Elodie
Jade hielt neben dem Wagen einer kleinen Familie und ich fuhr das Fenster herunter. Die aufgeregte Mutter der beiden Zwillinge hatte die Tür geöffnet und hielt nach dem Ende des Staus Ausschau. „Entschuldigung, was ist denn hierlos?", sprach ich sie besorgt an. Die Frau drehte ihren Kopf. Einzelne Strähnen ihres rotbraunen Haares hatten sich aus der sorgfältig gesteckten Frisur gelöst und klebten an ihrer verschwitzten Stirn. Über der linken Augenbraue zog sich einegezackte Narbe bis zu ihrer Kopfhaut hoch. Trotzdem hatte sie ein beinahe schönes Gesicht, mit vollen Lippen und freundlichen dunkelbraunen Augen. „Ich weiß es auch nicht", erklärte sie. Ich konnte die Angst in ihrer Stimme hören und warf einen Blick auf die beiden Kinder im Auto. Sie waren vielleicht zwei Jahre alt. „Trotzdem danke", antwortete ich und schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. „Keine Ursache", sagte sie freundlich und erwiderte es hilflos. Ich nickte und lehnte mich in meinem Sitz zurück. Jade schaltete das Radio an. Ich beobachtete, wie weitere Autos auf den Stau auffuhren, deren Fahrer die anderen fragend um Auskunft baten. Plötzlich wurde das Musikprogramm des Radiosenders unterbrochen. Eine tief klingende Männerstimme bat um die Aufmerksamkeit der Zuhörer: „Nachdem die ganze Welt schwere Angriffe der Bestien erleiden musste, haben die Tiere nun auch die Stadt Toronto angegriffen. Die Regierung bittet die Menschen sich unauffällig aus dem näheren Umfeld der Stadt zurück zu ziehen und keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ich wiederhole, die Stadt Toronto wurde angegriffen..." Ein lauter Schrei lenkte uns ab. Jade schaltete das Radio aus und sprang aus dem Wagen. Ich tat es ihm gleich. Erst konnte ich nichts erkennen. Doch dann lösten sich deutliche Umrisse aus den Schatten vor uns. Die Umrisse von fliehenden Menschen. Männer, Frauen, Jungs und Mädchen in unserem Alter, aber auch noch ganz kleine Kinder stürzten aus ihren Autos heraus und rannten auf uns zu. Manche von ihnen hatten nicht mal ihr Gepäck mitgenommen. Die Menge schrie uns etwas zu, was ich nicht verstehen konnte, weil sie zu weit weg waren. Einige von ihnen scherten von der Straße in den Wald aus. „Verschwindet! Rennt! Sie kommen zu zehnt!", konnte ich sie endlich undeutlich verstehen. Die Mutter mit den Zwillingen neben uns schoss aus dem Wagen heraus. Ihr Mann nahm die Kinder aus dem Sitz heraus. Sie mussten die Angst ihrer Eltern gespürt haben, denn sie fingen an zu weinen. Die Mutter schnappte sich zwei Taschen und einen großen Rucksack. Ehe sie die Straße verließen und auf den Wald zu rannten, warf sie mir einen kurzen Blick zu: „Viel Glück!" Dann war sie verschwunden. Ich riss die hintere Tür des Autos auf, schulterte meinen Wanderrucksack, griff nach der Tasche mit Adams Sachen und zog die Tüten von der Tankstelle hervor. Die Tasche mit den Einheitsklamotten warf ich über das Dach hinweg Jade zu, der sie geschickt auffing. Dann begannen auch wir zu laufen. Wir flohen nicht nur vor den Spinnen, sondern auch vor der in Panik geratenen Menschenmasse. Wer zögerte, stehen blieb oder hinfiel war des Todes sicher. Man würde einfach von den ängstlichen Menschen niedergetrampelt werden. Wir bahnten uns einen Weg durch die hinter unserem Bus stehenden Autos, aus denen immer mehr Menschen stiegen, sich erst orientierungslos umsahen, bevor auch sie zu rennen begannen. Die letzten Wagen die im Stau standen, wurden