Ein paar Antworten
Mit jagendem Herzen fuhr ich aus dem Traum auf, der mich eine ganze Zeit lang gequält hatte. Eingesperrt hatte man mich, in eine winzige Zelle mit Gittertür und feuchten, schwarzen Wänden. Eisenketten hatten mich daran gefesselt, erst die Arme, dann die Beine, bis ich mich nicht mehr regen konnte. Ich schauderte tief und fühlte mich noch immer ganz verloren. Sofort war jemand an meiner Seite, sanfte Hände streichelten mir beruhigend über Kopf und Rücken. Dieses Schweigen kannte ich besser als die Stimme von so manch anderem. So gab ich dem sanften Drängen nach und legte mich wieder zurück auf mein weiches Lager. Als ich irgendwann erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel und die Vögel sangen aus voller Kehle. Ein himmlischer Duft schwebte in der Luft und ließ meinen Magen knurren. Gähnend setzte ich mich auf und rieb mir das Auge. Wie friedlich die Ruinen auf einmal aussahen. Beschienen von der Sonne und voller Leben. Die vier Gaukler hockten nur ein paar Schritte weiter weg um ein kleines Lagerfeuer. In einem Kessel über den Flammen brodelte es vielversprechend.
Noch etwas träge wickelte ich mich aus der Decke und schlurfte zu ihnen, um bei ihnen Platz zu nehmen. Mentha sah als erste auf, holte sofort eine weitere Holzschüssel mit Löffel herbei und legte noch ein paar Teiglinge auf einen zischenden Stein.
„Schon ausgeschlafen?“, frage Ulex, der sich bequem gegen eine Trümmerwand gelehnt hatte, und sah mich misstrauisch an, als würde er das nicht so recht glauben wollten. Da ich nach dem Erwachen immer ein wenig brauchte, um meine Sinne zu sammeln, nickte ich nur. Mein Magen knurrte zustimmend, genug geschlafen. Die Stumme drückte mir sofort die Schüssel in die eine Hand und den Löffel in die andere, erst dann kümmerte sie sich um ihre Reisefamilie. Eine Weile war nur das zufriedene Kauen und Schmatzen der Truppe zu hören.
Die Suppe war köstlich und erst jetzt merkte ich, wie hungrig ich war. Beinahe gierig leerte ich meine Schüssel und knabberte auch noch etwas von den knusprigen Teigfladen, die es als Beilage gegeben hatte. Schweigend betrachtete ich alle der Reihe nach und freute mich darüber, hier mit ihnen sitzen zu können. Sie hatten mir wirklich gefehlt.
Irgendetwas schien den Vier daran aber sehr unangenehm zu sein, denn die Zwillinge wirkten plötzlich ganz betreten und Ulex kramte seufzend seine Pfeife hervor, um sie etwas fahrig zu stopfen. „Es tut uns leid, Visus. Wären wir pünktlich gewesen, dann hätten wir dir das ersparen können“, brummte er finster und schlug mit der Faust in seine Handfläche. „Dieser verflixte Wachyeti. Hat behauptet, durch sein Tor wären an diesem Tag schon überdurchschnittlich viele herein gekommen und er dürfte keine weiteren mehr einlassen. Wir mussten zum nächsten weiter, das hat uns einen halben Tag gekostet.“
Der Schreckser bleckte zornig die Zähne und die Zwillinge zogen scheußliche Grimassen, um zu unterstreichen, was für ein Widerling der Wachmann gewesen war.
„Das war gelogen, hinter uns standen noch eine Menge andere“, schalt die Eine.
„Die durften sicher noch alle durch“, schimpfte die Andere.
Mentha seufzte stumm und strich mir mit der einen Klaue über den Kopf, während sie mit der anderen dorthin deutete, wo das Herz von Atlantis lag.
Ulex nickte und zündete seine Pfeife mit einem glimmenden Holzspan an. „Wir wollten natürlich sofort ins Schrecksenviertel, sind unterwegs aber auf ein paar Artgenossen getroffen, die eine wilde Geschichte zu erzählen hatten. Von einem Schrecksengericht, das man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte. Ich war der Meinung, das dürfte uns wohl kaum interessieren, doch die Mädchen hatten sofort ein ungutes Gefühl und drängten darauf, hierher zu kommen. Da haben wir erfahren, dass die Angeklagte ein Hempelchen war.“ Er seufzte wieder bekümmert. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie wir da gelaufen sind.“
Er ließ einen Kringel aus seinen Nasenlöchern aufsteigen und glich damit mehr denn je einem der sagenumwobenen Drachen, die hier angeblich in der Kanalisation hausen sollten.
