Für Johannes war die Zeit des Wartens schlimm, aber er hatte sie jetzt schon drei Wochen durchgestanden, mit der Hilfe von Jeff sogar mehr oder weniger erfolgreich. Trotzdem fiel es ihm schwer, nicht an Raffaela zu denken und sich voll auf den Handball zu konzentrieren. Den Alltag meisterte er ganz gut, auch wenn er sich nicht verkneifen konnte, aus einer fast schon absurden Hoffnung heraus jeden Tag den Briefkasten zu öffnen und auf einen Brief zu hoffen. Seit ungefähr drei Wochen wurde er davon enttäuscht, aber heute fiel ihm fast ein sandfarbener Umschlag vor die Füße, den er zwischen Rechnungen und Prospekten übersehen hatte.
Während er wieder zurück in die Wohnung ging, betrachtete er den Umschlag genauer. Seine Adresse war in Handschrift mit Tinte auf das Papier geschrieben, ansonsten stand nichts darauf. Er fragte sich, wer seine Adresse hatte und dachte einen Moment lang an Fanpost, aber die wurde eigentlich an den Verein geschickt und nicht an die Privatadresse.
In der Küche legte er die anderen Umschläge zur Seite und öffnete den sandfarbenen umsichtig. Auf den ersten Blick erkannte er dass der Rest des Briefes ebenfalls mit Tinte geschrieben worden war. Er rutschte mit den Augen zum Ende des Briefes und der Absender zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht: Raffa hatte ihm geschrieben.
Hallo Jojo,
ich hoffe, dir geht es gut und du hast dir keine Sorgen um mich gemacht. Alle paar Wochen darf ich auch einen Brief nach außen senden und nach meinem Papa habe ich gleich an dich gedacht. Hier in der Betreuung geht es mir sehr gut. Die Leute sind wirklich nett und ich denke, ich habe so etwas wie Freunde gefunden. Jedenfalls weiß ich jetzt, dass ich nicht alleine bin.
Die Therapie läuft soweit ganz gut, meinen meine Betreuer und dass ich Fortschritte mache. Wenn es so weiter geht wurde mir versprochen, dass ich in zwei Wochen einen Besuch machen darf. Ich weiß nicht, ob mein Vater bis dahin schon aus dem Krankenhaus entlassen worden ist, aber ich würde auch gerne dich besuchen, wenn es für dich in Ordnung ist.
Ob ihr ein Spiel habt, weiß ich nicht, aber wie wäre es, wenn du mir einfach eine SMS schreibst, ob du dich mit mir treffen möchtest? Am Besuchstag darf ich mein Handy nämlich anschalten und dann kann ich die Antwort von dir einfach lesen, so weiß ich Bescheid.
Grüße Jeff bitte ganz lieb von mir, damit er auch mal wieder etwas von mir hört. Und die Mädels aus meinem Verein und der Mannschaft, falls jemand fragt. An alle kann und darf ich eben nicht gleichzeitig schreiben.
Ich werde mich jetzt gleich in die Therapiestunde setzen und wirklich alles geben, damit ich in zwei Wochen auch einen Nachmittag frei habe, das hat mich richtig angespornt und ich freue mich. Ich hoffe, dir geht es auch so.
Bis bald, Raffa
Johannes las den Brief mehrmals und sog dabei jedes Wort in sich auf. Irgendwo in der Nähe seines Bauches bildete sich eine kleine Glücksblase, die seine Laune merklich hob. Sofort suchte er nach seinem Handy, das immer irgendwo hin verschwand, sobald er es auch nur aus der Hand gab. Da der Brief datiert war, musste er nur noch einmal seinen Kalender überprüfen, aber ein simples Training würde ihn sicher nicht vom Treffen abhalten. Er schrieb Raffaela eine SMS zurück, wie vereinbart, und legte sein Handy wieder zur Seite.
Mit einem zufriedenen Lächeln machte er es sich auf seinem Sofa gemütlich. In ihm keimte der Gedanke, gewonnen zu haben, aber gegen was eigentlich? Gegen Raffaelas Krankheit? War sie denn überhaupt offiziell krank und gab es eigentlich dann etwas, was man besiegen konnte? Kopfschüttelnd vertrieb er die Gedanken, er wollte sich die Freude nicht verderben lassen. Viel lieber wollte er seine Freude teilen und als erstes kam ihm da Jeff in den Sinn. Wieder schnappte er sich sein Handy und wählte Jeffs Nummer.
"Hey, was rufst du mich so früh an? Was ist los", grummelte Jeffs Stimme wenige Sekunden später in den Hörer.
"Früh? Es ist nach neun, Jeff. Aber egal, darüber will ich gar nicht mit dir reden. Ich habe heute Post bekommen, Raffaela hat mir einen Brief geschrieben. Ich soll dich, Zitat, ganz lieb von ihr grüßen."
Jeffs Stimme klang sofort wacher. "Oh, na dann ist das ein Grund, um anzurufen. Danke für den Gruß. Was schreibt sie noch so? Geht es ihr gut?".
"Ja, so wie sich der Brief liest eigentlich schon denk ich. Sie schreibt, dass ihr Betreuer sagt, dass sie Fortschritte macht und dass sie die Leute in der Betreuung nett findet. Das hört sich schon an, als würde es ihr ganz gut gehen."
