135 Tage später
Elodie
Für jeden Tag, den ich überlebte, ritzte ich mit meinem Taschenmesser eine Kerbe in den hölzernen Türpfosten neben meinem Bett. Und an jedem Abend, an dem eine weitere Kerbe hinzukam, stand ich am Geländer der kleinen Veranda, starrte blicklos in den Wald hinein und dachte an Adam. Je mehr Zeit verging, desto weniger vermisste ich ihn, aber der brennende Schmerz in meinem Herzen blieb. Genau wie die bohrenden Schuldgefühle. Wenn ich schneller bei Adam gewesen wäre, wenn ich schneller reagiert hätte, als die zweite Bestie uns überraschte... Ich wusste, dass ich Adam hätte retten können. Und dann wäre er immer noch am Leben und hier, bei mir. Ich war zwar nicht Adams Mörder, aber ich war mitverantwortlich für sein Ende und die schreckliche Art, wie er es gefunden hatte. Und das war fast noch schlimmer. Während mein Junge nie wieder lachen oder weinen würde, ging über meinem Haupt mit jedem Morgen wieder die Sonne auf. Die schwere Schuld, die ich zu jener Stunde auf mich geladen hatte, würde nie verschwinden, nie vergehen. Sie würde mich begleiten, bei jedem Schritt den ich tat, bei jedem Atemzug den ich nahm. Als ich endlich, Monate nach seinem Tod, verstanden hatte, dass Adam von dieser Erde gegangen war, hatte ich ihm und auch mir drei Dinge versprochen: Erstens: Ich würde nie wieder auch nur eine einzige Träne vergießen. Das stand mir schon längst nicht mehr zu. Zweitens: Niemand würde jemals Adams Platz in meinem Herzen einnehmen. Wenn er nicht gestorben wäre, wären wir noch zusammen und trotz aller Gefahren glücklich, weil wir einander hatten. Wenn ich ihn nicht haben konnte, zog ich die lebenslange Einsamkeit vor. Drittens: Ich würde alles versuchen, damit die Bestien besiegt werden würden. Doch aller Anfang war schwer und meiner war ganz besonders klein. Ich würde mit der Rettung meiner Familie beginnen. Ich hatte gehofft, das Jade und ich Talaisya finden und zusammen meine Mom und meine beiden Schwestern befreien würden. Falls sie denn noch lebten - aber ich erlaubte mir keine gegenteilige Gedanken. Ich verbat sie mir, wie man einem kleinen Kind den Mund verbietet. Wenn ich meine Liebsten erst in Sicherheit gebracht hätte, so malte ich mir aus, würde ich die Bestien aus dem Untergrund heraus bekämpfen. Für beide Teile dieses Plans brauchte ich Verbündete. Allein war es nicht zu schaffen, aber genau das war ich: Allein. Seit dem ersten Tag der Apokalypse waren 135 Tage vergangen. Vor 135 Tagen hatten die Bestien meine Familie entführt und Adam getötet. Vor 135 Tagen hatte ich Jade zum letzten Mal gesehen. Seit 135 Tagen quälte mich die Ungewissheit, ob er die Panik überlebt hatte oder gestorben war. Ich war jeden Tag zum Highway geritten und hatte mindestens vier Stunden lang nach meinem besten Freund Ausschau gehalten. Doch er war nicht gekommen. Schließlich hatte ich mir eingestanden, dass er entweder tot oder ohne mich weiter gezogen sein musste. Und so hatte ich meine Suche nach ganzen 23 Tagen aufgegeben. Nun, da ich ahnte dass Jade und ich uns wahrscheinliche nie wieder sehen würden, musste ich mich auf die Suche nach anderen Verbündeten machen. Aber die Gegend um mich herum war wie ausgestorben. Ich fühlte mich wie der letzte Mensch auf der Erde. Hätte ich Moonwalker nicht gehabt, wäre ich verrückt geworden. So war mir nichts anderes übrig geblieben, als mir aus der verfallenen Hütte ein neues Zuhause aufzubauen. Nachdem ich Moonwalker aus dem Anhänger befreit hatten, waren wir in den Wald geritten, um Schutz für die Nacht zu suchen. Ich hätte zwar lieber in meinem gemütlichen Omnibus übernachtet, aber meine Angst, dass die Bestien zurückkommen könnten, war größer gewesen. Moonwalker und ich hatten, vielleicht eine Stunde vom Highway entfernt, eine Lichtung gefunden, auf der eine kleine und verwahrloste Hütte stand. In der ersten Nacht hatten wir im angebauten Schuppen übernachtet. Ich schlief unruhig und wachte schon vor den ersten Sonnenstrahlen auf. Erst dann hatte ich meinen Unterschlupf genauer in Augenschein nehmen können. Die Lichtung war wie ein kleiner Schatz in der Wildnis: Das bauchige Haus mit den kleinen Butzenfenstern und dem Reetdach, der angebaute Stall, der Garten mit dem Steinbrunnen und einem kleinen Gemüsebeet das von einer ramponiert aussehenden Vogelscheuche beschützt wurde. Ein kaputter Zaun zog sich um das gesamte Grundstück. Ich nahm an, dass er von Hand gebaut war, denn die Latten bestanden aus einfachen Baumästen. Eine steinige Treppe führte zur Veranda der Hütte hinauf. Die eine Hälfte der Terasse war leer, in