Der ausgemergelte Körper Magdalenas war unter der dicken Federdecke, die ihr Gatte über sie gelegt hatte, kaum zu erkennen. Jetzt in ihrer Situation war sie froh, dass sie die Daunen der geschlachteten Gänse gesammelt und in zusammengenähte Laken gestopft hatte. So war sie sich sicher, während er strengen Winter im Fürther Land nachts nicht frieren zu müssen.
Magdalenas schütter gewordene graue Haupthaar klebte feucht an ihrem Kopf. Sie schwitzte und fror zugleich. Hohes Fieber und Husten quälten sie.
Endres saß am Rand des Bettes und hielt die Hand seiner im Sterben liegenden Frau. Die feingliedrigen Finger Magdalenas wirkten in Endres riesiger Hand klein, fast zerbrechlich. Ängstlich beobachtete der Mann jede noch so winzige Regung seiner Magdalena, die seit vielen Wochen siech darnieder lag und dem Tode näher war als dem Leben. Eine einzelne Träne verirrte sich und rann über seine bärtige Wange. Er ängstigte sich sehr, sie in Bälde zu verlieren.
„Du musst nicht weinen“, krächzte Magdalena unter größter Anstrengung. Obwohl sie sich fast den ganzen Tag in einer Art Dämmerzustand befand, war ihr die Regung ihres Gatten nicht entgangen.
Erschrocken blickte Endres auf. „Du bist wach“, sagte er freudig und wischte flugs die Träne von seiner Wange. Ein Lächeln schlich sich auf seine schmalen Lippen. „Es schmerzt mich, dich so leiden zu sehen“, gab er zu.
„Das muss es nicht. Ich erleide keinen Schmerz“, erwiderte Magdalena lächelnd.
„Das sagst du nur so, um mich nicht zu ängstigen. Doch seit Wochen quälst du dich. Nichts hilft!“ Endres war verzweifelt.
„Wir alle wissen, unsere Zeit auf Erden ist nur begrenzt. Meine ist fast abgelaufen. Ich muss bald gehen. Der Herrgott ruft mich zu sich. In unabsehbarer Zeit werde ich vor ihm stehen und für meine Sünden büßen.“ Erneut lächelte Magdalena ihrem Gatten aufmunternd zu. Als sie weitersprechen wollte, musste sie husten. „Hilf mir auf. Ich bekomme keine Luft“, presste sie gequält hervor.
Sofort legte Endres einen Arm um ihre Schultern, um sie aufzurichten. Während er sie stützte, stopfte er mit der anderen Hand weitere Kissen hinter ihren Rücken. Zärtlich umarmte er seine Frau.
Immer wieder würgend hustete sie dabei. Wäre Endres nicht zur Stelle, wäre Magdalena längst aus dem Bett gefallen Es dauerte lange, bis sie sich beruhigt hatte und sie wieder normal atmen konnte.
„Ist noch Kräutersud da?“, fragte sie erschöpft.
Endres sprang sogleich auf und ging zur Feuerstelle, auf der in einem kleinen Topf, der von ihm nach Magdalenas Anweisung zubereitete Sud vor sich hin köchelte. Ein wenig davon füllte er in einen einfachen Holzbecher.
Als Endres zurück zur Schlafstatt ging, fiel ihm zum wiederholten Male auf, wie schmal seine Frau geworden war. Von der lebensfrohen jungen Frau, in die er sich vor vielen Jahren verliebt hatte, war nicht mehr viel da. Tiefe Falten hatten sich in das ehemals hübsche Antlitz gegraben. Die Augen lagen tief und waren von dunklen Schatten umrahmt. Sogar von den ehemals verführerisch roten Lippen war nur ein harter, roter Strich übriggeblieben. Ihm kam es vor, als würde ihn eine vollkommen fremde Person anblicken und nicht seine geliebte Magdalena. Doch sie war es, auch wenn sich ihr Aussehen in den letzten Wochen so sehr verändert hatte. Erneut traten ihm die Tränen in die Augen. Verzweifelt versuchte er, sie zu unterdrücken. Doch es gelang ihm nicht.
„Ach Liebster“, sagte Magdalena aufseufzend zu ihm. „Komm und gib mir den Kräutersud. Mein Hals ist schon ganz trocken.“ Magdalena zerriss es fast das Herz, ihren Gatten so leiden zu sehen. Schon oft hatte sie versucht, ihn auf ihren kommenden Tod vorzubereiten. Wäre er nicht gewesen, läge sie bereits seit vielen Jahren auf dem Schindacker, von den Schergen der Inquisition auf einem Scheiterhaufen bei lebendigem Leibe verbrannt.
Sie erinnerte sich gerne daran, wie Endres sie vor dem nahenden Tod als verurteilte Hexe gerettet hatte. Das war sehr lange her und sie war seitdem sehr glücklich mit ihren Gatten. Doch nun war es unabkömmlich, dass sie ihn verlassen musste. Ihr wäre es auch lieber gewesen, abends nach getaner Arbeit zu Bett zu gehen und am Morgen einfach nicht mehr wach zu werden. Doch so musste sie einen langen Leidensweg erdulden, ehe sie dem Herrgott gegenübertreten konnte.