Ich spülte die letzten Krümel Brot mit frischem Quellwasser hinunter. „Hört auf damit, das ist doch nicht eure Schuld“, fuhr ich deutlich auf und runzelte die Stirn. „Ihr hättet mich selbst dann nicht im Schrecksenviertel gefunden, wenn ihr pünktlich gewesen wärt. Da bin ich ja nie angekommen.“
Mein Zorn galt einem ganz anderen. Schon wieder hatte einer dieser Wachyetis die vier mit Herablassung behandelt, einfach weil es ihm gefiel. Diese Kerle waren wirklich ausgemachte Widerlinge. Doch dann fiel mir noch etwas Anderes ein. „Was macht ihr eigentlich hier? Also, ihr alle“, fragte ich und deutete über das Ruinenviertel, was sämtliche Schrecksen einschloss. „Ich bin im letzten Jahr viel rumgekommen, aber so viele Schrecksen wie hier habe ich noch nie gesehen.“
Diesmal bekam ich die Antwort nicht sofort, Ulex schien zu überlegen und blies noch ein paar Kringel, die Zwillinge betrachteten interessiert einen Käfer und Mentha klapperte mit dem Geschirr. „Wir sind hier, um etwas zu verändern“, begann der Schreckser endlich zu erklären. „Hast du schon mal vom großen Schrecksenmarsch in Buchting gehört? Er jährt sich in einigen Tagen und wir wollen ihn hier, in Zamoniens größter Stadt, wiederholen, um daran zu erinnern, dass wir uns nicht alles gefallen lassen.“
Nachdenklich legte ich die Stirn in Falten und wühlte mich durch meine Erinnerungen, wo ich bald etwas fand. Ich hatte in der Nachtschule also nicht völlig umsonst all die Bücher gelesen. Natürlich war das lange vor meiner Zeit gewesen, aber ich konnte mich dafür an all die Berichte erinnern, die es dazu gegeben hatte. Der Marsch hatte damals für sehr viel Aufsehen und auch Grauen gesorgt, da es der erste und bisher einzige seiner Art gewesen war. Und aus einem anderen, nicht ganz unwichtigen, Grund.
„Ihr wollt splitternackt durch Atlantis ziehen, um auf euch aufmerksam zu machen?“, fragte ich frei heraus und konnte trotz aller Freundschaft bei dieser Vorstellung ein Schaudern nicht unterdrücken.
Ulex paffte verlegen ein paar dichte Rauchkringel und vermied es, mich anzusehen. Die Zwillinge steckten sofort die Köpfe zusammen und hielten sich albern kichernd an den Händen fest. Nur Mentha schmunzelte amüsiert und warf dem Schreckser einen fast herausfordernden Blick zu, ganz so, als hielte sie das für gar keine so schlechte Idee.
„Ich denke, das wird nicht nötig sein“, brummte der aber nur und blinzelte noch immer in die Sonne. „Schließlich wurde damit damals gegen eine recht dreiste, neue Kleiderordnung protestiert, die auch nur Schrecksen betroffen hat. Lieber nackt als diese Kittel, so sagten sie damals. Da war die Nacktheit nötig, um zu zeigen, wie ernst es uns damit war.“
Das klang sinnvoll. Diesmal wäre es auch wirklich klüger, darauf zu verzichten. Schließlich wollten sie da draußen auf den Straßen gesehen und gehört werden. Wenn aber eine solche Menge Schrecksen splitternackt nahte, dann wären alle Wege bald ausgestorben und sie hätten gar nichts erreicht. Ich lehnte mich auf ein verfallenes Mäuerchen und genoss einen Moment den würzigen Duft aus Ulex' Pfeife. Fast träge ließ ich den Blick schweifen und konnte einige Zweifel aber auch dadurch nicht zerstreuen. Hier in den Ruinen waren wirklich mehr Schrecksen, als ich je irgendwo gesehen hatte. Dennoch schienen es mir kaum genug für das mutige Vorhaben zu sein. Für Buchting mochte eine solche Menge wie diese beeindruckend genug gewesen sein, doch Atlantis war so endlos viel größer und selbst mit all den hier Versammelten würde es wohl kaum gelingen, eine der Nebenstraßen zu verstopfen, in keinem Fall aber die Ilstatna.