der anderen stand ein hölzerner Schaukelstuhl. Der Wind schaukelte ihn stets hin und her, sodass es beinahe ein wenig so wirkte, als ob jemand auf dem Stuhl sitzen würde. Die Hütte selbst beherbergte eine urige Küche, ein großzügiges Wohnzimmer mit Kamin und ein Badezimmer mit Dusche. Über eine steile Leiter gelangte man auf den Dachboden. Dort hatte der Vorbesitzer das Schlafzimmer eingerichtet. Ein gigantisches Himmelbett nahm beinahe den gesamten Raum ein, sodass nur noch Platz für einen schmalen Abstelltisch und einem winzigen Schrank übrig blieb. Alles war verwaist, hier musste schon lange niemand mehr gewesen sein. Deswegen fühlte ich mich einigermaßen sicher. Aber das war ich nicht. Ich war zwar allein und auch wenn durch diese Gegend nie Jemand zu kommen schien, konnte natürlich trotzdem jeder zu jeder Zeit in meinen Garten stolpern. Und mein Plan hatte noch nicht mal in seinen Grundzügen ausgeführt werden können. Ich hatte meinen besten Freund verloren, egal ob er noch lebte oder gestorben war, denn mal ehrlich: Wer würde sich in dieser Welt je wiederfinden? Ein neues Zeitalter hatte begonnen. Und mit jedem Sonnenuntergang, mit jeder Kerbe die ich einritzte, musste ich mich immer und immer wieder fragen, ob ich in dieser gefährlichen Welt überhaupt leben wollte. Tag für Tag stellte ich mich dem Überlebenskampf. Wenn ich morgens aufstand, konnte ich mir nie sicher sein, ob ich mich am Abend auch wieder würde schlafen legen würde. Auch wenn es mir im Gegensatz zu den meisten Anderen wahrscheinlich verhältnismäßig gut ging, lebte ich doch in ständiger angst vor den Bestien. So war die Lebensqualität nicht besonders groß. Aufzugeben, sich fallen zu lassen, das war eine große Versuchung für mich. Wenn es mir besonders schlecht ging, stand ich also das eine oder andere Mal mit dem Messer an meinem Hals in der Mitte der kleinen Lichtung. Und das eine oder andere Mal hätte ich fast nachgegeben. Doch dann dachte ich an meine Familie, an Adam und an mein Versprechen und ich zwang mich weiterzumachen. Es gab solche und solche Tage. An manchen Tagen fiel mir alles etwas leichter, an anderen Tagen hatte ich das Gefühl, durch meine schwere Last keinen einzigen Schritt mehr gehen zu können. Heute jedoch war ein guter Tag. Die Sonne schien und es versprach ein herrlich warmer Tag zu werden. Ein Eichhörnchen flitze unweit von mir einen dicken Baumstamm hinauf, ein Reh lugte neugierig durch das dichte Geäst und ein Eichelhäher stieß seinen mahnenden Ruf aus. Die Tiere wussten es und auch ich konnte es in der Luft riechen: Der Spätsommer hatte begonnen. Die Zeit, in der auch die ersten Speisepilze anfingen zu wachsen und unweit von meinem kleinen Häuschen hatte ich auch tatsächlich schon ein paar von ihnen entdeckt. Heute würde es also Pilze zum Mittagessen geben. Der Korb wurde randvoll. Beim Kochen würde die Menge aber wieder ganz schön in sich zusammen schrumpfen. Das war nicht weiter schlimm, für mich allein würde es allemal reichen. Ich kehrte mit dem Korb in der Hand zu meiner Hütte zurück. Als ich auf die Lichtung trat, herrschte mit einem Mal Totenstille. Verwundert hielt ich inne. Sonst war die Lichtung immer vom lebendigen Gezwitscher der Singvögel erfüllt, die sich durch meine Anwesenheit nicht im Geringsten stören ließen. Doch nun war alles ruhig. Auch Moonwalker, die das besonders saftige Gras um den Brunnen herum zu ihrem Lieblingsplatz auserkoren hatte, war nirgends zu sehen. Ich runzelte die Stirn und stieg die Stufen zu Veranda hinauf. Der Schaukelstuhl quietschte im Wind. Ich öffnete die Tür. In der Küche stellte ich den Korb auf dem Tresen ab und bückte mich, um das Schneidemesser aus der unteren Schublade zu holen. Ich sah es nicht kommen. Plötzlich trat mir jemand hart in die Seite. Ich hörte meine Rippen protestierend knacken. Im nächsten Moment flog ich mit dem Rücken gegen die Wand und knallte auf den Fußboden. Benommen blinzelte ich. Ein Geräusch, das silberne Blitzen eines Messers über mir... und das überraschte Keuchen, als ich die Hand mit der Waffe abfing und das Gelenk nach hinten verdrehte. Ich wusste den gelungenen Überraschungsmoment zu nutzen. Blitzschnell war ich auf den Beinen, sprang von vorne auf die Schultern des noch immer knienden Angreifers und riss ihn mit meinem Körpergewicht nach hinten. Nun war ich auf ihm, griff nach dem Dolch hinter mir und presste die Waffe an die Kehle meines Gegenübers. Es war ein Junge. Er musste ungefähr in meinem Alter sein. Jetzt streckte er beide Arme über den Kopf und sah mir flehend direkt in die Augen. Sein Blick ging mir durch Mark und Bein. Unwillkürlich löste ich den Druck etwas von der gefährlichen Waffe in meinen Händen, traute mich aber nicht, sie ganz von seiner Kehle zu nehmen. Immerhin hatte er mich angegriffen, woher sollte ich wissen was er als nächstes tun würde? Plötzlich wurde die Tür zur Hütte aufgestoßen und ein maskierter Mann mit gezogener Waffe stürmte in die Küche. "Keine Bewegung, oder ich töte den Jungen!", rief ich schrill.