von ihren Fahrern gewendet. In atemberaubendem Tempo fuhren sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Links und rechts wurde ich von anderen Flüchtenden überholt. Die Familien versuchten zusammen zu bleiben, doch es war unmöglich. Auch zwischen Jade und mich schoben sichimmer mehr Menschen. Ich war wegen des schweren Gepäcks langsamer als er. Schon bald hatte ich ihn aus den Augen verloren. „Jade!", schrie ich. Doch er hörte mich nicht. Wieder rief ich seinen Namen. Aber der Laut wurde auch dieses Mal vom allgemeinen Geräuschpegel der Menschen verschluckt. Es war schrecklich. Hinter mir hörte ich die ersten Todes- und Schmerzensschreie. Die Bestien hatten uns erreicht. Eltern riefen panisch nach ihren Kindern, die ängstlich weinten. Der Strom trieb mich an einem zurückgelassenen Baby in einer Tragetasche vorbei. Ich wollte mich bücken, um es mit mir zunehmen, doch die Menge riss mich fort, ehe ich nach dem Tragegurtgreifen konnte. Stolpernd rannte ich weiter. Erneut ertönte ein Schrei, diesmal ganz in meiner Nähe. Ich drehte meinen Kopf nach hinten, und erschrak: Die Spinnen waren noch größer als die Tiere, die über die Hardrocks gekommen waren. Zwei von ihnen auf jeder Seite des Highways stoben an der Menge vorbei. Sie wollen uns einkreisen, verstand ich benommen. Meine einzige Möglichkeit entkommen zu können war, über die Leitplanke zu klettern und in den Wald auszuweichen. „Jade", rief ich wieder und ließ meinen Blick hastig über die Köpfe der Menschen schweifen. Doch ihn sah ich nicht. Die Bestien kamen näher. Ich konnte nicht länger warten. Langsam lenkte ich nach links und wartete durch die Masse hindurch. Endlich war ich an der Leitplanke angekommen. Doch der Rucksack behinderte mich. Ich löste die Schnallen von meinen Schultern, und schob die Tüte mit den Lebensmitteln in die Tasche von Adams Sachen. Dann rutschte ich über die Leitplanke. Mit sicheren Beinen landete ich auf der anderen Seite. Ich umschloss die Tasche mit festem Griff, bevor ich über die Blumenwiese sprintete. Der Beutel schlug unangenehm gegen meine Beine. Ich ignorierte ihn. Dann hatte ich den Waldrand erreicht. Ohne zurück zu sehen, tauchte ich in das Dickicht der dichten Vegetation ein. Rennend umrundete ich die Bäume. Es kostete wertvolle Zeit. Trotzdem dauerte es nicht lang, ehe die Schreie der Menschen hinter mir vollständig vom Wald verstummt worden waren. Dennoch lief ich noch ein ganzes Stückchen weiter. Obwohl mein Kopf begann zu hämmern, das Herz schmerzhaft gegen meine Brust schlug, ich quälende Seitenstiche bekam und sich in meinen Beinen ein starkes Brennen ausbreitete, wurde ich nicht langsamer. Auf einmal stolperte ich über eine Wurzel und fiel der Länge nachhin. Mein Kinn schlug hart auf einem Stein auf. Hustend musste ich zwei Zähne ausspucken. Ich schmeckte Blut. Stöhnend blieb ich auf dem Waldboden liegen, bis sich mein schmerzender Körper erholt hatte. Durstig griff ich nach einer Wasserflasche. Mit wenigen Zügen hatte ich sie gelehrt. Unschlüssig was ich jetzt tun sollte, robbte ich zu einem Baum und ließ mich gegen seinen dicken Stamm fallen. Die Bestien hatten Toronto angegriffen. Ich wusste nicht genau, in welchem Stadtteil Jades Onkel Hary lebte, aber es war zu gefährlich in die Stadt zu gehen. Jade würde den Angriff der Tiere auf dem Highway bestimmt in einem sicheren Versteck abwarten und dann zurück kommen, um nach mir zu suchen. Ich seufzte. Ich war weit vom Highway