Kurt bestand darauf, mich zu begleiten, und ich konnte ihn durch nichts davon abbringen. Ich brachte es nicht über mich, meinen Eltern die Wahrheit zu sagen. Sie würden es nicht ertragen, wenn ich auf der Reise ums Leben käme. Also sagte ich ihnen, ich wolle mit Kurt nach Las Vegas durchbrennen, um dort zu heiraten. Anschließend wollten wir ein paar Wochen Urlaub machen. Wenn ich mich nicht mehr melden sollte, hätten wir uns entschlossen, auf der Straße zu leben, weil wir ihnen die Schande ersparen wollten.
„Meinst du nicht, wir sollten wirklich heiraten?“, fragte Kurt, als wir mit seinem Auto losfuhren.
„Nein, warum denn?“, antwortete ich verständnislos.
„Na ja, dann würde es weniger auffallen. Und irgendwie dachte ich auch, du, na ja, du magst mich vielleicht.“
„Ja, schon. Aber ich bin Schicksal versprochen.“
Kurt schnaubte. „Schicksal!“
„Er hat mir keinen anderen Namen genannt“, verteidigte ich mich.
„Ja, eben, was soll man von einem Typen halten, der sich nicht einmal richtig vorstellt, dir das Blaue vom Himmel verspricht, in Rätseln spricht und dann auf Nimmerwiedersehen verschwindet!“
„Na und? Er ist ein Elf. Oder ein Schicksal. Die reden nun mal geheimnisvoll.“
„Und das entschuldigt dann alles, ja?“
„Kurt, hör mal, ich weiß, du kannst ihn nicht ausstehen. Aber mir bedeutet er sehr viel.“
Kurt sah mich über das Steuer hinweg bekümmert an. Schließlich gab er einen langen und tiefen Seufzer von sich und nickte.
Ich lächelte ihn erleichtert an. Kurt hatte zwar seine Zweifel an Schicksal, aber letztendlich war auf ihn stets Verlass. Gelöst lehnte ich den Kopf zurück und gab mich meinen Tagträumen hin. Ich versuchte mir meine Hochzeit mit Schicksal vorzustellen. Was würde er tragen? Und was würde ich tragen? Ich war sicher, dass er mich mit Gold und Edelsteinen überhäufen würde. Und dann würde uns der Priester – hatten die überhaupt Priester? Na auch egal – ansehen, er würde den Mund öffnen und uns fragen, ob wir bereit seien, den Bund der Ehe einzugehen, und Schicksal würde mich anlächeln –
RUMS.
„AU!“, schrie ich entsetzt. „Was war das?“
„‘n LKW hat uns gerammt“, erklärte Kurt, der etwas mitgenommen aussah. Wir waren beide plötzlich mit einem lauten Knall in die Sitze gedrückt worden. „Arschloch.“
„Das hätte böse ausgehen können“, sagte ich.
„Ja, aber wir haben ja das Schicksal auf unserer Seite“, witzelte Kurt.
Ich versuchte im Rückspiegel einen Blick auf den LKW-Fahrer zu erhaschen, aber außer einem großen Fleischklops konnte ich nicht allzu viel erkennen.
Um uns von dem traumatischen Erlebnis zu erholen, beschlossen wir, an einer Raststätte zunächst einen Kaffee zu trinken, bevor wir weiterfuhren. Ich nutzte die Gelegenheit auch, um auf die Toilette zu gehen.
Dieser Gang sollte sich als schweres Unterfangen herausstellen, denn eine ungeheure Menschenschlange stand vor den Toiletten. Doch ich hatte keine Zeit, eine halbe Stunde anzustehen. Ich musste die Elfenwelt retten.
Also sprach ich zögerlich die Frau vor mir an. „Ähm, entschuldigen Sie, könnten Sie mich vielleicht vorlassen, ich muss noch …“ Was musste ich? Ich konnte ihr wohl schwerlich die Wahrheit sagen. „Ich habe in einer Viertelstunde einen wichtigen Arzttermin.“
„Oh natürlich.“ Die ältere Dame nickte verständnisvoll und ließ mich vor. Doch nun stand das nächste Hindernis bevor, denn es standen immer noch zwanzig Leute vor mir. Ich sah die nächste Frau an, doch sie kam mir zuvor, indem sie mich mit einem freundlichen Lächeln durchwinkte. Offenbar hatte sie das Gespräch mitangehört. Ich erwiderte dankbar ihr Lächeln und huschte vor sie. Die Frau, die nun vor mir stand, drehte sich um und warf mir einen bitterbösen Blick zu, den ich mit einem gewinnenden Lächeln erwiderte. „Entschuldigen Sie bitte, aber –“
„Sie möchten, dass ich Sie vorlasse“, fiel sie mir ins Wort.
