„Warte einfach hier.“, befahl Elodie mir.
Sie hatte sich ihr rosa Festkleid ausgezogen, darunter kam ein kurzes schwarzes T-Shirt und eine ebenso schwarze Hose hervor. Ich konnte nicht anders, als kurz ihre Figur zu bewundern. Dann war sie auch schon mit unseren Rucksäcken im Haus verschwunden. Ich setzte mich hinter eine Hecke und wartete. In meinem Kopf liefen die skurrilsten Vorstellungen ab. Elodie, wie sie die Tür mit einem Dietrich aufhebelte. Elodie, die wie eine Katze die Treppe hinaufschlich und die wichtigsten Dinge heimlich in ihre Tasche packte. Elodie, die sich hinter einem Vorhang versteckte, als mein Dad und ihre Mutter die Treppe hinaufkamen… Meine neue Stiefschwester, die kaltblütig aus dem Fenster sprang, als mein Dad sie ertappte. Natürlich rollte sie sich unten profimäßig ab.
Bevor mein Gehirn noch verrücktere Ergebnisse ausspuckte, spähte ich vorsichtig über die Hecke. Genau in dem Moment ging die Tür auf. Hastig wollte ich mich ducken (peinlich, so im Nachhinein), doch Elodie winkte mir ganz unbeschwert und auch ein bisschen ungläubig zu.
„Ich konnte ganz normal rein und wieder raus!“, erzählte sie erstaunt, „Meine Mum und dein Dad haben mich gar nicht bemerkt! Ich konnte richtig gechillt reinlaufen, alles holen und wieder rauslaufen. Rein gar nichts passiert!“
Ich musste unwillkürlich grinsen. So gar nicht im Gegensatz zu meinen Tagträumen.
„Wir sind eben nicht in einem Actionfilm…“, murmelte ich vor mich hin. „Dort wärst du von mindestens drei Banditen überfallen, hättest dich rauskämpfen müssen, wärst verschleppt worden und ich müsste dich retten.“
Ich grinste sie an. Ein Wunder, dass es mir gelang, doch schließlich war Elodie meine einzige Möglichkeit, hier zu überleben. Da konnte man wenigstens nett zu ihr sein.
„Und der Film endet damit dass du die Rettung verkackst und wir gemeinsam im Knast sitzen. Dann würde die Heldin dem Held ihre Liebe gestehen und sie schaffen es, sich gegenseitig rauszupauken.“, fuhr Elodie fort und zwinkerte mir frech zu.
Mir fiel keine wirklich intelligente Erwiderung ein, also schloss ich den Mund wieder. Meine Stiefschwester wartete die Antwort auch gar nicht erst ab, sie griff einen der Rucksäcke und ging zielstrebig los. Hastig folgte ich ihr mit der anderen Tasche.
„Ich hab übrigens nachgeschaut. In 20 Minuten fährt ein Bus in die Richtung, wo wir hinwollen. Von da aus ist es dann nur noch halb so weit… Ich denke, wenn wir laufen, brauchen wir so fünf Tage oder so. Deine Mutter ist halt blöderweise nicht um die Ecke…“
Ich starrte sie ungläubig an und schnaufte.
„Dann mal los.“, munterte ich uns auf und sah sie an.
Sie murmelte etwas unverständliches, den Blick leer. Das Einzige, was ich verstand war „Es hat alles funktioniert.“. Wetten, sie war selber nervös? Sicher hatte sie noch nie so etwas erlebt. Geschweige denn ohne ihre Eltern. Ohne darüber nachzudenken, legte ich ihr den Arm um die Schultern.
„Wir schaffen das schon.“, sprach ich ihr Mut zu.
Sie sah mich überrascht an, oder eher meinen Arm, unternahm jedoch nichts dagegen.
Tief in mir spürte ich ein leichtes Flattern, das ganz sicher nicht nur etwas mit unserem Vorhaben zu tun hatte.