„Wart ihr damals auch so viele?“, fragte ich ein wenig ausweichend.
Das Lachen des Schrecksers war laut, aber herzlich. Vergnügt paffte er weitere Kringel, während sein Wanst lustig hüpfte. „Wo denkst du hin? Was du hier siehst, ist nur ein kleiner Teil von allen, die sich mittlerweile versammelt haben. Solche Orte wie diesen hier gibt es hinter den Mauern der Stadt auch noch anderswo. Je einen in jeder Himmelsrichtung, um genau zu sein. Wenn es soweit ist, dann verlassen wir die Versammlungsplätze alle gleichzeitig und finden an einem Punkt der Hauptstraße zusammen. Von dort wird dann über die Hauptstraße bis zum Hauptsitz der Bürgermeisterverwaltung marschiert. Es soll so erscheinen, als würden wir wirklich von überall her kommen. Das ist ein großer Aufwand und ein ebensolches Risiko. Doch bisher sind wir unentdeckt geblieben, obwohl die Versammlungsorte in ständigem Kontakt stehen.“
So war das also. Die Stadt war längst schon von den Schrecksen eingenommen, die nur auf den richtigen Moment warteten, ihrem Ärger und ihren Forderungen endlich Luft machen zu können. Es hatte nur noch niemand bemerkt.
Wir hatten das Tappen von Pyrolas Stab wohl überhört, denn plötzlich stand die Alte vor uns. Sie sah gehetzt aus und ließ ihren jagenden Blick zwischen uns hin- und herfliegen. „Was hast du gerade getan?“, krächzte sie und starrte Ulex an. „Dem Hempelchen einfach unsere Pläne, unsere Geheimnisse zu verraten. Wie kann man nur so vertrauensselig und leichtsinnig sein?“
Ihre Stimme war sogar für eine Schreckse merkwürdig heiser und wieder umklammerte sie ihren Stab. Zu meinem Erstaunen sah sie zum ersten Mal wirklich alt und schwach aus.
Der dicke Schreckser erhob sich und trat auf sie zu, die Klauen beruhigend ausgestreckt. „Visus wird uns nicht verraten“, versicherte er sanft.
Doch Pyrola schüttelte nur den Kopf und funkelte mich an, als wolle sie mich mit ihren Blicken verbrennen. Wieder schien das gar nicht mir zu gelten. „Oh doch, sie wird. Sie alle tun das irgendwann. Ohne Grund. Und ihr haben wir sogar einen gegeben“, fuhr sie auf und wich ein Stück von Ulex zurück. „Ihr habt all unsere Mühen gefährdet, uns alle gefährdet. Davon wird die Älteste erfahren, jetzt muss sie etwas unternehmen.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und stolperte hastig davon, in Richtung des Aquädukts. Ulex blieb einfach stehen, mit hängendem Kopf und ehrlicher Angst im Blick, was mir große Sorgen machte. Eines der Zwillingsmädchen wimmerte sogar erschreckt auf und wurde sogleich von der bekümmerten Mentha in den Arm genommen. Hatten sie jetzt etwa selbst eine Strafe zu fürchten? Oh nein.
Ich sprang rasch auf und rannte hinter Pyrola her, die zum Glück noch nicht weit gekommen war. „Warte doch“, rief ich laut und hielt sie an einem Umhangzipfel fest.
„Was willst du? Lass mich in Ruhe, die Älteste muss das erfahren“, fuhr sie mich an und entriss mir den Stoff sofort wieder.
„Muss sie nicht“, erwiderte ich hartnäckig und erreichte damit tatsächlich, dass die Dicke stehenblieb. „Ich bleibe hier. Im Viertel und unter eurer Aufsicht, freiwillig. Bis der Marsch vorüber ist.“
Pyrola runzelte die Stirn und beugte sich ein bisschen zu mir herunter, um mich eingehend zu betrachten. „Du wirst keinen Schritt aus den Ruinen machen, es sei denn mit unserer Erlaubnis, oder unter Aufsicht?“, fragte sie mich durch und durch misstrauisch.