entfernt. Trotzdem würde ich den ganzen Weg zurück laufen müssen. Ich musste Jade unbedingt finden! Er war mein bester Freund. Ohne ihn würde ich in der Wildnis nicht überleben können. Trotzdem war sie der sicherste Ort. Wie ich im Radio gehört hatte, hatten die Bestien Länder auf der ganzen Welt angegriffen. In Städten und auch Dörfern präsentierte man sich ihnen wie auf einem Silbertablett. Das Beste wäre es, sich im Verborgenen zu halten. Doch das war es nicht allein: Ohne Jade hatte ich keine Chance nach Talaisya zu kommen und meine Familie zu befreien. Fiona und Drace konnten mir nicht helfen; sie hatten den Flughafen schon lange erreicht und saßen vielleicht sogar schon in einem Flugzeug. Adam... Er lebte nicht mehr. Und Travel? Seine Tankstelle lag über zwei Stunden Autofahrt zurück. Zu Fuß würde ich mindestens doppelt so lange brauchen. Bis ich angekommen wäre, hätte er sein Zuhause schon längst verlassen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten.
Als nach dem Stand der Sonne eine Stunde vergangen war, machte ich mich auf den Weg. Ich beschloss sicherheitshalber, einen anderen Weg zum Highway einzuschlagen. In einem weiten Bogen ging ich mit der Tasche in der Hand durch den Wald zur Straße zurück. Als ich die Hälfte des Weges geschafft hatte, begann es langsam zu dämmern. Ich umrundete einen kleinen Teich und musste meinen Kurs ein Mal ändern, weil ich mich ein klein wenig verlaufen hatte. Es war schon dunkel, als ich endlich die Straße erreichte. Vorsichtig hielt ich mich einen Moment lang im Dickicht versteckt und beobachtete aufmerksam die Umgebung. Ein blaues Auto fuhr an mir vorbei. Mir fiel sofort auf, dass das Licht ausgeschaltet war. Ich nickte anerkennend. Der Fahrer wollte so verhindern, dass die Bestien auf ihn aufmerksam wurden. Ich folgte dem Verlauf der Straße im sicheren Schutz der Bäume. Als ich aus der Ferne eine hohe Brücke sah, wusste ich, dass ich es bald geschafft haben würde. Als ich mein Ziel endlich erreicht hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als aus meiner Deckung zu kommen. Widerwillig huschte ich geduckt an den stehenden Autos vorbei und ignorierte krampfhaft die abgetrennten Gliedmaßen in den dunklen Blutlachen. Nach kurzer Zeit hatte ich meinen Omnibus erreicht. Jade war nicht da. Von dort folgte ich der Route, über die ich geflüchtet war. Das Baby in der Tragetasche war verschwunden. Ein kalter Windstoß fuhr durch meine Haare und hinterließ eine Gänsehaut. Fröstelnd zog ich die Schultern hoch und sah mich um. Hoffentlich waren die Eltern zurück gekehrt und hatten ihr Kind gefunden. Auch mein Wanderrucksack war nicht mehr zufinden. Ich konnte den Verlust in dem Wissen verschmerzen, dass ihn ein Anderer genommen hatte, der ihn mehr brauchte als ich. Nur um das Familienfoto tat es mir leid. Doch ich konnte es nicht mehr ändern. Ich lief den ganzen Highway ab, vom Anfang des Staus bis zum Ende, doch Jade konnte ich nicht finden. Trotzdem zweifelte ich nicht daran, dass er es geschafft hatte. Jade war ein Überlebenskünstler. Er war hart im Nehmen. Als ich den Highway schon wieder verlassen wollte, um mir einen Unterschlupf zu suchen, hörte ich es: Ein gedämpftes Wiehern. Ich lauschte. Nach kurzer Zeit erklang das Geräusch wieder. Ich folgte ihm. Der Laut drang aus einem Pferdeanhänger, der an einen Jeep angekoppelt war. Ich linste durchdie Schlitze hindurch. Ein kupferfarbenes Pferd hatte sich in einer viel zu langen Leine