Rating: P12 [CN: Tod]
Nach dem Prompt „Echte Karettschildkröte / tierische Rangergeschichten“ der Gruppe „Crikey!“
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Nachdenklich fuhr Kokea aus dem Schlaf. Die körperlose Stimme hallte noch in ihm nach.
"Suche den Falken der See und rette ihn. Beim Licht des dritten Tages. Gehe nach Süden."
"Du hast eine Botschaft der Götter erhalten", sagte seine Mutter mit einer bittersüßen Mischung aus Stolz und Trauer, als er ihr davon berichtete. Sie fürchtete sich davor, ihren jungen Sohn ziehen zu lassen, doch sie wusste, dass man sich des Rufs nicht verwehren durfte.
In dem Haus aus Bast, das sie bewohnten, lebten noch zwei weitere Familien. Sie alle verabschiedeten Kokea liebevoll und gaben ihm ihre Brote mit auf die Reise. So ging der Junge los, und dreimal sah er die Sonne auf- und untergehen.
Am Abend des zweiten Tags seiner Reise gen Süden stieß er auf das Meer, das gegen den Strand brandete. Draußen, auf den Wellen, erhob sich ein Atoll. Der Junge zögerte, doch den Falken der See konnte man wohl kaum auf dem Festland finden.
In jener Nacht träumte er wieder vom Falken der See. Diesmal hörte er jedoch auch die Stimme seines Großvaters. Dieser hatte Kokea oft von der alten, vergessenen Zeit erzählt, als die Hobbits noch das Meer befahren hatten, und von den Canoa, die sie errichtet hatten.
Also ging er am Morgen des dritten Tages in den nahen Wald, fällte eine Palme, die ihm geeignet erschien, und begann, nach den alten Lehren ein Kanu zu schnitzen. Als dieses fertig war, schob er es ins Meer und paddelte mit den Händen herüber zum Atoll, und tatsächlich sank sein Kanu nicht. So erreichte Kokea den Ring aus sandigen Inseln, auf dem sich nur einige wenige Bäume erhoben. Sobald er das Kanu an Land gezogen hatte, vernahm er auf einmal außer dem Rauschen der Wellen noch eine fremde Stimme.
"So bist du gekommen, Kokea."
"Wer bist du?", fragte er leise.
"Man nennt mich Imua. Ich bin der Maketi dieses Landes."
"Ein Maketi!", flüsterte Kokea beeindruckt. Von diesen mächtigen Wächtern wusste er ebenfalls. Sie waren Cemies, unsichtbare Geister, die im Land, in den Pflanzen und Steinen lebten. Neugierig sah er sich um. War es jene große Palme dort, die sprach? Oder der Findling?
"Versuche nicht, mich zu finden, Kind, denn die Zeit drängt. Ich habe keinen Matene hier, der mein Werk verrichten kann. Der letzte starb ohne Schüler, nun brauche ich dich. Kokea, ich bitte dich, zum Beschützer dieses Atolls zu werden."
Ein Schauer überlief den Jungen. Kokea hatte oft davon geträumt, ein Matene zu sein. Wer wünschte sich nicht, ein Waldläufer zu sein, gebunden an ein Gebiet Wildnis, in dem sie wie Könige herrschten, das ihrer Verantwortung unterlag. Diese geheimnisvollen Kämpfer, ungesehen, aber allessehend, die ihr Reich kannten wie die Linien ihrer Hand und es vor jedem Übel beschützten.
Imuas Atoll, freilich, war etwas anderes als die riesigen Bergketten, die Vulkane oder Wälder oder Wiesenlandschaften, welche die großen Matene beherrschten. Es gab hier kaum genug Pflanzen für ein Feuer, und sicherlich nicht viele Tiere, die Kokea zu beschützen hätte. Doch der Junge dachte nicht einen Moment daran, die Bitte wegen solcher Überlegungen abzulehnen. Imua benötigte seine Hilfe, was nur bedeuten konnte, dass etwas dieses Atoll bedrohte.
Also nickte Kokea. "Ich werde dir helfen, Imua." Und ein Prickeln lief über seine sandige Haut, weil er sich mit Leib und Seele an diesen Ort und seinen Maketi band. Kokea schluckte. "Ich werde nie wieder heimkehren, oder?"
"Du wirst deine Familie besuchen dürfen", antwortete Imua jedoch. "Ich weiß sehr wohl, dass du zu jung bist, um die volle Verantwortung eines Matene zu tragen. Noch soll die Fessel dich nicht allzu schmerzhaft binden. Doch ich brauche dich jetzt."
"Der Falke der See", erwiderte Kokea, der seinen Auftrag nicht vergessen hatte. "Was ist er? Wo finde ich ihn?"
"Gehe nach Süden", sagte Imua wie zuvor.