Jade
Mit dem Feuer kamen die Bestien. Und ich war schon wieder auf der Flucht. Diesmal in Begleitung. Goldica saß neben mir und Hary hinter uns auf der Rückbank. Wir hatten die brennende Stadt gerade erst verlassen, als Goldica in den Rückspiegel gedeutet hatte. „Seht mal.“ Und wir sahen. Mindestens zwölf der fremdartigen Tiere hatten die Verfolgung aufgenommen. Ich lenkte das kleine blaue Auto mit Höchstgeschwindigkeit auf den abwegigsten Routen entlang. Trotzdem dauerte es viele Wochen, ehe wir die Tiere endlich vollends hatten abschütteln können. Die Flucht hatte mich weit vom Highway entfernt und als ich endlich hatte zurück kehren können, wusste ich instinktiv, dass Elodie die Suche nach mir aufgegeben hatte und nicht mehr zum Highway kommen würde. Seit diesen Geschehnissen sind 135 Tage vergangen. Heute war einer dieser Abende im Spätsommer, an dem die Grillen zirpten und die Atmosphäre so merkwürdig melancholisch war. Ich war tief in Gedanken versunken und grübelte sowohl über die Zukunft, als auch über die Vergangenheit nach. Und natürlich musste ich dabei auch an sie denken, meine beste Freundin. Unsere Geschichte reichte bis weit in die Vergangenheit zurück: Meine Mutter war bereits mit mir, ihrem ältesten Kind, schwanger gewesen, als sie und mein Vater beschlossen hatten, die Türkei zu verlassen und nach Kanada auszuwandern. Sie waren schon in ein Mietshaus auf dem Reiterhof von Elodies Eltern, Taylor und Sara, eingezogen, als ich geboren wurde. Drei Jahre später hatte Elodie das Licht der Welt erblickt. Als wir in meinem Sandkasten unsere Freundschaft mit einem Eskimokuss besiegelten, war ich neun und sie sechs Jahre alt gewesen. Seitdem war viel Zeit vergangen. Unsere Freundschaft hatte all die Jahre über gehalten, war gewachsen und hatte immer mehr an Tiefe gewonnen. Ich hatte Elodie aufwachsen und sich entwickeln sehen. Sie hatte gute Noten geschrieben, war in der Schule beliebt gewesen und hatte viele Freundschaften geschlossen. Elodie war neben mir natürlich noch mit anderen Jungs befreundet gewesen. Zu behaupten, dass ich nicht eifersüchtig gewesen wäre, mein kleines Mädchen von Nebenan mit anderen Genossen meines Geschlechts teilen zu müssen, wäre gelogen gewesen. Zu meinem Glück hatten diese, teilweise richtig besonderen, Verbindungen nie lange gehalten. Denn es gab ein großes Problem: Jeder Junge der sich mit Elodie anfreundete, verliebte sich früher oder später in sie. Das war der größte Unterschied zwischen ihnen und mir. Im Gegensatz zu ihnen hatte ich mich nämlich nie in Elodie verliebt. Die Liebe die ich für sie empfand, war von freundschaftlicher Natur. Sie war meine bessere Hälfte und mein Anker im Sturm, während ich für sie immer die Rolle des Beschützers angenommen hatte. Nur ich hatte ihre Tränen gesehen, wenn sie Herz für Herz brechen musste, weil sie die Gefühle einfach nicht erwiderte. Sie litt von allen Beteiligten am meisten. Ihre besten Freundinnen Fiona und Drace hatten die aufkeimenden Frühlingsgefühle ihrer männlichen Gegenstücke immer liebevoll als den „Elodiecrash“ bezeichnet. Sie hatten ja keine Ahnung, wie sehr Elodie das verletzt hatte. Einmal hatte sie zu mir gesagt, dass ich der Einzige war, bei dem sie sich wirklich öffnen konnte, ohne Angst zu haben. 135 Tage waren nun schon vergangen, seitdem ich sie verloren hatte. Und mit jedem Tag der verging, wurde meine Befürchtung größer, sie vielleicht niemals wieder zu finden. Doch in dieser Nacht war ich mit meinen Ängsten allein. Meine Reisegefährten schliefen bereits. Ich beobachtete Goldica durch halbgeschlossene Augen. Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos, aber ihre Wimpern zuckten wild, als würde sie träumen. Mein Blick blieb auf ihr, bis ich eingeschlafen war. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Goldica spurlos verschwunden. Plötzlich hellwach setzte ich mich auf. Hastig stieß ich die Autotür auf. „Suchst du was?