verheddert. Es beschwerte sich mit einem empörten Schnauben. Ich seufzte. Ich hatte Pferde noch nie leiden können. Doch meine Arbeit auf dem Hof hatte mich durch jahrelange Erfahrung einen gesunden Respekt vor den Tieren gelehrt. Außerdem hatte ich Mitleid mit dem Pferd. Viele von ihnen fürchteten sich vor dem engen Anhänger. Doch die Laderampe ließ sich nicht öffnen. Im Jeep fand ich einen Werkzeugkasten. Während ich beruhigend zu dem Pferd sprach und versuchte nicht allzu viel Lärm zu machen, knackte ich die zwei Schlösser auf jeder Seite. Nach einem weiteren kleinen Kampf konnte ich die Klappe schließlich öffnen. „Hey mein Schöner", begrüßte ich das Tier leise. Soweit es die Leine zuließ drehte es seinen edlen Kopf in meine Richtung. Obwohl es mich nicht kannte, schien es keine Angst zu haben. Eher war es erleichtert, dass sich endlich jemand erbarmte um ihm aus seiner misslichen Lage zu befreien. Mit zwei schnellen Handgriffen hatte ich die verhedderte Leine entknotet und führte das Tier die Rampe auf die Straße herunter. Dann löste ich das Seil von seinem Halfter. An der Seite war mit teurem Garn liebevoll ein Name aufgesteckt worden, den ich wegen der Dunkelheit nicht richtig erkennen konnte. Doch die geschwungenen Buchstaben schienen das Wort Moonwalker zu bilden. Mit einem Blick unter den Bauch stellte ich fest, dass das Tier kein Wallach war (wie ich zuerst angenommen hatte), sondern eine Stute. Ich strich über ihre Nüster und den lang gebogenen Hals. Ihr Fell war weich und warm. „Na los, Moonwalker! Ab in die Wildnis", murmelte ich leise. Doch die Stute reckte ihren Kopf, stupste mich an und schnaubte. Es klang irgendwie dankbar. „Möchtest du nicht gehen?", erkundigte ich mich sicherheitshalber, als ob das Pferd mich verstehen könnte. Wie zur Bestätigung schüttelte Moonwalker ihren Kopf. Die sorgfältig, zu winzigen Zöpfen geflochtene Mähne, flog bei der Bewegung hin und her. Ich musste lachen. In der Stille der Nacht klang es unheimlich und laut. Ich kletterte auf den Jeep und stieg von dort auf Moonwalkers Rücken. Hoffentlich ist sie beritten und wirft mich nicht ab, dachte ich und hatte Glück. Die Stute folgte meinen sanften Befehlen ohne Widerwillen. Schon nach wenigen Metern merkte ich, dass sie einen unglaublich angenehmen Sitz hatte und sich leichter reiten ließ, als alle anderen Pferde die ich bisher kannte. Ich lenkte Moonwalker vom Highway zurück in den Wald hinein. Morgen würde ich zum Highwayzurück kehren und auf Jade warten. Ich hoffte, dass wir uns wiederfinden würden. Doch die Straße war überschaubar. Eigentlich konnten wir uns gar nicht übersehen. Wir mussten nur zur selben Zeit am richtigen Ort sein. Das konnte ja nicht so schwer sein...
Jade
Ich rannte um mein Leben. Ab und zu warf ich einen Blick über die Schulter nach hinten, konnte Elodie aber nicht entdecken. Die Menschenmenge hatte sich zwischen uns gedrängt. Mit ihrem schweren Wanderrucksack war sie ohnehin viel langsamer als ich. Leise fluchend beobachtete ich, wie die Bestien versuchten, die Masse einzukreisen. Kopflos rannten die panischen Menschen schreiend über den Highway. Einige wichen in den naheliegenden Wald aus. Ob Elodie eine von ihnen war? Oder befand sie sich noch irgendwo hinter mir unter den fliehenden Menschen? „Elodie!", rief ich ihren Namen. Doch ich erhielt keine Antwort. Die Brücke kam näher. Ich konnte nicht länger warten, wenn ich nicht sterben wollte. Ich richtete mich nach rechts