Erneut schüttelte die Kranke ein böser Husten. Die Anstrengung trieb ihr die Tränen in die Augen. Ihr Gesicht färbte sich krebsrot.
Endres eilte zu ihr und versuchte, ihr noch mehr von dem lindernden Sud einzuflößen. Nach einer Weile gelang es ihm. Magdalena hustete noch ein paar Mal, dann beruhigte sie sich etwas. Aufatmend wollte sie sich in ihre Kissen zurücklehnen, als sie erneut ein Anfall übermannte. Sie würgte und hustete, würgte wieder. Dann spuckte sie einen blutigen Batzen Schleim aus.
Entsetzt blickte Endres auf das Korpus Delikti. Er wurde blass und schniefte. „Du weißt schon lange, an was du leidest“, stellte er fest.
Magdalena nickte darauf nur. „Schon lange“, erwiderte sie.
„Aber warum?“, schrie Endres verzweifelt. „Warum gerade du?“
Magdalena hätte Endres am liebsten in den Arm genommen und ihn getröstet. Aber sie wusste, gutes Zureden und Erklärungen würden ihn weder beruhigen noch weiterbringen. Sie fühlte sich ermattet, wollte am liebsten nur schlafen und Endres aus ihrer kleinen Hütte verweisen. Wie groß mochte wohl seine Trauer sein, wenn sie endgültig von ihm gegangen war. Sie blickte sich in der karg eingerichteten Kate um. Hier hatte sie fast ihr ganzes Leben verbracht und die beiden überlebenden Kinder, die sie von Endres empfangen hatte, großgezogen. In all den Jahren war Endres an ihrer Seite gewesen. Er war ein strenger, aber auch sehr liebevoller Vater für die Kinder und für sie ein genauso liebevoller Ehemann.
Sie versuchte, sich zu erinnern, wie sie sich kennengelernt hatten. Damals war sie noch ein kleines Mädchen, gerade mal fünf Jahre alt. Sie wohnte mit ihrer Mutter am Rande eines winzigen Dorfes in einer ärmlichen Hütte. Der drei Jahre ältere Endres lebte schon in diesem Dorf, als sie mit ihrer Mutter ankam und sie dort eine neue Heimat fanden. Der Junge war der Sohn eines ansässigen Bauern. Auch noch der Einzige, der einmal alles erben würde. Sein Vater hatte im Laufe der Jahre ein kleines Vermögen angehäuft und hatte es nicht mehr nötig, selbst zu arbeiten. Knechte und Mägde taten dies für ihn. Er zahlte nicht viel, aber die Leute, die für ihn arbeiteten, hatten ein Auskommen und ein Dach über dem Kopf. Wenzel, so hieß Endres Vater, verbot ihm, sich mit der Tochter der Hexe abzugeben. Die Leute hatten schnell erkannt, wie ihre Mutter Geld zum Überleben verdiente. Keiner wollte etwas mit ihnen zu tun haben, aber jeder, der medizinische Hilfe brauchte, kam zu ihr. Die Meisten konnten nicht einmal einen Bader bezahlen, daher kam ihnen Magdalenas Mutter gerade recht.
Hexenbalg wurde Magdalena damals oft hinterhergerufen. Ihre Mutter Ursula war eine Kräuterkundige. Sie verdiente damit nicht viel, aber es reichte aus, um nicht zu verhungern. Sie hatten ein Dach über dem Kopf, jeden Tag zu essen und im Winter genug Holz, um nicht zu erfrieren. Die Frauen des Dorfes kamen oft zu Ursula. Vor allem, wenn sie guter Hoffnung waren. Ab und an wollte auch eine der Frauen Hilfe, wenn sie das empfangene Kind nicht austragen wollte. In diesem Fall weigerte sich Ursula, etwas zu unternehmen. Eine Engelmacherin wollte sie nicht sein, auch wenn sie daran weitaus mehr verdienen könnte. Noch heute erinnerte sich Magdalena daran, wie Endres eines Nachts vor Ursulas Tür stand und um Hilfe bat. Er brachte ihre Mutter zu seiner Mutter, die seit Stunden in den Wehen lag und mit ihrer Hilfe ein kleines Mädchen das Licht der Welt erblickte. Seit dem Tag waren die beiden Kinder öfter zusammen, spielten oder machten Unsinn. Auch später, als sie bereits den Kinderschuhen entwachsen waren, waren sie unzertrennlich. Magdalena erinnerte sich gern an diese Zeit, vor allem daran, als sie sich ineinander verliebten. Erst als Endres Vater die junge Liebe bemerkt hatte und seinem Sohn den Umgang mit der Tochter der Hexe verbot, begann für die jungen Leute eine schwere Zeit.