„Ja, genau“, sagte ich erleichtert. „Vielen Dank für Ihr Verständnis.“
Sie vertrat mir den Weg. „Ich habe nie gesagt, dass ich Sie vorlasse“, sagte sie finster und bedachte mich mit einem eisigen Blick.
Ich schluckte. Sie war mir sichtlich nicht wohlgesonnen.
„Verzeihen Sie, aber es ist wirklich dringend, ich muss zum Arzt.“
„Dann hätten Sie mal früher wegfahren sollen. Glauben Sie, wir sind alle nur hergekommen, weil wir so gerne anstehen?“
„Natürlich nicht. Aber bitte verstehen Sie doch, wir hatten einen Unfall und jetzt sind wir bereits zu spät.“
„Ach, wissen Sie was“, mischte sich eine Frau, die gerade an zehnter Stelle in der Reihe stand, ein. „Stellen Sie sich doch vor mich, ich lasse Sie gerne vor.“
Mit einem überschwänglichen Lächeln eilte ich vor.
„He, das können Sie nicht entscheiden“, keifte die andere meine Retterin an. „Da müssen Sie alle anderen, die hinter Ihnen stehen, auch fragen!“
„Nun stellen Sie sich mal nicht so an. Sie sehen doch, dass es dem Mädchen nicht gut geht.“
„Mir geht es auch nicht gut!“, schimpfte die Hexe. Sie wandte sich an die, die nun zwischen ihr und mir standen. „Nun wehren Sie sich doch dagegen!“
Ein Klo wurde frei und wir rückten alle einen Platz auf.
„Ich habe nichts dagegen“, sprach eine aus der Schlange.
„Mir ist das egal“, sagte eine andere.
Zwei weitere schüttelten nur abwehrend den Kopf, sie wollten mich nicht bekämpfen.
„Na ja, also, sie hat ja schon recht“, sagte die Fünfte. „Es ist nicht richtig, dass einfach jeder vorlässt, wen er will, und die, die sich ehrlich anstellen, warten müssen.“
Die Sechste schnaubte und ging mit einem abfälligen Kopfschütteln. Wir rückten nach vorn.
„Ach, so wichtig ist das doch nicht“, meldete sich die siebte Stimme.
„Ich finde das schon wichtig“, erklang eine Stimme von den hinteren Plätzen.
Gerade da schoss eine neue Frau mit einem kleinen Mädchen, das einen dunklen Fleck auf der Hose hatte, an der Hand vor und drängte sich an die erste Stelle. Ich sah mich nach der Hexe, die mir den Krieg erklärt hatte, um. Sie protestierte mit keinem Wort.
Also beschloss ich, mich ebenfalls einfach vorzudrängen, und stellte mich vor die neue Frau mit dem Kind.
Doch als die Klotür aufging, schob mich die Frau mit dem Kind einfach zur Seite und rannte hinein, bevor ich reagieren konnte.
Auch die Hexe war noch nicht fertig. „Das ist absolut unverschämt!“, rief sie. „Was bilden Sie sich ein?“ Doch damit meinte sie nicht die gerade erfolgreich im Klo Angekommene, sondern mich.
Ich lächelte entnervt. „Es tut mir wirklich leid, ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären, aber es ist sehr wichtig, dass ich jetzt auf die Toilette komme.“ In dem Augenblick wurde eine neue Kabine frei und ich rannte darauf zu. Im gleichen Moment setzten hinter mir drei weitere zum Lauf an. Gerade rechtzeitig erreichte ich als Erste die Kabine, packte mit letzter Kraft die Tür und schloss ab. Mit einem erleichterten Seufzen sank ich auf die Kloschüssel und entlud alles, was in mir war. Als ich herauskam, wurde ich von bösen Blicken verfolgt, die ich mit einem entschuldigenden Lächeln erwiderte. Normalerweise war Vordrängeln gar nicht meine Art. Bis ich Schicksal begegnet war, war es stets so gewesen, dass andere sich vor mich drängelten. Nicht einmal aus bösem Willen, sondern einfach, weil sie mich nicht wahrnahmen. Wenn ich die Elfenwelt gerettet hatte, würde ich mich bei all diesen Frauen, die hier standen, entschuldigen.