aus. Zielstrebig bahnte ich mir einen Weg durch den stetigen Strom. Man machte mir widerstandslos Platz. Als ich endlich den Pfeiler der Brücke erreicht hatte, sprang ich hoch. Das heiße Metall bohrte sich schmerzhaft in meine Handfläche. Gequält verzog ich das Gesicht, ließ aber nicht los. Die Brücke war meine einzige Überlebenschance. Zähneknirschend hangelte ich mich an den vorstehenden Sprossen hoch. Ich hoffte inständig, dass ich durch die Brücke vor den Blicken der Bestien geschützt war und dass die anderen Flüchtenden sich nicht an mir ein Beispiel nahmen. Das würde die Aufmerksamkeit der Tiere unweigerlich auf den gewaltigen Bau über dem Highway lenken. Ich war schon fast oben angekommen, als mich ein komisches Gefühl beschlich. Doch ich konnte es irgendwie nicht richtig einordnen. Einen Windstoß, ein kaum hörbares Quietschen und einen heftigen Ruck später wurde mir alles klar, aber es war längst zu spät, als das ich hätte reagieren können. Eine der rostigen Sprossen löste sich unter meinem Gewicht und stürzte in die Tiefe. Unkontrolliert verlor ich das Gleichgewicht und schwenkte zur Seite. Mein ganzer Körper hing nun an meiner rechten Hand, die sich krampfhaft an der Sprosse auf der anderen Seite des Pfeilers fest klammerte. Hilflos baumelte ich von der Brücke herunter. Mittlerweile befand ich mich sechs Meter über dem Erdboden. Das einzig Gute daran war, dass ich so vollständig aus dem Blickfeld der Spinnen verschwunden sein dürfte. Das nützte mir aber nicht das Geringste, falls sich diese Sprosse auch noch aus der Verankerung lösen sollte. Ich schlang meine Beine um den Pfeiler und fühlte mich sofort etwas sicherer. Allerdings litt mein Schwanz ziemlich unter dem unagnehmen Druck. Ich ignorierte den Schmerz und schob mich Stück für Stück höher, bis meine linke Hand wieder eine Sprosse zu Fassen bekam. Dann hatte ich es geschafft. Mit einem Arm umklammerte ich die Brüstung der Brücke, während ich die letzten Sprossen hochkletterte, bis ich mein Bein über das Geländer schwingen konnte. Ich rollte mich ab, presste die Tasche fest an mich und duckte mich hinter das Geländer. Zwischen den Gitterstangen hindurch hatte ich den Highway genau im Blick. Ich war in letzter Sekunde entkommen. Auf der Brücke war ich vor den Bestien in Sicherheit. Doch die Menschen auf der Straße waren den Ungeheuern schutzlos ausgeliefert. Gnadenlos machten die Viecher Jagd auf die Männer, Frauen und Kindern. Entweder wurden sie in die klebrigen Netze eingewickelt oder gefressen. Die Tiere veranstalteten eine organisierte Hetzjagd auf die Flüchtenden und es machte ihnen Spaß. Nach einer Stunde war das Gemetzel endlich vorbei. Die Spinnen zogen weiter. Kein Einziger hatte überlebt. Es begann zu dämmern. Der Wind frischte von den Hardrocks her auf und brachte die typische Kälte des herannahenden Herbstes mit sich. In der Tasche entdeckte ich einen Rollkragenpullover. Ich lächelte dankbar. Elodie hatte an Alles gedacht. Nach einer weiteren halben Stunde die ich hinter den Gittern zusammen gekauert wartend verbrachte, gab ich es auf. Ich glaubte nicht, dass Elodie heute noch zum Highway zurück kehren würde. Ich beschloss mit einem der zurück gelassenen Autos nach Toronto zu fahren. Elodie hätte mir dafür eine geknallt. Auch ich wusste, dass es gefährlich war. Aber vielleicht hatte Hary überlebt, hielt sich in seiner Wohnung versteckt und brauchte dirngend Hilfe. Schließlich war er nicht mehr der Jüngste. Er war der