“ Ich fuhr herum. Goldica saß auf der Motorhaube. Wegen der beschlagenen Autofenster hatte ich sie von innen nicht sehen können. Ich wollte zu einer Antwort ansetzen, als sie mir ihr Gesicht zuwandte. Mir stockte der Atem, wie jedes Mal wenn ich sie ansah. Ihre sturmgrauen Augen mit den leuchtend silbernen Sprenkeln erzählten von einem starken Willen, die schlanke Nase die etwas zu weit aus ihrem Gesicht herausragte, gab ihr einen frechen Touch, während das spitze Kinn ihr eine rebellische Note verlieh. Da war nichts an Goldica, was auf den ersten Blick schutzbedürftig oder verletzlich gewirkt hätte. Sie war eine Kämpferin. Eine Rebellin. Eine, nein nicht nur eine, sondern meine kleine Wildkatze eben. Sie mochte ihren von mir gegebenen Spitznamen nicht. Das hielt mich aber nicht davon ab, ihn zu benutzen. Ich liebte es, sie zu necken. Goldica verlor selten die Kontrolle. Immer war sie beherrscht und hatte eine schlagfertige Antwort parat. Nur manchmal gelang es mir, sie aus der Reserve zu locken. Dann fuhr sie ihre Krallen aus. Ich genoss es zu sehen, wenn ihre Wangen die Farbe des typischen Rottons annahmen und ihre sonst so tiefe Stimme ganz hell wurde. Aber heute hatte sie schlechte Laune. Das konnte ich leicht am fehlenden Funkeln ihrer Augen erkennen. Und weil Goldica nur schlechte Laune hatte, wenn es ihr echt schlecht ging, wusste ich sofort dass sie etwas wirklich bedrücken musste. Ihre eben noch da gewesene Coolness schien nur aufgesetzt gewesen zu sein, denn jetzt war sie verflogen. Meine Wildkatze wirkte beinahe gezähmt, als sie fragte: „Hast du gut geschlafen, Jojo?“ Ich senkte den Kopf, setzte mich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern. Ich mochte es, wenn sie mich so nannte. Meine Mutter hatte mir diesen Kosenamen gegeben, als ich noch ein kleines Kind gewesen war und in der Familie hatte sich der Name bis zu Letzt so gehalten. Auch Hary hatte ihn einmal zufällig erwähnt und seitdem nannte mich Goldica so. Jetzt legte sie ihren Kopf auf meine Schulter. Ihr hüftlanges Haar fiel in wilden Locken über ihre Arme. Tief atmete ich den intensiven Geruch ein. Es duftete nach frisch gepflücktem Jasmin und Oleander. Ihre Nähe machte mich nervös und ich spürte, wie auch sie auf mich reagierte. Das schnelle Heben und Senken ihrer Brust, die flachen Atemzüge, ihre leicht zittrigen Beine… Es war nicht von Anfang an so zwischen uns gewesen. In den ersten Tagen hatten wir nur wenig miteinander gesprochen. Allerdings war das von ihr ausgegangen. Sie war mir Gegenüber sehr misstrauisch gewesen. Ich hatte ihr Verhalten nicht richtig einordnen können war irritiert gewesen. Immerhin hatte ich Goldica nie auch nur den kleinsten Grund für ihre Abneigung gegeben, sondern sie sogar vor dem Monster damals in Toronto gerettet. Trotzdem hatte ich still und geduldig abgewartet. Es dauerte zwar eine ganze Weile, aber mit der Zeit löste sich ihre Anspannung auf. Langsam begann sie, mir zu vertrauen und es schien mir fast so, als ob wir Freunde wären, auch wenn wir nie darüber sprachen. Aber dann war es passiert. Wir hatten keine Nahrung mehr gehabt, sodass ich uns Fleisch hatte besorgen müssen. Also war ich in der Frühe des Morgens auf die Jagd gegangen. Goldica wollte mich unterstützen, indem sie den Wald nach essbaren Früchten absuchte. Wir hatten uns schließlich trennen müssen, weil ihre lauten Schritte das Wild verscheucht hatten. Ich hatte ein schlechtes Gefühl dabei gehabt, sie allein durch die gefährlichen Wälder Kanadas ziehen zu lassen, aber Goldica hatte ihren eigenen Kopf. Als ich fast bei unserem damaligen Lager angekommen war, hatte ich ihr melodisches Lachen gehört. Einen Moment lang hatte ich inne gehalten. Dann war ich dem Geräusch gefolgt und an einen großen See gelangt. Erst hatte ich sie nirgendwo entdecken können, doch als ich mich gerade hatte abwenden wollen, war sie mit wiegenden Hüften aus dem Wasser gekommen. Nackt. Ich konnte nicht anders, als sie regelrecht anzustarren. Ich fürchte sogar, dass ein wenig Sabber aus meinem Mundwinkel hinauslief. Ihre Kurven, die samtene Haut an der das Wasser abperlte und ihre vollen Brüste... Es hatte mich große Überwindung gekostet, den Blick wieder von ihr abzuwenden. Ohne ein Wort hatte ich mich schließlich umgedreht und war zwischen den Bäumen verschwunden. Doch ich hatte gelächelt. Und ich wusste, dass sie es gesehen hatte. In den darauf folgenden Tagen wurde mir langsam klar, dass sich meine Sichtweise auf Goldica irgendwie verändert hatte. Plötzlich fielen mir ihr breites Lächeln, ihre funkelnden Augen und die glänzende Haarpracht auf. Auf einmal bemerkte ich ihre Freundlichkeit, Sanftheit und Verletzbarkeit hinter ihrer harten Scharle. Oft fragte ich mich, wie ich ihre Schönheit nur hatte übersehen