Tief in Gedanken kickte er ein paar Kieselsteine vor sich her. Sie hinterließen Spuren auf seinen schwarzen, guten Schuhen, aber das war ihm egal. Im Grunde genommen war ihm jetzt noch viel mehr egal, jetzt wo er niemanden mehr hatte.
Johannes schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. Natürlich hatte er jemanden, genau genommen hatte er sogar ziemlich viele Personen um sich herum, die sich um ihn sorgten. Aber manchmal halfen auch solche Personen nichts. Das hatte Raffas Beispiel gezeigt.
Wieder liefen ihm Tränen über die Wangen. Mittlerweile gab es nichts, was er mehr bereute, als ihren Streit vor ein paar Wochen. Jedes einzelne Wort hallte noch in seinen Gedanken wider und er wünschte sich, er hätte damals anders gehandelt. Am liebsten hätte er seine Worte zurückgenommen, aber auch wenn Raffaela auf seine Entschuldigung reagiert hätte, wäre es genug gewesen.
Vielleicht hatte er auch zu spät in ihrer Wohngruppe angerufen? Auch diese Menschen hatten ihr nicht mehr helfen können, sie hatten Raffaela zu spät gefunden.
Johannes selbst hatte die Meldung nur im Radio gehört, einen Leichenfund mitten in Kassel. Das hatte die Medien aller Sparten aufgeschreckt, denn das kam nun wirklich nicht alle Tage vor. Er hatte sich selbst erst nichts dabei gedacht, aber je öfter er die Menschen darüber reden hörte oder einen Bericht las, desto stutziger wurde er. Natürlich vedrängte er die Möglichkeit, und wenn er im Nachhinein darüber nachdachte, war er sich sicher, dass er hätte etwas sehen müssen. Aber er hatte einfach nichts gesehen.
Wirklich Gewissheit hatte er erst gehabt, als ihn ein Mitarbeiter von Raffaelas Wohngruppe angerufen hatte und von der Beerdigung berichtet hatte. Da war ihm das Herz erst einmal in die Hose gerutscht und wäre Jeff nicht gewesen, wäre er in ein ähnlich tiefes Loch gefallen. Selbst jetzt noch fraßen die Selbstvorwürfe an ihm. Raffaelas nächster Verwandter, ihr Onkel, hatte sich geweigert, die Beerdigung zu bezahlen, und wäre Johannes nicht eingesprungen, wäre Raffaela einfach so verbrannt worden, namenlos.
Er hatte das Gefühl, ihr wenigstens das schuldig zu sein und außerdem hatte er gehofft, so ein wenig sein Gewissen zu beruhigen. Das war aber nicht eingetreten.
Er besuchte ihr Grab, sooft es ging, mehrmals die Woche. Stundenlang saß er auf einer Bank in der Nähe des Grabes, dachte über ihre Beziehung nach und manchmal redete er sogar ein wenig mit ihr. Leise, damit es die anderen Friedhofsbesucher nicht mitbekamen. Ab und zu hatte er sogar das Gefühl, dass es ihm helfen würde. Das zog er nun schon mehrere Wochen durch, ganz alleine, und langsam hatte die Trauer nachgelassen, auch wenn sie vermutlich nie ganz verschwinden würde.
Während er nachdachte, war ihm eine Idee gekommen, wie auch er besser mit dem Tod fertig werden würde. Er hatte sich dazu entschlossen, eine Organisation finanziell zu unterstützen, die sich für die Rechte von missbrauchten Frauen einsetzte. Bei einer Internetrecherche war er auf den Verein Wildwasser gestoßen, den er sich dann auserkoren hatte.
Nach einigen Mailkontakten und Treffen war er nicht nur finanzieller Unterstützer, sondern auch Pate der Organisation geworden und hatte sich für Werbung fotografieren lassen.
Manche seiner Kollegen hatten Nachfragen gestellt, aber Jeff hielt sie ihm ganz gut vom Leib. Er hatte als einziger verstanden, was es mit Johannes' Patenschaft auf sich hatte und er hatte ihm mehrmals gesagt, wie gut er es fand, was Johannes machte.
Jetzt ging er sogar ab und zu mit einem Lächeln ans Grab. Vielleicht konnte er so noch weitere Tode verhindern, und das war ihm die Arbeit wert.
So konnte er leichter Abschied nehmen von Raffaela, auch wenn sie, das hatte er ihr versprochen, für immer einen Platz in seinem Herzen einnehmen würde.
ENDE