Also trat Kokea über Sand und durch seichtes Wasser bis zum sonnennächsten Punkt des Atolls. Dort, zwischen angespülten Algen und Muscheln, bemerkte er auf einmal Bewegung im Sand. Er ging in die Hocke, bis sein Schatten über die Grube fiel, die sich da am Strand auftat.
"Schirme sie vor den Vögeln, auf dass sie das Meer erreichen", wies Imua ihn an. "Sie sind einige der letzten ihrer Art und ohne deine Hilfe, so fürchte ich, wäre ihr Schicksal besiegelt."
Vorsichtig strich Kokea den Sand beiseite. Darunter kamen, wie runde Steine, kleine Eier zum Vorschein. Nur wenig größer als Vogeleier waren sie, nahezu rund und weiß wie Austernperlen. Die Bewegung stammte jedoch von jenen Tieren, die bereits geschlüpft waren: Schildkröten, so groß wie Kokeas vorderer Zeh, mit goldenem und feuerrotem Muster. Gerade, als er zusah, klaffte ein weiterer Riss in einem Ei aus, und heraus schob sich ein schlanker Kopf mit einem Maul, das wie ein Falkenschnabel geformt war. Die Schildkröte, noch verklebt vom Eiweiß, blinzelte in das Licht einer neuen Sonne.
Imua hatte recht: Unzählige Seevögel kreisten am Strand. Würden sie das Nest entdecken, wären die Schildkröten für sie eine leichte Beute. Und wenngleich dies der Lauf der Welt war, so gab es nur wenige Schildkröten und reichlich anderes Essen für die Möwen. Kokea stand auf, warf seinen Schatten über die Schildkröten und bewachte sie, während eine nach der anderen zum Strand kroch, als würde das Meer sie rufen. Und eine nach der anderen wurde von einer Welle erfasst, blitzte auf wie ein Funke in der Nacht und ward bald zu nicht mehr als einem Schimmer in der See, wo sie zwischen Korallen und Felsenriffen geschützt wäre.
Sie stürzten herab wie ein Falke im Sturzflug, schlugen ihre Vorderflossen wie Schwingen, und die Schuppen darauf waren gesprenkelt wie das Gefieder eines Raubvogels. Nun begriff Kokea, was mit dem 'Falken der See' gemeint war, und er freute sich, diesem magischen Vogel begegnet zu sein.
Als es kühler wurde und die Sonne sank, waren nur noch wenige Eier übrig, deren Schalen noch nicht durchbrochen worden waren. Kokea klopfte mit dem Nagel gegen diese, um sie zu ermutigen, doch Imoa rief ihn zurück.
"Wenn sie nicht die Kraft haben, ihre Eier zu verlassen, werden sie auch da draußen nicht überleben. Lass sie den Vögeln als Pfad dafür, dass sie warteten und hungerten."
"Dann werden sie sterben?"
"Es ist das Schicksal eines jeden Wesens, eines Tages von dieser Welt zu gehen. Trauere ruhig um sie, mein Junge, doch wisse, dass du ihnen nicht helfen kannst. Und freue dich an jenen, die du gerettet hast. Eine neue Generation an Sonnenschildkröten hat die Meere erreicht. Eines Tages, du wirst schon sehen, werden sie heimkehren und der Strand wir voller Nester sein, als hätte man Hoffnung gesät. Das ist ein großer Dienst, den du mir heute erwiesen hast, kleiner Matene."
Kokea neigte den Kopf und versuchte, sich diese Lektion zu Herzen zu nehmen. Er wollte nicht zu traurig über die kleinen Schildkröten werden, auch wenn sie ihm leid taten. Manche, dachte er sich, waren aber vielleicht schon im Ei gestorben. Er wusste, dass das passierte. Vielleicht waren ja alle, die noch lebten, bereits im Meer.
"Es war ein Eingriff in das Gleichgewicht, nicht wahr?", fragte er den unsichtbaren Maketi. "Es war eigentlich nicht recht, dass ich die Schildkröten beschützt habe."
"Du lernst schnell, mein Junge. Doch heute entschied ich, das Gesetz zu brechen und den Schildkröten eine Chance zu geben. Du, Kokea, hast dich ebenfalls bewiesen. Du hast ein gutes Herz und bist umsichtig und weise. Wenn du die Volljährigkeit erreichst, dann sollst du kommen und mein Matene werden. Bis dahin kehre heim zu deiner Familie. Trainiere fleißig, denn nun weißt du, welche Aufgabe dich erwartet."
"Das werde ich tun, Imoa", versprach Kokea ernst, und dann fügte der junge Hobbit etwas leiser hinzu: "Danke, dass du mich erwählt hast. Dies war immer mein Traum." Auch wenn er sich gewünscht hätte, ein riesiges Gebiet auf dem Festland zu haben, einen ganzen Wald oder ein Gebirge, so hatte er dieses kleine Atoll bereits fest in sein Herz geschlossen. Er sah noch einmal nach Süden, wo die geretteten Schildkröten irgendwo unter den Wellen ihre wahre Heimat gefunden hatten, und lächelte.