
Der Alte hantierte in der Küche herum und nickte mir zu, als ich die Stube betrat.
„Setz dich“, sagte er. „Ich habe uns ein kräftiges Stew bereitet.“
Im Kamin brannte das Feuer und die Wärme der vor sich hin tanzenden Flammen hüllte mich wohltuend ein.
Kurz darauf schlurfte mein Gastgeber mit zwei Tellern herein und stellte einen davon vor mir ab. Ein köstlicher Duft stieg mir in die Nase, aber ich verspürte keinen Hunger.
„Iss“, forderte er mich auf und nahm mir gegenüber Platz. „Du brauchst Kraft.“
„Wofür?“, fragte ich sarkastisch.
„Um zu leben.“
Erstaunt blickte ich auf, doch er nickte nur wissend.
„Du hast jemanden verloren und weißt noch nicht, wie du damit umgehen sollst. Gib dir Zeit. Zeit ist die einzige Medizin, die dir helfen wird. Zeit und der Glaube an dich selbst.“ Er nickte mir freundlich, aber bestimmt zu. „Und jetzt iss.“
Ich starrte erst ihn, dann das Essen vor mir an. Woher wusste er, was mich bedrückte? Ich hatte ihm bisher nichts von mir erzählt. Aber anstatt weiter darüber nachzugrübeln griff ich mechanisch nach dem Löffel und der Scheibe Brot, die neben dem Teller lag. Wie im Trance aß ich, bis der Teller leer war.
„Es war gut“, lobte ich seine Kochkünste, nachdem ich den Tisch abgeräumt hatte.
„Das Rezept ist von meiner Frau“, verriet er blinzelnd. „Sie hat das oft für uns gekocht. Jedes Mal, wenn ich es esse, ist sie mir nah.“
Seine Worte brannten in meiner Seele. Wann würdest du mir nicht nah sein? Mit jedem einzelnen Atemzug dachte ich an dich, und es tat so unsagbar weh, allein zu sein.
Würde das jemals aufhören?
„Soll ich uns einen Tee aufgießen?“, hörte ich mich fragen.
Er nickte.
„Ja, gern. Schau in den Schrank über der Spüle, da findest du alles.“
Als ich mit zwei Tassen zurück in die Stube kam, legte er gerade ein paar Scheite Holz in den Kamin und setzte sich in den uralten Sessel, der zu ihm passte, als sei er eigens für ihn gemacht. Alt, eingesessen, der Stoff verblichen und an manchen Stellen verschlissen, aber das Grundmaterial aus stabilem und wertvollem Holz.
„Setz dich zu mir an den Kamin, dann wird dir schnell warm“, forderte er mich auf.
Ich ließ mich wieder in dem gemütlichen Schaukelstuhl nieder und umfasste die Tasse mit dem dampfenden Inhalt mit meinen Händen.
So saßen wir beide eine Weile und starrten gedankenverloren ins Feuer.
Mein Herz lag bleischwer in meiner Brust. Ich dachte an dich, an den Schatten hinter dem Fenster, den ich bei meiner Ankunft hinter dem Fenster gesehen hatte und fragte mich zum hundertsten Mal, ob diese Erscheinung nur das Wunschdenken meiner überreizten Gedanken gewesen war, oder ob ich wirklich dein Gesicht da oben gesehen hatte. Konnte es sein? Heute hatte ich den ganzen Tag über vergeblich nach irgendeiner Verbindung zu dir gesucht.
Wunder geschehen… Aber gab es denn überhaupt Wunder? Oder existierten sie nur in unsere Einbildung?
Ich vermisste dich so schmerzlich, so intensiv, dass es körperlich wehtat.
„Unser Leben ist wie ein Buch“, begann der Alte plötzlich leise zu erzählen. „Es gliedert sich in viele verschiedene Kapitel. Das Kapitel der Lebensfreude beispielsweise, das Kapitel der Liebe, des Lernens, der Kindheit, der Freundschaft, um nur einige davon zu nennen.
Natürlich wird es auch immer Kapitel geben, die dir wertlos erscheinen, und die du getrost überblättern kannst. Aber die meisten sind wichtig, um den roten Faden des Lebens nicht zu verlieren. Den Weg, den du gehen musst, um dich nicht zu verlieren. Doch es braucht Mut, Stärke und Zuversicht, um all diese Kapitel zu lesen, denn sie sind nicht immer leicht zu verstehen. Wenn du dich jedoch darauf einlässt, wirst du stets wissen, wie es für dich weitergeht. Dann wird es für dich immer ein Morgen geben.“
„Ich sehe kein Morgen für mich“, sagte ich leise. „Er war mein Leben.“
„Das ist nicht ganz richtig“, erwiderte mein Gastgeber. „Es ist dein Leben. Er war lediglich der wichtigste Mensch darin.“
Ich widersprach ihm nicht. Irgendwie fehlte mir die Kraft.