können und ich schämte mich beinahe dafür. Wenn wir uns Gegenstände überreichten und ihre zarten Hände wie zufällig die meinen berührten, jagten mir kleine Stromstöße durch die Adern. Wenn sie mir beim Auto putzen half und dabei so nahe kam, dass ich ihre Körperwärme und die leisen Atemzüge spüren konnte, konnte ich mich auf nichts anderes konzentrieren, als auf ihre Nähe. Wenn ich sie nachts bei Schlafen beobachtete, ertappte ich mich bei dem Wunsch, ihr die Haare aus dem Gesicht zu streichen und ihre vollen Lippen küssen zu wollen. Wenn sie von ihrem früheren Leben erzählte und ihre sturmgrauen Augen diesen ganz besonderen Ausdruck annahmen, klopfte mein Herz ein kleines bisschen schneller als gewöhnlich. Wenn sie an mir und meiner Arbeit vorbei allein in den Wald ging, schaute ich unwillkürlich auf und kontrollierte, ob sie auch ja die Pistole und das Messer mitnahm. Unruhig tigerte ich dann im Camp auf und ab und konnte mich nicht beruhigen, ehe sie nicht wieder auf die Lichtung trat. Also ja, ich hatte mich definitiv in dieses unglaubliche Mädchen verliebt. Sie hatte mir mein Herz gestohlen und ich wusste noch nicht einmal, warum ich es nicht mit aller Gewalt zurück forderte, wie bei all den Mädchen vor ihr. Mit Goldica war alles anderes. Und das machte mir Angst. doch ich hatte meine Suche nach Elodie nicht vergessen. Mit der tatkräftigen Hilfe und Unterstützung von Hary und Goldica versuchte ich herauszufinden, wo Talaisya lag und wie wir dort hin kommen könnten. Die Suche dauerte länger, als ich anfangs gedacht hatte. Die Bestien hüteten die Koordinaten des Ortes besser als ihren Augapfel. Es hatte Wochen gedauert, bis wir endlich auf eine heiße Spur gestoßen waren. Sie hatte sie als Finte herausgestellt. All die Mühen die wir auf uns genommen hatten, waren umsonst gewesen. Wir hatten wieder bei null anfangen müssen. Doch ich wusste, dass ich nicht aufgeben durfte. Wo Talaisya war, würde auch Elodie sein und ich würde sie früher oder später finden. Talaisya war mein einziger Anhaltspunkt, meine letzte Hoffnung auf ein Wiedersehen mit meiner beste Freundin. Auch das Gespräch mit meinen Eltern hatte daran nichts geändert. In einem Dorf war die Fernsprechanlage noch nicht zerstört worden und ich hatte sie anrufen können. Die Gefahr sich zu lange an einem Ort aufzuhalten und von den Bestien aufgegriffen zu werden war groß, die Verbindung schlecht, und das Geld knapp gewesen. Doch ich hörte genug um zu verstehen, dass die Türkei als einiges der wenigen Länder noch nicht angegriffen worden war und dass ich doch in meine Heimat zurückkehren solle. Schweren Herzens, aber ohne zu Zögern, hatte ich eine akustische Störung in der Telefonleitung vorgetäuscht und hatte aufgelegt, bevor die Versuchung zu groß geworden war. Seitdem hatte ich nichts mehr von meiner Familie gehört. Wir lernten schnell in der Wildnis zu überleben. Ich brachte Goldica und Hary das Kämpfen mit und ohne Waffe bei, Goldica zeigte uns das Zubereiten und Kochen von Nahrung, Hary erklärte uns wie man kaputte Gegenstände reparierte und scheinbar nutzlosen Müll zu praktischen Gerätschaften umfunktionieren konnte. Mit dem schnellen Aufbau von Lagerstätten taten wir uns dagegen zunächst schwer. Wenn die Nacht schneller als gedacht herein brach oder plötzlich Regen aufzog, hatten wir meist keinen Unterschlupf. Dann mussten wir uns zu dritt in das viel zu enge Auto quetschen. Doch dann waren wir durch eine Kleinstadt gekommen, in der es einen Survival Shop gegeben hatte. Neben moderner Campingausrüstung, wetterfester Tarnkleidung, Angelzubehör und Kochutensilien hatten wir in dem kleinen Laden ein Buch über die verschiedenen Lagermethoden gefunden. Wir hatten uns mit allem Nötigen eingedeckt, einen zurück gelassenen Jeep kurzgeschlossen und hatten die Stadt verlassen. In dem Handbuch beschrieb der Autor verschiedenen Unterkünfte, die man sich in der Natur bauen konnte, die praktischste Methode wie sie am Schnellsten errichtet werden konnten, und das Material das man dadurch automatisch benötigte. Weil weder Hary noch ich gut lesen konnten, arbeitete sich Goldica in das Buch ein und übernahm den Lageraufbau. Durch die Campingausrüstung blieb ihr viel Arbeit erspart. Unsere Gemeinschaft und die Aufgabenverteilung hatten also gut funktioniert. Bis Hary vor einer Woche krank geworden war. Sein Zustand hatte sich in den weiteren Tagen stark verschlechtert. Weder Goldica, noch ich oder Hary selbst, kannten uns mit Heilkunde aus. In dicke Wolldecken gewickelt, verbrachte er die Tage und Nächte schwitzend und fiebernd im beheizten Auto. In den letzten Tagen hatte er noch Schüttelfrost, Taubheitsgefühle in Armen und Beinen und Kopfschmerzen bekommen. Obwohl er sehr litt, machte ich mir keine Sorgen um ihn. Hary war ein zäher Bursche und ich war mir sicher, dass er in ein paar Wochen wieder gesund sein würde. Obwohl Goldica darüber schwieg, wusste ich, dass sie nicht meiner Meinung war. An den sorgenvollen Blicken, die sie Hary von Zeit zu Zeit zuwarf, war abzulesen, dass sie ihn schon für einen toten Mann hielt. Aber sie kannte ihn halt nicht so gut wie ich… „Jojo?