einzige Verwandte, der mir in Kanada geblieben war. Ich würde morgen zum Highway zurück kehren und den ganzen Tag lang auf Elodie warten. Doch in der Nacht würde es zu gefährlich sein. Wölfe, Beeren und Pumas würden das von den Bestien verschmähte Fleisch wittern. Und falls die monströsen Spinnen in der Nacht zurück kehren würden, hätte ich keine Chance. Die Nächte in der Wildnis Kanadas waren dunkler als meine Westentasche. Ich hoffte, dass Elodie den Spinnen entkommen war und auch die Nacht überstehen würde. Ich wusste, sie war stark. Trotzdem machte ich mir Sorgen um sie. Ich war zwar nur drei Jahre älter als sie, hatte aber irgendwie die Vaterrolle übernommen, seit ihr Dad nach Argentinien gegangen war. Ich musste sie einfach beschützen. Wenn ihr etwas zustoßen würde, würde ich mir das nicht verzeihen können. Ich kniff die Augen zusammen, während ich langsam aufstand. Deshalb hatte ich es zu Anfang auch nicht gern gesehen, dass Adam sie mochte. Erst später hatte ich dann gemerkt, dass er ein echt cooler Typ war. Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Und jetzt war er tot. Gefressen von einer Bestie, direkt vor Elodies Augen. Ich zog die Schultern hoch, als ich mich an ihren gequälten Gesichtsausdruck erinnerte. Elodie hatte ein gutes Herz. Sie hatte so etwas Schreckliches nicht verdient. Das blaue Auto stand mit offenen Türen neben einem Vorfahrtsschild an einer Kreuzung. Der Schlüssel steckte noch. Nachdem ich den Tank überprüft hatte, setzte ich mich hinter das Lenkrad und schmiss die Tasche auf den Beifahrersitz. Bevor ich los fuhr, schaltete ich die Lichter aus. Das Brummen des Motors würde schon genug Aufmerksamkeit auf mich lenken. Während ich nach Toronto fuhr, schaute ich immer wieder zum Waldrand hinüber. Mittlerweile war ich mir sicher, dass Elodie in den Wald geflüchtet war. Doch niemand war zu sehen. Die Straße lag leer und verlassen vor mir. Als ich Toronto erreicht hatte, parkte ich das Auto versteckt hinter einem Müllcontainer, schnappte meine Tasche und joggte ohne zu Zögern in die düstere Stadt hinein. Ich war froh, dass Elodie nicht bei mir war. Sie hätte sich vor Angst in die Hosen gemacht. Obwohl die Situation alles andere als lustig war, konnte ich mir ein amüsantes Grinsen nicht verkneifen. Das war meine Rache dafür, dass sie mich als Fünfjährige immer damit aufgezogenhatte, dass Jade eigentlich ein Mädchenname war. Als ich ein Geräusch hörte, verging mir das Lachen jedoch. Schnell drückte ich mich dichter in die Schatten der Häuser. Als nichts weiter zu sehen war, schlich ich weiter, vorsichtiger diesmal. Schon bald hatte ich das Zentrum der Stadt erreicht. Meine Befürchtung bestätigte sich.Toronto war eine Geisterstadt. Die Elektrizität war ausgefallen. Wie auf dem Highway lagen auch auf den Straßen hier Müll, Gepäckstücke und abgetrennte Leichenteile herum. Zerstörte und umgekippte Autos versperrten den Weg. Trotz der Dunkelheit konnte ich die Geier über den Dächern der Stadt kreisen sehen. Über der gesamten Szenerie lag ein schwerer Geruch. Als ich auf die Dachterrasse eines Miethauses kletterte, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen, wusste ich auch warum. Der gesamte östliche Teil der Stadt stand in Flammen. Auch wenn man das Feuer von der Straße aus nicht sehen konnte, wusste ich, dass es sich rasend schnell ausbreiten würde. Ich fluchte unterdrückt und machte mich auf den Weg nach unten. Ich musste Hary finden und dann mussten