"Ja, da hast du wohl recht. Was schreibt sie noch so? Hat sie was von ihrem Vater gehört, oder vielleicht du?".
Johannes schüttelte den Kopf, schob aber gleich ein "nö" hinterher. "Ich habe nichts von ihm gehört und sie schreibt, dass sie auch nichts von ihrem Vater gehört hat. Keine Ahnung, was mit dem ist und ehrlich gesagt bin ich auch ganz froh darum. Aber was anderes hat sie mir noch geschrieben", fügte er noch hinzu und konnte dabei sein Grinsen kaum verbergen.
"Was denn?", fragte Jeff neugierig nach, er hatte die gute Laune herausgehört.
"Raffaela will sich mit mir treffen, sie darf in zwei Wochen für ein Wochenende raus. Ich nehme an, dass sie davon ausgeht, dass ihr Vater dann noch nicht kann, aber jedenfalls hat sie mich um ein Treffen gebeten."
Jeff stand einen Augenblick lang vor Erstaunen der Mund offen. Nicht nur, dass er nicht damit gerechnet hatte, dass Raffaela jemals so offen sein würde, ihm fiel es auch ein wenig schwer, sich nicht übergangen zu fühlen. "Hm", machte er deshalb nur.
"Jeff? Ist alles okay?", hakte Johannes nach. So kurz angebunden hatte er Jeff bisher nur erlebt, wenn ihm irgendwas nicht passte und das irritierte ihn ein wenig.
"Weiß nicht. Ja, denke schon. Ach, keine Ahnung", seufzte Jeff schließlich, "ich weiß auch nicht genau. Irgendwie freue ich mich für Raffaela und natürlich auch für dich, aber irgendwie habe ich nicht erwartet, dass sie sich lieber mit dir trifft. Aber ich gönne es dir natürlich, immerhin hat du sie ja da raus geholt. Läuft da eigentlich was zwischen euch?".
"Nein, tut es nicht. Ich finde sie schon nett und attraktiv und so weiter, aber ich weiß nicht mal ob das auf Gegenseitigkeit beruht und ob das überhaupt so gut wäre so mitten in der Therapie. Ich will sie nicht ablenken."
Ein paar Sekunden herrschte Stille und Johannes überlegte, wie er die Wogen mit Jeff wieder glätten konnte.
"Jeff, es tut mir leid, dass du sauer bist, damit habe ich irgendwie nicht gerechnet", gab er etwas zerknirscht zu, "ich habe mich einfach so gefreut und naja... ich weiß nicht. Bist du sehr böse?".
"Nein", seufzte Jeff, "böse ist sowieso das falsche Wort. Ich war einen Moment lang enttäuscht, aber es ist alles okay. Das war nicht fair von mir, deshalb vergiss das wieder. Versprich mir nur, dass du mich auf dem Laufenden hältst."
"Fest versprochen", bestätigte Johannes mit einem erleichterten Grinsen.
"Ihr trefft euch also in zwei Wochen. Weißt du schon, was du machen willst an dem Tag?", lenkte Jeff das Thema auf etwas Versöhnlicheres.
"Nein, ehrlich gesagt nicht, ich habe noch nicht wirklich drüber nachgedacht. Hast du eine Idee? Ich hätte an Essen gehen oder so etwas gedacht."
"Ist nicht schlecht, oder ihr geht irgendwo hin spazieren und quatschen oder so?".
"Die Idee ist auch gut, Jeff. Vielleicht lasse ich aber auch einfach sie entscheiden. Vielleicht hat sie nach dem Ausgangsverbot auf irgendwas bestimmtes Lust."
"Das war die beste Idee bisher", gab Jeff zu, "mach das am Besten so. Damit machst du Raffa gleich mit glücklich."
Johannes grinste stolz, allerdings verdarb ihm sein Magen die Freude. "Na dann machen wir das. Du hör mal, wir hören uns, aber ich hab mittlerweile mörderischen Hunger, lass uns wann anders weiter reden. Und falls ich was von Raffaela höre, gebe ich es dir sofort weiter?".
"Na gut, Hunger lasse ich gelten. Dann guten Appetit, genieße deinen freien Tag und wir sehen uns morgen."
"Machen wir, tschüß."
Johannes legte das Telefon wieder zur Seite und begab sich zu seinem Kühlschrank, um nach etwas Essbarem zu suchen. Schnell entschied er sich für Pizza und während der Ofen vorheizte, räumte er den Wohnzimmertisch frei, denn er hatte beschlossen, es sich bequem zu machen.
Dabei räumte er auch Raffaelas Brief zur Seite. Weil er ihn nicht verlieren wollte, legte er ihn neben das Bett, dort kam einfach am wenigsten etwas weg. Obwohl er sich immer noch wahnsinnig über den Brief freute, hatte sich in ihm eine Ungeduld breit gemacht. Zwei Wochen schienen ihm sehr lange und er konnte es aber kaum erwarten, sich mit Raffaela zu treffen. Auf einen bestimmten Termin zu ewarten war fast noch schlimmer, als unbestimmte Zeit zu warten. Er löste sich aus der Starre, in der ihn der Brief bis eben gefangen gehalten hatte, dann ging er wieder zurück in die Küche. Jetzt musste er sich noch 14 Tage ablenken, dann war es endlich soweit. Das würde er auch noch hinbekommen.