“, holte sie mich in die Gegenwart zurück. Ich zuckte zusammen. „Ich habe gut geschlafen. Und du?“, antwortete ich schnell. „Auch“, erwiderte sie knapp. Ich sah Goldica von der Seite an. Tiefe Schatten lagen unter ihren Augen. Nein, sie hatte ganz und gar nicht gut geschlafen. Warum lügst du mich an? Was verschweigst du mir? Was immer es ist, du kannst es mir doch sagen, dachte ich. Doch Goldica sagte nichts. Hary stöhnte. Das Geräusch war so laut, dass wir es sogar von draußen hören konnten. „Vielleicht sollten wir weiterfahren“, schlug Goldica langsam vor, weil sie wusste, dass ich noch nicht von hier weg wollte. „Und wohin sollen wir gehen? Wir haben keine neue Spur. Solange wir keinen weiteren Anhaltspunkt finden, könnten wir uns mit jedem Schritt den wir gehen weiter von Talaisya entfernen“, hielt ich prompt dagegen. Goldica stützte ihren Kopf in die Hände. „Wir sind schon seit Tagen nicht mehr unterwegs“, entgegnete sie leise. Ich konnte sie fast nicht verstehen, weil sie so undeutlich und gedämpft sprach. Das passte gar nicht zu ihr. Da wurde mir klar, dass sie Angst hatte. „Hary ist krank. Wir müssen hier bleiben und uns um ihn kümmern. Erst wenn er wieder gesund ist, werden wir weiter nach Talaisya suchen“, erwiderte ich. Goldica sah mich prüfend an. „Hast du schon mal daran gedacht, dass Elodie es gar nicht nach Talaisya schaffen könnte? Ich weiß du magst sie sehr, aber sie könnte auch schon bei der Massenpanik oder von den Bestien getötet worden sein. Vielleicht ist sie auch erfroren, verhungert, oder einfach zu falschen Zeit am falschen Ort bösen Menschen zum Opfer gefallen sein“, sprach Goldica aus, was sie offenbar schon seit einiger Zeit dachte. Ich hatte gespürt, dass sie mir nur widerwillig bei der Suche nach Elodie half. Jetzt wusste ich warum. Zum ersten Mal ärgerte ich mich über Goldica. Auch wenn ich mich in die junge Frau hoffnungslos verliebt hatte und sie mir viel bedeutete, galt meine Loyalität Elodie. Wir hatten eine gemeinsame Vergangenheit. Mit ihr verband mich eine lange Geschichte. Goldica und ich kannten uns hingegen erst seit wenigen Monaten. Ich rutschte vom Auto herunter, verschränkte die Arme vor der Brust und baute mich vor ihr auf. Goldica sah langsam auf und nahm eine aufrechte Haltung an. Ihre Körpersprache erinnerte mich an ein wachsames Tier, dass Gefahr wittert, aber noch nicht genau ausmachen kann, woher eben diese Gefahr denn nun eigentlich kommt. Ich grinste grimmig. Wenigstens wusste sie, dass sie etwas falsch gemacht hatte. „Was willst du damit sagen? Das Elodie schwach ist? Dass sie nicht allein in der Wildnis überleben und sich nicht selbst beschützen kann?“, verteidigte ich meine beste Freundin. Goldica wollte etwas erwidern, aber ich war schneller. „Elodie lebt. Ich weiß es, ich spüre es. Ich suche sie und werde ihr bis nach Talaisya folgen, koste es was es wolle. Und ich werde sie finden.“ Wieder wollte Goldica etwas sagen und wieder ließ ich sie nicht zu Wort kommen. Unwillig rutschte nun auch sie vom Auto herunter. „Niemand zwingt dich, mir bei der Suche zu helfen. Niemand zwingt dich bei Hary und mir zu bleiben. Wenn du uns verlassen willst, dann geh.“ Noch ehe ich die Worte ausgesprochen hatte, bereute ich sie bereits bitter. Ich holte tief Luft und beobachtete Goldicas schönes Gesicht. In ihren grauen Augen braute sich ein Sturm zusammen. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Meine Wildkatze fuhr ihre Krallen aus. Sie tat mir leid. Denn die Wut konnte ihre Traurigkeit über meine Worte nicht verstecken. Ich hatte sie nicht verletzen wollen. Wütend auf mich selbst biss ich mir so heftig auf die Zunge, dass ich Blut schmeckte. Doch es war zu spät. Ihre Stimme klang tief und unbeirrt, als sie mir Kontra gab. „Entschuldige, Jade. Ich wusste nicht, dass ich in einer Diktatur lebe und ich nicht meine Meinung sagen darf. Ich habe dir so lange geholfen, habe genauso hart wie du und Hary gearbeitet und das ist also der Dank. Ich weiß nicht wie deine Erziehung ausgesehen hat, aber sie muss schlecht gewesen sein, denn ich habe gelernt, dass man sich niemals so respektlos verhalten darf.