wir schleunigst von hier verschwinden, ehe wir gegrillt werden würden. Die letzten Meter der Strecke legte ich sprintend zurück. Das Hochhaus wirkte auf den ersten Blick verlassen. Kein Licht drang durch die Fenster in die Nacht hinaus. Ich trat die alte Eingangstür ein und fiel ungeschickt hin, weil sie nur angelehnt gewesen war. Hary wohnte in der obersten Etage. Das waren fünfzehn Stockwerke. Im Eiltempo sprang ich die Treppe, immer zwei Stufen aufeinmal nehmend, hoch. Außer Atem blieb ich, mit den Händen auf die Knie gestützt, vor Harys Wohnung stehen. Doch ich hatte keine Zeit. Das Feuer kam mit jeder verstreichenden Minute näher. Ich konnte esbereits deutlich riechen. Auch Harys Tür war nur angelehnt. Als ich die Wohnung betrat, sah ich es sofort: In der Küche brannte eine kleine Kerze. Auf dem Tisch stand ein Teller mit einem angeschnittenen Sandwich. Hary musste überlebt haben und in der Nähe sein! Aber wo war er? Vielleicht auf der Toilette? Mit wenigen Schritten hatte ich die ganze Wohnung durchsucht. Sie war leer. Einer letzten Idee folgend befühlte ich die Sitzfläche des Stuhls vor dem Teller mit dem Sandwich. Der seidene Bezug des Sitzkissens war noch warm. Hary konnte also nicht lange weg sein! Vielleicht war er unten im Innenhof? Ich trat ans Fenster, linste durch die Jalosie hindurch und erstarrte: Dort unten, im schimmrigen Licht der Notfallbeleuchtung, sah sich mein Onkel hilflos einer Bestie gegenüber stehen. Hinter seinem Rücken klammerte sich eine junge Frau an seine Schultern. Verzweifelt versuchte der ältere Mann das ängstliche Mädchen zu schützen, aber selbst aus der Entfernung konnte ich sehen, wie sehr er sich vor dem Untier fürchtete. Obwohl die Spinne kleiner war als alle die ich zuvor gesehen hatte, musste ich zugeben, dass sie trotzdem nicht minder furchteinflößend wirkte. Höchste Zeit das ich als heldenhafter Ritter die Bestie in die Flucht schlug! Ratlos kratzte ich mich am Kopf, weil ich leider keine Ahnung hatte, wie ich das jetzt genau anstellen sollte. Doch das Feuer kam immer näher. Mir rannte die Zeit davon. Da fiel mir ein, dass ich in Harys Schlafzimmer einen Langsäbel gesehen hatte. Der könnte von Nutzen sein. Bevor ich ins Treppenhaus rannte, überprüfte ich die Klinge. Sie war schärfer als scharf. Dann sprang ich die Treppen hinunter und verlief mich zwei Mal, weil der Weg in den Innenhof komplizierter war, als ich gedacht hatte. Als ich mein Ziel endlich erreicht hatte, hatte sich die Szenerie nicht sehr verändert. Die Spinne war zwar näher gekommen und Hary und das Mädchen dem entsprechend weiter zurück gewichen, aber alles in Allem schien das Tier auch nicht genau zu wissen, was es mit den beiden Menschen vor sich anstellen sollte. Lautlos sprang ich auf einen hohen Stein. Dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und machte von dort einen gewaltigen Satz auf den Rücken der Spinnen. Sie merkte es nicht einmal. Doch Hary und die Frau hatten mich sehr wohl gesehen und versuchten nun alles, um das Untier von mir abzulenken. Die Bestie legte den Kopf leicht schief, aber richtig provozieren ließ sie sich nicht. Vorsichtig rutschte ich auf ihrem gepanzerten Rücken immer weiter nach vorne. Als sie einen plötzlichen Schritt zur Seite machte, verlor ich beinahe die Balance, fing mich aber gerade noch rechtzeitig. An der Stelle ihres Körpers, wo der Rücken zum Hinterkopf überging, war das Fleisch des Tieres ungeschützt. Ich hatte nicht besonders