Atlantis bei Nacht
Mit dem aufziehenden Abend und der Dämmerung verflog die Tageshitze merklich, aber es blieb angenehm warm. Die Luft schmeckte würzig nach Sommer und heute Nacht würde vermutlich sogar ich auf eine Decke verzichten. Wie jeden Abend hing der Duft von Ulex' Pfeife in der Luft, hier und da schwebten einiger seiner Rauchkringel. Es war heimelig. Statt jetzt ein Lagerfeuer zu entzünden, um dann ein Abendessen darauf zu kochen, packten meine vier Freunde ein leichtes Bündel zusammen und strichen sich die Roben glatt. Auffordernd stellten sie sich vor mich und Mentha streckte mir die Hand entgegen, freundlich lächelnd, eindeutig eine Einladung.
„Kommst du mit? Ich denke, was wir vorhaben, willst du dir nicht entgehen lassen“, fragte Ulex geheimnisvoll und rollte mit den Augen.
Eigentlich war ich müde und saß hier gerade so kuschelig, doch von dieser Ankündigung ließ ich mich doch gerne locken. So schob ich also mein Buch, in dem ich gerade geschmökert hatte, unter meine Decken und ergriff Menthas Hand. Schon zum zweiten Mal verließ ich heute das Ruinenviertel, obwohl ich eigentlich gelobt hatte, das nicht zu tun. Doch wie von Pyrola verlangt, war ich dabei ja nicht ohne Begleitung. Diesmal war mir die allerdings viel lieber.
Aufgeräumt plaudernd, wanderten wir durch die Straßen der Stadt, blieben dabei aber in den weniger belebten Gassen. Die hohen Laternen, die auch hier überall standen, waren mit der Dämmerung entzündet worden und spendeten ein lebendiges, warmes Licht. Noch viele Andere waren unterwegs, meist in Gruppen und gut gelaunt. Gespräche wurden geführt, Unsinn miteinander getrieben und zwischen den vielen, gut besuchten Lokalen flogen Scherze hin und her.
Ich atmete tief durch und genoss diese Stimmung. Auch die Zwillinge ließen sich davon anstecken, erzählten von diesem und jenem und kicherten dabei häufig. Ulex zog grinsend an seiner Pfeife, schwieg aber sonst. Die Stumme hatte mir die Klaue auf den Kopf gelegt und hätte sich gewiss untergehakt, wäre es möglich gewesen. So schlenderten wir dahin, durch diese wunderschönen Gassen.
Das war es wohl nicht gewesen, was die Vier mir hatten zeigen wollen. Am Ende unseres Weges lag nun ein Tor aus verschnörkeltem Eisengitter, dessen Flügel weit offen standen. Dahinter breitete sich eines der unzähligen Stadtviertel aus, das überall zu einem der Schönsten zählte. Ein Schild neben dem Tor mahnte Nichtschwimmer in Wort und Bild zur besonderen Vorsicht.
„Das Viertel der Venedigermännlein bei Nacht ist unglaublich“, versprach mir Ulex und steckte die kalte Pfeife wieder ein.
Mein Herz machte einen aufgeregten Sprung und ich war meinen Freunden unheimlich dankbar für dieses Geschenk. Hier hatte ich mich schon lange einmal umsehen wollen. Voller Vorfreude trat ich durch das Tor und wusste sofort, dass ich nicht enttäuscht werden würde.
Statt nur von Straßen war dieses Viertel hauptsächlich von tief liegenden Kanälen durchzogen, auf denen Wassergefährte aller Art schipperten. Das klare Wasser darin glitzerte hier und da silbern im Mondschein und plätscherte friedlich hin und her. Überall spannten sich große und kleine Brücken darüber, verbanden ein Ufer mit dem anderen. Die Häuser, von denen sie gesäumt wurden, waren scheinbar alle aus dem gleichen glatten, weißen Stein erbaut. Im Grunde waren es allesamt doch eher Paläste, voll spitzer Bogenfenster und Balustraden mit verspielten Geländern. Die Fassaden waren üppig, aber nicht aufdringlich mit Fresken und Mustern aus roten oder schwarzen Steinen geziert.
Verzaubert folgte ich den Schrecksen in das verwirrende Labyrinth aus schmalen Gässchen und runden Plätzen, um dort nach Herzenslust zu flanieren.