“ Goldica drehte auf dem Absatz um und ging mit schnellen Schritten auf den Wald zu. Ich überlegte, ob ich ihr nachlaufen sollte, aber mit der Erwähnung meiner Eltern hatte sie einen wunden Punkt getroffen. Ich wusste, dass ich manchmal zu herrisch und gebieterisch auftrat. Auch Elodie hatte sich darüber immer wieder beschwert. Als ich mich endlich dazu durchgerungen hatte, eine Entschuldigung hinter Goldica herzurufen, wirbelte sie kurz vorm Waldrand erneut zu mir herum. Selbst aus der Ferne konnte ich erkennen, dass der Sturm in ihren Augen wild und ungezähmt tobte. „Und ja, ich werde gehen. Wenn Hary gesund ist. Verlass dich drauf!“ Dann verschwand sie zwischen den Bäumen. Ich seufzte tief und vergrub mein Gesicht in den Händen. Ich hatte sie im Zorn dazu aufgefordert zu gehen, ja das stimmte! Aber eigentlich wollte ich, dass sie bei mir blieb. Meine Wildkatze würde mir fehlen. Doch ich würde sie nicht umstimmen können. Hatte sie eine Entscheidung getroffen, änderte sie selten ihre Sichtweise. Warum, warum nur, hatte ich sie dazu aufgefordert zu gehen?! Ich meinte das Echo eines Schluchzens durch den Wald hallen zu hören. Kurz hielt ich inne. Aber der Laut verklang, ehe ich ihn greifen konnte. Als Erinnerung verblassend konnte ich nicht mehr sagen, ob es das Heulen des Windes, oder doch Goldica gewesen war. Sie blieb den ganzen Tag lang im Wald. Erst als der Abend dämmerte, hob sich eine schlanke Silhouette vor den Bäumen ab. Mit langsamen Schritten kam Goldica auf mich zu. Die untergehende Sonne ließ ihr Gesicht in einem hellen Licht erstrahlen. Ich wandte mich wieder dem See zu, an dessen Ufer ich eine Angelroute ausgeworfen hatte. Sie wird nicht zu mir kommen. Ich habe sie verjagt. Jetzt hasst sie mich. Doch Goldica überraschte mich. Sie ließ sich neben mir auf das feuchte Gras sinken. Eine seltsame Stille umfing uns, die nur durch das Quaken der Frösche unterbrochen wurde. Goldica räusperte sich vernehmlich. Unauffällig schielte ich zu ihr herüber. Der Sturm in ihren Augen war verschwunden. Ruhig schimmerte das tiefe Grau und die silbernen Sprenkel versprachen wieder die funkelnde Lebendigkeit, die ich heute Morgen an ihr vermisst hatte. „Wie geht es Hary?“, brach sie endlich das Schweigen. Erleichtert atmete ich auf. Sie gibt mir noch eine Chance. Das darf ich nicht vermasseln. „Er ist seit zwei Stunden ohnmächtig. Ich habe versucht, ihm Flüssigkeit einzuflößen, doch sein Körper nimmt es nicht an“, erwiderte ich bedrückt. Beunruhigt schaute sie mich an. Ich konnte in ihrem Gesicht wie in einem offenen Buch lesen. Sie war geschockt und machte sich Sorgen. Sie schluckte. „Können wir denn gar nichts für ihn tun?“, fragte sie vorsichtig. Ich schüttelte stumm den Kopf. Sie hatte Recht gehabt. Die Gefahr war von Anfang an größer gewesen, als ich gedacht hatte. Mit jeder vergehenden Stunde entglitt uns Harys Leben immer mehr. Wir hatten keine andere Wahl, als ihm dabei zuzusehen, wie er mit dem Tod rang. Entweder würde er siegen und zu uns zurück kehren, oder den Kampf für immer verlieren. Wieder schweiften meine Gedanken in die Vergangenheit ab. Als ich zwei gewesen war, hatte auch Hary die Türkei verlassen und war in das Miethaus von Elodies Eltern zu meinen Eltern eingezogen. Es war ihm nicht leicht gefallen, sich in das neue Land zu integrieren. Er hatte Probleme damit gehabt, die schwierige Sprache zu erlernen. Auch an die fremde Kultur hatte er sich gewöhnen müssen. Mit der Zeit war es leichter für ihn geworden. Doch erst nachdem er Loel kennengelernt hatte, war Kanada ein Zuhause für ihn geworden. Als ich vier Jahre alt war, verließ er uns, um Loel in der Stadt zu heiraten. Doch auch nach seinem Auszug hatten wir mit dem verliebten Paar noch guten Kontakt. Obwohl die Ehe kinderlos blieb, waren die Vermählten sehr glücklich miteinander. Doch dann war Loel vor sieben Jahren überraschend an einem plötzlichen Herzinfarkt gestorben. Ihr Tod war für Hary ein schwerer Schicksalsschlag gewesen. Hary hatte sie sehr geliebt. Loel war seine Seelenverwandte gewesen. Trotzdem hatte er immer gesund und stark gewirkt, wenn er uns nach ihrem Tod besucht hatte. Erst jetzt merkte ich, dass er uns seinen wahren Gesundheitszustand verschwiegen und immer überspielt hatte, wie schlecht es ihm wirklich ging. Ich wusste, dass seine mysteriöse Krankheit etwas mit seiner Frau zu tun hatte. Er träumte und selbst im Schlaf rief er immer wieder ihren Namen. Als ob sie ihn zu sich rufen würde... Ich kratzte mich am Kopf.