„Erzähl mir von ihm“, forderte er mich auf, doch ich schüttelte nur stumm den Kopf.
Ich konnte nicht von dir erzählen, ohne dabei in Tränen auszubrechen.
Er nickte und trank einen Schluck von dem dampfenden Tee. Dann begann er zu erzählen, von jener schicksalhaften Nacht, als er seinen einzigen Sohn auf die gleiche Art verloren hatte, wie ich dich.
Ich hörte ihm zu und seine Stimme versetzte mich in eine merkwürdige Stimmung.
Irgendwie fühlte ich mich wie parallelisiert. Zutiefst traurig, aber zugleich auch voller Mitgefühl für den Alten, der so wie ich das Liebste auf der Welt für immer verloren hatte.
„Genau wie bei ihm. Genauso ist es passiert“, hörte ich mich mit tränenerstickter Stimme flüstern. „Donald, bitte sag mir ehrlich, was hast du getan, um dieses Unglück zu überleben?“
„Ich spürte Wut, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit“, erwiderte er und ein bitterer Zug umspielte kurz seine Lippen. „Weißt du, Kinder sollten niemals vor ihren Eltern gehen müssen. Niemals! Und doch geschieht es… Ich verfluchte das Schicksal und wollte aufgeben, weil ich keinen Sinn mehr in meinem Leben fand. Ich schloss die Tür hinter mir und machte mich auf den Weg zum See. Ein letztes Mal drehte ich mich um, und da sah ich plötzlich sein Gesicht am Fenster. Er winkte mir zu, als wollte er sagen: „Gib nicht auf, ich bin noch bei dir!“
Ich starrte ihn fassungslos an, denn ich hatte ihm bisher nichts davon erzählt, dass ich fest überzeugt davon war, nach meiner Ankunft hier dein Gesicht da oben gesehen und genau diese Worte von dir gehört zu haben.
„Ich glaube, wir sind so etwas wie Seelenverwandte“, sagte ich leise, nachdem ich mich wieder einigermaßen gefasst hatte.
Erstaunt hob er den Kopf und sah mich seltsam an.
„Seelenverwandte?“
„Wir haben beide einen geliebten Menschen verloren“, beeilte ich mich zu sagen. „Du sogar zwei.“
„Nun ja, aber da gibt es einen entscheidenden Unterschied. Ich bin alt, ich habe mein Leben gelebt und blicke trotz allem voller Zufriedenheit darauf zurück. Du dagegen hast dein Leben noch vor dir, du wirst noch viele Kapitel lesen und viel Schönes erfahren, bis du später einmal, so wie ich, in Liebe und Dankbarkeit zurückschauen kannst.“
„Dankbarkeit? Wofür?“, schnaufte ich entrüstet. „Dafür, dass man ihn mir genommen hat?“
„Nein. Dankbarkeit für die Zeit, die ihr zusammen hattet. Die Erinnerung daran kann dir keiner nehmen.“
Ich ließ seine Worte in mir nachklingen, doch irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass mein Leben irgendwann wieder normal werden würde. Weiterleben… es klang so einfach und war doch so unsagbar schwer.
„Also hast du es getan“, sagte ich schließlich leise. „Du hast dein Leben weitergelebt.“
Er seufzte.
„Ja, das habe ich. Irgendwie habe ich mich durchgekämpft, durch die dunkelsten Kapitel meines Lebens bis hin zum Licht. Und er war da und hat auf mich gewartet…“ Er klopfte mit der Faust auf seine Brust. „Hier drin, tief in meinem Herzen, da habe ich ihn wiedergefunden. Und dort ist er immer noch, jede Minute. Zusammen mit seiner Mutter, die vor drei Jahren von mir ging. Ich kann ihre Nähe noch immer fühlen.“ Er räusperte sich, als müsse er erst den Kloß loswerden, der sich in seiner Kehle gebildet hatte, bevor er weitersprach. Voller Güte blickte er mir in die Augen. „Bleib solange, bis du ihn genauso fühlst. Dann ist er für immer bei dir, und du kannst das nächste Kapitel in deinem Leben aufschlagen.“