Eine Wolke aus Kräuteraromen aller Art hüllte mich ein und etwas Ätherdampf brannte mir in der Nase. Doch ich sah dennoch entschlossen zu ihr auf. „Unter deiner persönlichen, wenn es sein muss. Aber betrachte diese vier nicht weiter als Gefahr für eure Sache, nur weil sie mir vertrauen.“ Ich winkte zu den stillen Gauklern hinüber.
Meine Anklägerin, der ich mich jetzt ganz freiwillig in die Hände begeben hatte, sah mich noch eine Weile länger an und schnaufte dann abfällig. „Wenn du es unbedingt willst, dummes Ding. Mir soll es recht sein.“ Kehlig lachend zog sie wieder ihrer Wege, die zu meiner Erleichterung nicht zum Herz dieses Viertels führten.
Mein Magen sackte mir schwerfällig in die Kniekehlen und ich musste keine Schreckse sein, um Übles für mich zu erahnen. Die Hände in den Taschen schlurfte ich zu meinen guten Freunden zurück und ließ mich schweigend neben ihnen am Feuer nieder.
„Jetzt sitzt du fest“, meinte eine der Zwillinge atemlos.
„Wie eine Ratte, und Pyrola hat gut Lachen“, fügte die Andere unnötiger Weise an.
Ich drückte ihnen die Klauen und lächelte nur. „Ich bin hergekommen, um Zeit mit euch zu verbringen. Da ist es mir völlig egal, wo das ist und auch, ob mir die alte Krähe dabei im Nacken sitzt“, machte ich allen Vieren aufrichtig klar.
Mentha kniete sich vor mich und tat etwas, das bei ihrer Art sonst nicht wirklich üblich war. Sie zog mich in eine herzliche Umarmung, die mehr sagte, als alle Worte es getan hätten. Ich genoss es inniglich.
„Erzählt mir lieber mal, was ihr im vergangenen Jahr so getrieben habt“, forderte ich Ulex, Mentha und die Zwillinge auf, als ich wieder losgelassen wurde.
Diesem Wunsch kamen die Vier allzu gerne nach. Mit ihren schönen Stimmen berichteten sie mir von all den Orten, wo sie in der Zwischenzeit gewesen waren und was sie dort erlebt hatten. Immer wieder unterbrachen sie sich eifrig, um Vergessenes einzuwerfen oder sich für eine Dummheit zu verteidigen. Es gab häufiges und lautes Gelächter. So erfuhr ich auch, dass sich die Zwillinge über die Wintermonate in einem kleinen Theater in Ornien verpflichtet hatten, während Mentha und Ulex ein Schrecksendorf finden wollten, von dem sie auf ihren Reisen gehört hatten. Die paar Monate nur zu zweit hatte die beiden offenbar noch enger aneinander gebunden, die Vertrautheit zwischen ihnen war nicht nur zu sehen.
Die Nacht war schon alt, als wir alle langsam müde wurden und uns nach und nach zurückzogen. Erst die beiden Mädchen, die allerdings erst von Ulex dazu gedrängt werden mussten. Dabei gähnten die Zwillinge in einem fort und ihnen fielen sogar im Sitzen immer wieder die Augen zu. Auch ich holte mir irgendwann meine Decke herbei, setzte mich aber noch auf das Mäuerchen, von dem ich auch heute Mittag alles hatte beobachten können. In der Schwärze tanzten die Lagerfeuer lebendig und verliehen diesem verzauberten Ort noch mehr Magie. Irgendwo, ganz in unserer Nähe, wurde musiziert und eine Schreckse sang dazu. Es war eine sehr seltsame Melodie in einer Sprache, die ich nicht verstand. Dennoch berührte sie wunderschön mein Herz. Bequem schlug ich die Beine unter und lauschte noch eine Weile. Ich hob erst den Kopf, als der Schreckser sich neben mich auf den alten Stein stellte.
„Jetzt sag mir, sie sind es nicht wert“, flüsterte er und sah sich mit einem schwer zu deutenden Blick um.
Sie waren es wert, allemal, das wusste ich schon länger. Aber offenbar brauchte ich diese Meinung nicht auszusprechen, denn Ulex nickte mir zu und begab sich dann ebenfalls zu seinem Lager. Ich gähnte und legte mich nur widerwillig auch zur Ruhe.