Ich gelangte unbehelligt bis in die Cafeteria, wo Kurt bereits mit zwei Kaffees am Tisch saß.
„Wo warst du so lange?“, fragte er.
Ich fuhr mir erschöpft über die Stirn. „Es war eine Riesenschlange. Ich hatte keine andere Wahl, ich musste mich vordrängen.“ Ich erzählte ihm die ganze Geschichte.
„Oh Mann“, äußerte sich Kurt.
Ich nickte. Schicksal hatte wirklich recht gehabt, als er sagte, dass der Weg zum Reich der Stinkstiefel beschwerlich war.
„Meinst du, die Frau ist mit den Hosenscheißern im Bunde?“, fragte ich Kurt ängstlich. „Sie war so darum bemüht, mich am Vordrängeln zu hindern.“
„Das glaube ich nicht. Sie war einfach stinkig, weil sie dringend musste.“
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Bis ungefähr drei Kilometer vor unserem vorläufigen Ziel lief alles gut. Doch dann ging mit einem lauten Stöhnen Kurts Auto kaputt. Wir schafften es gerade noch, an den Straßenrand zu fahren, bevor wir überrollt werden konnten.
„Was tun wir jetzt nur?“, rief ich verzweifelt. „Die Elfen warten darauf, dass ich sie rette!“
„Und was mach ich mit meinem Auto?“, jammerte Kurt. „Ein neues kann ich mir nicht leisten.“
Ich hockte mich auf den Asphalt und begann, bitterlich zu schluchzen. Es war alles umsonst, wir würden nie rechtzeitig ins Land der Stinkstiefel kommen und die Goldene Klobürste finden! Die Elfenwelt würde zugrunde gehen.
„Mensch, jetzt heul doch nicht!“, versuchte Kurt mich zu trösten.
Wie in einem Traum sah ich plötzlich durch meinen Tränenschleier hindurch eine Gestalt auf uns zukommen.
„Na, na, nun verzweifeln Sie nicht“, sagte sie. „Ihr Auto ist kaputt? Ich kann Ihnen helfen. Mein Bruder besitzt eine Werkstatt und mein anderer Bruder ist Abschlepper. Ich werde mich um Ihr Auto kümmern.“
„Oh vielen Dank!“, rief Kurt, doch ich schluchzte noch herzergreifender. „Aber wie kommen wir jetzt an unser Ziel?“, heulte ich.
„Wo wollen Sie denn hin?“, fragte der freundliche Mann.
„3 Kilometer nach Süden, dann 400 Meter nach rechts, 37 Meter nach links, an die dritte Hecke“, antwortete ich.
Der Mann lachte gütig. „Dann kann ich Sie mitnehmen, das liegt auf dem Weg.“
„Wirklich?“ Ich konnte unser Glück kaum fassen.
„Aber natürlich.“ Ich fiel dem Mann um den Hals und dankte ihm vielmals. „Sie sind unser Retter.“
Er lachte. „Nun übertreiben Sie mal nicht, ich tue nur, was jeder anständige Mensch tun würde.“
Der Mann stellte sich uns auf der Weiterfahrt als Berthold Gutmensch vor und erklärte, dass er Anwalt sei. Sein Auto war wunderbar gemütlich und wir verbrachten viele schöne Minuten darin. Es tat mir leid, mich von Berthold zu trennen, als wir endlich die Hecken erreichten. Er hatte sich als echter Freund erwiesen und ich hatte ihn richtig liebgewonnen.
„Ich wünsche Ihnen beiden noch viel Glück auf Ihrem weiteren Weg“, sagte er, als wüsste er, dass wir ein großes Ziel hatten. „Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann wieder.“
„Bestimmt. Ich werde an Sie denken und wenn ich eines Tages zurückkehren werde, werde ich mich bei Ihnen revanchieren.“
Er lachte. „Da nehmen Sie sich mal nicht so viel vor, vielleicht werde ich ja ein Pflegefall.“
„Dann werde ich Sie pflegen.“
„Sie sind wirklich ein nettes Mädchen.“ Er wandte sich an Kurt. „Passen Sie gut auf sie auf.“
„Tue ich“, erklärte Kurt und funkelte ihn eifersüchtig an.
Doch Berthold war noch nicht fertig. Er reichte mir einen kleinen Gegenstand. „Wenn Sie wieder einmal in eine schwierige Situation geraten sollten, wird Ihnen das vielleicht weiterhelfen.“ Es war ein Kompass.
