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Nach dem Prompt „Japanischer Tannenzapfenfisch“ der Gruppe „Crikey!“
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Mitten in der Nacht weckte ihn ein Geräusch aus dem Schlaf. Kokea hatte die kleine Insel erneut aufgesucht, das Eiland, zu dessen Matene ihn Imua erwählt hatte.
Den stillen Hüter hatte Kokea bisher allerdings nicht gesehen. Der Geist verbarg sich noch immer. Vielleicht war er eine der Palmen. Vielleicht einer der großen Steine im Sand. Vielleicht auch eine exotische Blume. Manch ein Cemie bewohnte auch niedriges Gewächs, Moose und ähnliches. Vielleicht zählte Imua zu ihnen und hatte sich aus Scham nicht offenbar. Der Maketi dieses Insel konnte nicht besonders groß sein, weil sein Land so klein war, doch Kokea würde ihn deshalb nicht geringer schätzen. Er fühlte sich noch immer geehrt, dass er zum Matene erkoren worden war. Was spielte es für eine Rolle, wie klein sein Gebiet war? Es war trotz allem eine Ehre, eine heilige Pflicht.
So suchte er das Atoll häufig auf, um mit Imua zu sprechen. Nicht immer antwortete der Maketi. Der Wächter ruhte oft oder schwieg aus seinen eigenen Gründen. Wenn er zu antworten bereit war, lauschte Kokea seinen Erzählungen über die Welt. Es war unfassbar, welches Wissen Imua allein auf dieser kleinen Insel erlangt hatte. Weisheiten, in den Sand gezeichnet von den Wellen des endlosen Ozeans, der wie ruhiger Atem stetig gegen Imuas Reich brandete. Kokea liebte diese Geschichten. Er bemühte sich, so viel wie möglich von ihnen zu behalten, obwohl ihn Imuas ruhige Stimme oft einschläferte und er große Teile dieser Legenden zu seinem Ärger verschlief.
Doch seine Arbeit als Matene hatte gerade erst begonnen. Er lebte immer noch die meiste Zeit im Dorf bei seiner Familie und kam nur für eine Weile her, um mit Imua Zwiesprache zu halten.
So war es auch heute, und er erwachte auf dem Ring aus sandigen Inseln zu rauen Stimmen, die mitten in der Nacht über die Wellen hallten.
"Imua?", flüsterte er in die Dunkelheit. "Was ist das?"
"Fischer." Diesmal antwortete der Maketi sofort.
"Fischer?" Kokea erschauderte. Sein Volk fürchtete das offene Meer, obwohl ihren alten Geschichten die Canoa entsprangen, die Schiffe, nach denen Kokea sein eigenes gestaltet hatte. Inzwischen war es ein großes Canoa, geschlagen aus einem ganzen Stamm, den Imua selbst ihm gewährt hatte, verziert mit Lianen und Leder und Farben. Ein treues Gefährt, dass seine Brücke zwischen der Heimat und dem Atoll darstellte. Längst fuhr er die Strecke, für die er einst drei Tage gewandert war, an einem Tag in seinem Schiff.
Er hatte den Weg zurück auf die Wellen gefunden. Doch nur er.
"Sie können nicht von meinem Volk sein", murmelte er.
"Nein", erwiderte Imua.
"Und wieso fischen sie nachts?" Die Rufe, die er vernommen hatte, hatten Kokea beunruhigt.
"Sie fangen Tannenzapfenfischen."
Er fuhr zusammen. "Aber sie sind ohnehin selten, und jetzt ist ihre Laichzeit!", rief Kokea erschrocken. Seitdem er ein Matene war, sprach er mit anderen, die im Auftrag der Geister ein Gebiet beschützten, und von diesen wusste er viel über die Sorgen des ganzen Landes.
Die nachtaktiven Fische gehörten zu jenen, die zunehmend selten wurden. Sie waren lange Zeit als Delikatesse geschätzt worden, bis die Matene dies verboten hatten. Als wichtiger Teil des Ozeans waren die Tannenzapfenfische mit einem Tabu belegt worden.
Doch es gab wohl einige, die sich darüber hinwegsetzten.
Kokea dachte nicht nach. Er lief einfach dorthin, wo sein Canoa am Strand lag, sprang hinein und schob das Schiff in die Wellen. Geduckt ließ er sich von der Strömung nach draußen ziehen, die Paddel tauchte er so ins Wasser, dass sie kein Geräusch erzeugten.
Schließlich konnte er die rauen Stimmen vor sich hören. Die Fischer fühlten sich sicher, lachten und prahlten damit, wie groß die Weibchen waren, die sie gefischt hatten. Kokea erkannte sie schließlich an der fast schwarzen Haut und dem silbrigem Haar.
Malami. Höhlenbewohner!
Sein Groll wuchs. Die Malami kamen nur selten an die Oberfläche, und wenn, dann raubten sie wie die Möwen. Sie waren gierig und rücksichtslos. Nun war diese Gruppe ihm begegnen.
Es waren drei. Kokea ließ das Canoa langsamer werden und tastete nach seiner Keule - einer mit Federn verzierten Waffe, die auch eine Spitze besaß. Er könnte sich im Wasser anschleichen, ein Loch in die Boote der Fischer schlagen und ihnen damit die Beute rauben. Doch was, wenn sie ertranken?
'Ja, was?', fragte eine hinterlistige Stimme in seinem Hinterkopf. 'Wäre es so schlimm, wenn diese Diebe ertrinken?'
Während er überlegte, was er sonst tun konnte, ohne sich in Gefahr zu bringen, plätscherte das Lachen der Fischer aus.
"Habt ihr auch gehört, dass diese Fische immer weniger werden?", fragte einer der drei mit leiser Stimme.