Ohne Ziel und Eile streunten wir herum, sahen uns die kleinen Ladengeschäfte voller Gläser nach Art der Venedigermännlein an oder genossen den Duft in den Räumlichkeiten eines Gewürzhändlers. Wir bestaunten ausgiebig die Werkstatt eines Maskenmachers, der, klein und verhutzelt, kaum zwischen seinen Handwerksstücken zu erkennen war. Überall an den Wänden und den Fronten der Möbel hingen die Masken dicht an dicht. Sogar lange Schnüre hingen von der Decke hinunter, an denen sie baumelten wie reife Trauben. Sie lächelten dabei auf uns herab oder zogen fürchterliche Fratzen, um uns zu foppen. Aus Porzellan geformt oder aus Draht gebogen. Manche mit Stoff beklebt oder aufwändig nur mit Pinselstrichen und leuchtenden Farben bemalt. Steine glitzerten im Laternenlicht und Federn zitterten in jedem Lufthauch. Jede Maske schien einzigartig zu sein und die Vielfalt war umwerfend. Wir machten uns einen Spaß daraus, ein paar von ihnen vors Gesicht zu halten und die anderen damit zum Lachen zu bringen, wie albern wir damit aussahen. Ich für meinen Teil fand ja, den Vieren stand alles ganz ausgezeichnet zu Gesicht.
Dann wanderten wir weiter an den Kanälen entlang, auf denen die traditionellen, schmalen Gondeln der Venedigermännlein an uns vorbeiglitten. In jeder saßen Verliebte oder Schaulustige und der Gondelmeister sang gerne aus voller Kehle. Dann stießen wir irgendwann auf einen kleinen Platz, begrenzt von ein paar einfachen Häusern und einem ehrwürdigen Gedenkbau, der dem Schutzpatron eines Handwerkes gewidmet war. Hier hatten sich ein paar der Bewohner zusammengefunden. Ein Gondelmeister spielte auf dem Akkordeon und viele tanzten sorglos mitten über Platz und Straßen.
Da hielt es die Zwillinge nicht mehr. Fröhlich wirbelten sie umeinander herum oder klatschten im Takt zur Musik. Mentha packte den überraschten Ulex an den Händen und hatte ihn hinausgezogen, ehe der auch nur mürrisch brummen konnte. Ich grinste über diesen Anblick, hatte mich aber zu früh gefreut, die Zwillinge ließen mich nicht so leicht davonkommen. Außer Atem, aber noch mit der fröhlichen Musik im Herzen, zogen wir weiter. Unsere Mägen knurrten und es wurde Zeit, uns für eine der vielen Köstlichkeiten zu entscheiden, die hier an jeder Ecke angeboten wurden. Wir folgten einfach unseren Nasen.
Nur einmal blieb ich stehen und starrte eine ganze Weile schweigend durch ein Tor an der weißen Fassade eines Prachtbaus empor. Mit seinen vielen Balkonen und den übertriebenen Zierelementen in Gold erinnerte er mich einfach erschreckend an den Palast von Schnuck. Die Brunnen, die im Hof davor plätscherten, machten es nicht gerade einfacher, diesen Eindruck zu zerstreuen. Mein Herz schlug wilder und erst, als mir Mentha die Klauen auf den Kopf legte und mich besorgt ansah, konnte ich die Erinnerungen abschütteln.
Wir entschieden uns für ein schönes, kleines Lokal an der Häuserecke direkt neben dem Kanal. Es hatte eine erhöhte Terrasse, zu der ein paar Steinstufen nach oben führten. Einfache Holzstühle wurden zum Sitzen angeboten und in Tontöpfen wucherten bunte Blumen.
Wir genossen die köstlich gefüllten Teigfladen und die Schrecksen einen guten, roten Wein. Glücklich ließ ich den Blick über das Viertel mit seinen warmen Lichtpunkten schweifen. Es war sehr spät, als wir uns endlich dazu entschließen konnten, den Rückweg anzutreten. Das Ruinenviertel lag in tiefem Schweigen, als wir die Treppe hinunterstiegen, nur hier und da reckten ein paar Wächter die Hälse, um uns kritisch in Augenschein nehmen zu können. Voll herrlicher Eindrücke und mit dem Gesang der Gondelmeister in den Ohren schlief ich ein.