Ich wollte mich noch mal bei Berthold bedanken, aber er war bereits weg. Wie Sankt Martin schien er nur geschickt worden zu sein, um uns zu helfen und dann spurlos zu verschwinden.
„Also, suchen wir jetzt nach diesem mysteriösen Stinkland?“, fragte Kurt genervt.
„Die dritte Hecke“, wiederholte ich.
„Er sagte, unter der dritten Hecke, oder? Heißt das jetzt, wir müssen sie hochheben, oder was?“ Er sah zweifelnd auf die Hecke. „Sieht dornig aus.“
„Bitte Kurt“, flehte ich ihn an. „Wir müssen es irgendwie schaffen.“
„Hast du Handschuhe?“
Ich schüttelte den Kopf.
Er seufzte. „Mann, wieso hat dein Baum davon nichts gesagt? Oder dein Schicksal?“
„Vielleicht wussten sie es nicht. Nun komm schon, Kurt, jetzt sind wir so kurz vorm Ziel, wir werden doch jetzt nicht aufgeben. Bitte!“
Kurt sah mich noch einmal unwillig an, griff schließlich nach der Hecke und zog sie unter großem Geächze und Gestöhne aus der Erde. „Au! Verdammtes Ding!“, fluchte er und steckte den Finger in den Mund. Aber er hatte es geschafft. Ich sah unter der abgerissenen Ecke ein Tor.
„Kurt, du hast es geschafft!“, rief ich und fiel ihm um den Hals.
„Ja, und ich bin verletzt“, schimpfte er.
„Oh Kurt!“, sagte ich. Ich nahm seine Hand. An seinem Finger war eine hässliche rote Wunde, aus der beständig hellrotes Blut tropfte. Er hatte sich meinetwegen in solche Gefahr begeben und nun war er verletzt. Ich nahm sanft seinen Finger, führte ihn an meine Lippen und leckte ihn ab.
Kurt stöhnte leise. Er sah mich an und kam langsam näher. Ich kam ihm entgegen und unsere Lippen trafen sich erst nur zart, dann leidenschaftlicher und schließlich begannen wir an uns herumzuspielen und zu stöhnen. Doch genauso schnell zog ich mich wieder zurück. Ich mochte Kurt, er hatte sich für mich verletzt, doch ich war Schicksal versprochen. Er war sexy und geheimnisvoll und fremdartig. Ich konnte ihn nicht verraten. Traurig blickte ich Kurt an und schüttelte den Kopf.
„Es tut mir leid“, flüsterte ich.
„Was ist denn nur so Besonderes an diesem Schicksal?“, fragte Kurt ungehalten. „Du weißt ja nicht einmal, wo er ist! Vielleicht hat er längst eine andere.“
„Das würde er nie tun“, sprach ich überzeugt.
„Merle, ich verstehe dich nicht. Du kennst ihn doch gar nicht.“
„Es kommt mir vor, als würde ich ihn schon mein ganzes Leben lang kennen. Ich weiß, das ist schwer für dich, aber du musst das verstehen. Ich liebe ihn.“
„Ich liebe dich auch, weißt du?“
Ich nickte traurig. „Ich weiß. Und wenn Schicksal nicht wäre, würde ich dich wahrscheinlich auch lieben, aber er ist nun mal sexyer als du.“
„Du magst ihn lieber, weil er irgend so was Übernatürliches ist, gib es doch zu!“, fauchte Kurt.
„Ich bin auch irgendetwas Übernatürliches, Kurt“, antwortete ich leise.
„Ach, verdammt. Ich – Merle, ich … ich würde wirklich gern mit dir zusammen sein. Aber ich werde deinen Entschluss akzeptieren.“
Ich umarmte ihn dankbar. Ich nahm seinen Finger und blies sacht dagegen, während ich die uralten Heilworte „Heile heile Gänsje“ intonierte.
„Besser?“, fragte ich.
„Besser.“ Kurt lächelte schon wieder.
Offensichtlich hatte Schicksal Recht gehabt: Ich war etwas Übernatürliches und verfügte über übernatürliche Kräfte. Obwohl er von Kräften eigentlich gar nichts gesagt hatte, aber er hatte sich generell sehr vage ausgedrückt, also gehörte das sicher dazu.
Mit einem befreiten, zuversichtlichen Lächeln fasste ich Kurts geheilte Hand und gemeinsam traten wir durch das rostige alte Tor im Boden in das Reich der Stinkstiefel.