Die anderen bestätigten.
"Ist doch egal. Diese hier sind da!", beharrte einer. "Weniger denken, kommt schon!"
Kokea war drauf und dran, einfach loszuschwimmen. Er musste stark mit sich kämpfen, um nicht sofort einzugreifen. Er wollte die Leben der drei nicht in Gefahr bringen, auch wenn sie es verdient hätten. Es gibt um's Prinzip.
"Was angeln wir denn nächstes Jahr?", fragte ein anderer Fischer nun. "Nächstes Jahr werden wir auch Schulden haben, sie werden unsere Familien ebenfalls bedrohen. Was, wenn es dann keine Fische mehr gibt?"
"Wir können nur hoffen, dass wir diesmal genug kriegen", antwortete der mit verbissenem Ton, der die Sorgen nicht hören wollte.
Kokea war erstarrt. Schulden? Familien? Wovon sprachen die drei denn bloß? Kaum zwei Speerlängen von ihnen entfernt, im Schutz der Nacht versteckt, trieb er auf den Wellen. Aber plötzlich fühlte er sich nicht mehr wie der Rächer, der kam, um die Fische zu schützen, und mehr wie einer, der unerlaubt lauschte.
"Ich habe drei Töchter, versteht ihr?", sagte der verbissene Fischer. "Ich muss sie alle auslösen, sonst ... Wisst ihr ja. Also weniger reden, mehr angeln!"
Unter den Wellen blitzten die Lichteffekte der Fische aus, die in dieser Dunkelheit so ihre Beute anlockten. Nur dass die Lichter auch die Wilderer auf ihre Spur lenkten.
Langsam, ganz langsam, ließ Kokea die Paddel ins Wasser gleiten und fuhr zurück.
"Du bist umgekehrt", bemerkte Imoa amüsiert, als Kokea an den Strand stapfte.
"Du ... du hattest mich nie losgeschickt", murmelte er. "Und das ist auch weit außerhalb unseres Reviers. Meines Reviers." Er seufzte. "Ich kann dort nicht eingreifen."
"Du hast begriffen, dass sie in Not handeln", sagte Imoa sanft. "Und auch die Höhlenbewohner sind ein Teil dieses Landes. Sie verdienen den gleichen Schutz wie Tiere, Pflanzen ... und Fische."
"Wem schulden sie diese Fische?", fragte er. "Wer bedroht ihre Familien? Wer zwingt sie - gegen ihren Willen! - hier zu wildern?"
"Nun stellst du die richtigen Fragen", antwortete Imoa. Er klang zufrieden. Aber eine Antwort gab er Kokea nicht.
Kurz vor dem Morgengrauen setzten sich die Fischer in Bewegung. Kokea folgte ihnen mit dem Canoa in einigem Abstand, bis an eine Stelle am Strand des Festlands, wo der Ozean gurgelnd in ein tiefes Loch hinabstürzte. Dort fuhren die Fischer hinein. Kokea zögerte einen Moment, dann folgte er ihnen.
Der Fluss wurde zu einem Tunnel, der in einen unterirdischen See führte. Die Fischer waren bereits an Land, als Kokea endlich aus dem Schacht kam. Er befand sich am Eingang zu einem großen Höhlensystem, wo nur wenige Lichter brannten. Er wusste, dass die Malami besser sehen konnten als er, also wagte Kokea sich nur langsam vor.
Es war eine Stadt unter der Erde. Bald sah er die Malami, die unter elenden Bedingungen hausten, und erriet, dass diese Siedlung einen gierigen Herrscher haben musste, der zu hohe Abgaben verlangte. Die Anwesenheit der vielen gepanzerten Wachen war gleichzeitig der Beweis als auch sein Signal, umzukehren.
Es war nicht leicht, gegen die Strömung ans Tageslicht zurückzukehren. Kokea fuhr nur einmal kurz zu Imoa, doch auf seine Ankunft reagierte der Maketi nicht. Also zog Kokea zurück ans Festland. Dieses war nicht mehr Teil seines Reviers, sondern gehörte einem anderen Matene. In dessen Einflussgebiet gehörten die Malami, und ihn suchte Kokea auf, um vom Kern des Problems zu berichten.
Der andere Matene, Ikua, besaß ein viel größeres Gebiet und viel mehr Macht. Er war auch bereits älter. Nachdem er Kokea gedankt hatte, sammelte er bereits Krieger um sich. Einige Wochen später vernahm Kokea die Nachricht, dass die Siedlung befreit worden war. Viele Malami, die nahezu in Sklaverei gelebt hatten, waren nun obdachlos, aber frei. Sie würden andere Höhlen finden oder jene Siedlung nach neuen Gesetzen neu strukturieren.
Und danach kamen keine Wilderer mehr, oder sie fingen andere Fische, die zahlreicher waren. Noch immer suchten sie den Schutz der Nacht, aber sie achteten fortan die Gebote. Denn sie wussten, dass ein Maketi und ein Matene, die ihre Sünde gesehen hatten, sie verschont und befreit hatten.
"Ich wünschte, sie wüssten, dass ich es war", sagte Kokea eines Abends, als er wieder am Strand saß.
"Dich drängt es nach Ruhm?", fragte Imoa überrascht. "Bist du nicht zufrieden, dass das Problem gelöst wurde?"
"Natürlich! Mir geht es nicht um mich. Aber du, du verdienst mehr Bewunderung. Alle lachen sie immer über dieses Atoll. Sie sollen wissen, wie weise und klug du bist. Dass du auch etwas Großes bewirken kannst."
Schweigen folgte. Dann lachte Imoa.
"Mir genügt es, dass du das weißt, mein Junge."