Als meine Familie sechs Jahre nach Loels Tod ohne mich in die Türkei zurück gekehrt war, waren die Besuche von Hary seltener geworden. Ich biss mir auf die Zunge, als mir einfiel, dass ja auch ich meinen Onkel hätte besuchen können. Die Fahrt nach Toronto dauerte schließlich nur drei Stunden. Ich wusste, dass er mich gerne hätte bei sich übernachten lassen. Und es war ja nicht so, dass ich mit einundzwanzig kein Auto gehabt hätte. Ich hatte natürlich nicht oft und keine weite Strecken fahren können, weil mein Geld knapp und das Benzin teuer gewesen war, aber das war keine Entschuldigung. Ab und zu hätte ich schon etwas Geld abzwacken können. Aber ich war auch sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen. Als klar war, dass ich nicht mit meiner Familie in die Türkei zurück gehen würde, war klar gewesen, das ich allein unmöglich die Miete für das Haus würde bezahlen können. Doch Elodies Eltern wollten mich unterstützen. Gerade Taylor, der sich mit drei Töchtern schon immer einen Sohn gewünscht hatte, sah mich fast schon als Familienmitglied an. Er war auch der Einzige, der von meinem Traum Farmer zu werden, wusste. Großzügig stellte er mir ein kleines Stückchen Land auf seinem Grundstück zur Verfügung. Dort hatte ich mit Elodie, Fiona und Drace mein eigenes Zuhause aufgebaut. Es bestand aus einer einfachen Wellblechhütte, einem kleinen Stall und einem noch kleineren Schuppen aus Holz, einem winzigen Gemüsegarten und zwei Getreidefeldern. Es war ein bescheidenes Heim, aber ich liebte es. Aber manchmal fühlte ich mich ohne meine Familie doch sehr einsam. Also hatte Elodie mir Bello geschenkt, einen Schäferhund. Wenig später war mir eine Babykatze zugelaufen und ich brachte es nicht übers Herz, sie zu ertränken. Also blieb sie bei uns und ich nannte sie Minka. Bello hatte sie schnell in sein treues Hundeherz geschlossen und weil Minka noch so klein gewesen war, hatte sich tatsächlich eine richtige Freundschaft zwischen den beiden Tieren entwickelt. Mit der Einsamkeit war es also vorbei. Versunken in der Erinnerung musste ich amüsiert lächeln. Ich erinnerte mich auch noch genau daran, wie stolz ich gewesen war, als ich zum ersten Mal ganz allein mit einem Trecker eine Erkundungsfahrt über die selbst abgemähten Felder meiner Farm gemacht hatte. Goldica stieß mich mit der Schulter an. Ich schreckte hoch und hätte mir am liebsten in den Hintern gebissen. Mein Onkel lag im Sterben und ich hatte nichts Besseres zu tun, als in längst vergangenen Zeiten zu schwelgen. „Was ist so lustig?“ Ich sah sie an. Ihre Augen wanderten nach einer Antwort suchend langsam über mein Gesicht. Als ihr Blick für einen Wimpernschlag an meinen Lippen hängen blieb, wusste ich, dass sie mich nicht verlassen würde. Plötzlich fühlte ich mich unendlich erleichtert und das intensive Gefühl überraschte mich selbst. Doch Goldica löste etwas in mir aus, dass kein anderer Mensch jemals bei mir geschafft hatte, auch Elodie nicht. Ich wusste nicht einmal selbst was es war, so fremd war es mir. Während ich mir eine Antwort überlegte, erwiderte ich ihren Blick. Auch meine Augen blieben für einen Herzschlag an ihren Lippen hängen. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass ich sie einfach küssen könnte. Jetzt. Sofort. Hier. Ich wusste, sie würde mich nicht abweisen. Niemand würde uns stören. Ihre Lippen lockten verführerisch. Es wäre so leicht, ich müsste mich nur ein ganz klein wenig vorbeugen... Aber die Angst vor meinen Gefühlen für sie hielt mich zurück und ich hasste mich dafür, dass ich es mir so schwer machte. Sie war die erste Frau die ich wirklich wollte. Oh und wie ich sie wollte, aber ich konnte nicht. Zumindest jetzt noch nicht. Ich wandte meinen Blick von ihr ab. Sie zog die Schultern ein klein wenig hoch. Die Geste wirkte enttäuscht. „Ich habe an mein Leben vor den Bestien gedacht. An meine Vergangenheit. An mein zu Hause“, antwortete ich endlich, um sie abzulenken. „Erzähl mir davon“, bat sie leise. Mein Blick kehrte zu ihr zurück. Aus kindlichen Augen schaute sie zu mir hoch. Und ich begann zu erzählen. Von einem Leben, dass in weiter Ferne lag. Von einem Leben, in dem ich sie nicht gekannt hatte. Von einem Leben in dem es gewesen war, als ob es sie nicht geben würde. Doch es gab sie. Und jeder einzelne meiner Herzschläge erinnerte mich daran. Und obwohl ihr Gesicht einen so friedlichen Ausdruck hatte, den es sonst nur im Schlaf annahm, wusste ich, dass sie mir aufmerksam zuhörte. Sie unterbrach mich kein einziges Mal.
Ende von Kapitel 4