gut in Naturwissenschaften aufgepasst, war mir aber dennoch relativ sicher, dass sich ungefähr auf dieser Höhe das Herz der normalen Spinnen befand. Vielleicht hatte ich ja Glück und die Anatomie ihrer großen Verwandten war nicht ganz so anders. Ich zog den Säbel aus der Scheide. Das Geräusch war lauter als ich beabsichtigt hatte. Die Bestie hielt inne. In dem Moment stieß die Frau einen schrillen Schrei heraus und konnte das Ungeheuer wieder ablenken. Vorsichtig stellte ich mich hin, holte bis zum Anschlag aus und ließ den Säbel herunter fahren. Mühelos drang die Klinge in den Körper der Bestieein. Die gab einen hohen Schmerzensschrei von sich. Ich packte den Griff der Waffe fester, zog sie heraus und ließ sie erneut herab fahren. Das Tier schwankte, gab unter mir nach und brach leblos zusammen. Bombe! Offenbar hatte ich das Herz genau getroffen. Das war ja fast zu einfach für mich gewesen... Wenn man vom Weg zum Innenhof einmal absah. Möglichst elegant fing ich meinen Sturz mit einer Rolle ab und zog, noch im Schwung der Bewegung, den Säbel aus der Bestie heraus. Dann wandte ich mich an Hary und umarmte ihn wortlos. „Ich dachte ihr hättet es nicht geschafft!", gab dieser voll Anerkennung zu. Ich drückte ihn fester an mich. Er stockte. „Wo ist sie? Wo ist das Mädchen?", wollte er wissen, umfasste meine Schultern mit festen Griff und schob mich eine Armeslänge von sich auf Abstand. „Ich hab sie verloren", erwiderte ich leise und schluckte. Hoffentlich kam Elodie morgen zum Highway. Irgendwie konnte ich nicht glauben, dass sie den Bestien zum Opfer gefallen war. Sie hatte es an einem einzigen Tag so weit geschafft, sie würde es auch noch weiter schaffen. Dann wandte ich mich der Frau hinter Hary zu. Dieser drehte sich ebenfalls zu ihr um und stellte uns vor: „Goldica? Das ist mein Neffe Hary. Hary? Das ist Goldica." Im Dunkel der Nacht konnte ich ihr Gesicht nur in Schemen erkennen. Trotzdem erkannte ich, dass sie klein war. Kleiner als es auf den ersten Anschein gewirkt hatte. Goldica reichte mir ihre Hand. Ich ergriff sie. Sie fühlte sich weich und warm an. „Hallo", sagte ich.„Hi", erwiderte sie selbstbewusst. Ihre Stimme klang tief. Fast schon männlich. Und ein kleines bisschen verwegen. Ich musste grinsen. Eine kleine Wildkatze also. Das würde interessant werden. Denn ich liebte Herausforderungen. Und ich liebte die Herausforderung noch mehr, wenn sie eine Frau war. Doch dann hörte ich es: Das Feuer. Es musste schon ganz nahe sein. Hary und Goldica hatten es auch bemerkt. „Wir sollten von hier verschwinden", schlug ich intelligent vor und reichte Hary den Säbel. Mit einem stolzen Funkeln in den Augen nahm er ihn so vorsichtig entgegen, als ob er ein kostbarer Schatz wäre. Ich umrundete die auf dem Boden liegende Bestie. Die Anderen folgten mir. Wir verließen den Innenhof durch das Haus. Auf der Straße angekommen, konnten wir nicht nur das Feuer sehen, sondern auch den dichten Rauch. Ich übernahm automatisch die Führung und begann zu joggen. Hary und Goldica hielten sich dicht hinter mir. Die letzten Meter zum Müllcontainer rannten wir, denn das Feuer machte immer mehr Boden gut. Mir fiel das Atmen schwer. Der giftigtige Rauch gelange in meine Lunge. Es war anstrengend, ihn wieder und wieder heraus husten zu müssen. Wir stürzten in den Wagen. Ich auf den Fahrersitz, Goldica neben mir, Hary hinten. Ich ließ den Motor an und wir verließen die brennende Geisterstadt.
Ende von Kapitel 3