Als es zur dritten Stunde klingelt, sitze ich bereits auf meinem Platz in Raum 203, in dem der Matheunterricht stattfindet. Vorher hatte ich zwei Stunden Geschichte und bin mittlerweile ziemlich gelangweilt. Unsere Geschichtslehrerin ist so langweilig, dass ich jedes Mal fast einschlafe. Glücklicherweise bin ich nicht die Einzige, die der Meinung ist. Es gibt sogar Schüler, die in ihrem Unterricht wirklich einschlafen und deshalb den ganzen Unterrichtsstoff verpassen. Unser Mathelehrer gestaltet die Stunden bei ihm viel interessanter und seit ich diesen Lehrer habe, ist Mathe für viele fast sowas wie ein Lieblingsfach. Ich selbst würde Mathe nicht sofort als mein Lieblingsfach bezeichnen, aber gerne mache ich es schon.
Der Klassenraum ist abgesehen von mir und dem Lehrer komplett leer. So mache ich es immer. Ich hasse es zu spät kommen und bin deshalb immer überpünktlich. Daran haben sich auch die Lehrer mittlerweile gewöhnt und lassen mich schon direkt nach dem Klingeln rein, obwohl ich die Einzige bin. Heute habe ich mich aber nach hinten gesetzt, um nicht aufzufallen.
Mittlerweile habe ich mich wieder beruhigt und es geschafft meine Gedanken weg von meinem Nachbarn zu lenken, doch als auch er in die Klasse kommt, spüre ich seine Anwesenheit, ohne ihn überhaupt ansehen zu müssen. Es wirkt ein wenig so, als würde von ihm eine strahlende Wärme ausgehen und auf meiner Haut wie Feuer brennen. Ich spüre genau, wie er langsam durch den Klassenraum läuft und sich dann langsam neben mich auf den einzigen Stuhl fallen lässt.
Vorsichtig blicke zu ihm, durch meine braunen Haare hindurch, herüber. Er hat nur einen Collegeblock und sein Etui dabei. Schon früher ist mir aufgefallen, dass er immer nur diese beiden Sachen mit hat, während ich selbst immer mehrere Bücher mitschleppen muss. Wie kann er damit durchkommen? “Hey“, grüßt er mich freundlich. Diesen Ton kann er sich gerne auch sparen. “Hey“, erwidere ich. Nachdem ich geantwortet habe, bereite ich mich auf eine seiner Sticheleien vor, doch das geschieht nicht. Stattdessen überrascht er mich: “Tut mir leid, dass ich vorhin so gemein zu dir war. Ich bin in ein altes Muster zurückgefallen.“ Mir fällt die Kinnlade hinunter und ich kann nicht anders, als zu fragen: “Alles gut bei dir? Hast du irgendwas genommen?“ “Nein, ich bin bei klarem Verstand“, meine Frage scheint ihn beleidigt zu haben: “Nimmst du meine Entschuldigung denn an?“
Das ist eine gute Frage. Wahrscheinlich sollte ich so nicht fühlen, aber seine Entschuldigung berührt mich. Es wirkt, als hätte er seine schlechten Angewohnheiten abgelegt und wäre nun eine neue Person. Seit seinem achtzehnten Geburtstag scheint es, als hätte er einen Neuanfang begonnen und würde nun versuchen unsere alte Freundschaft wieder zu beleben. Sollte ich ihm vielleicht eine Chance geben? Schließlich verdient jeder eine zweite Chance!
Aus dem Augenwinkel bemerke ich wie sich einige von Camerons Freunden und Footballkollegen zu uns umdrehen und mit den Augenbrauen zu wackeln oder zu pfeifen beginnen.
So gut es geht, versuche ich sie jedoch zu ignorieren und einfach auszublenden, da ich gerade eine wichtige Entscheidung treffen muss. Cameron scheint seine Freunde, aber nicht ignorieren zu können und wirft jedem von ihnen deshalb böse Blicke zu, woraufhin sie sich sofort wieder nach vorne drehen.
Fast habe ich die Entscheidung getroffen ihm zu vertrauen und zu verzeihen, aber als ich ihm in die Augen sehe, fällt mir wieder alles ein, was er die Jahre über getan hat. Ich erinnere mich an all die Stunden, die ich weinend in meinem Bett verbracht habe und in denen ich keine Person sehen wollte. Will ich das wirklich nochmal?
Ich will gerade antworten, da beginnt der Lehrer zu sprechen: “Bitte schlagt das Buch auf Seite einhundert zwei auf und löst die Aufgaben fünfzehn bis dreiundzwanzig mit eurem Sitznachbarn.“ Dann wendet der Erwachsene sich wieder dem Buch zu und beginnt die Aufgaben selbst zu lösen.
“Sieht so aus als wären wir Partner“, erwidert er und fragt: “Können wir uns dein Buch teilen?“ Still reiche ich ihm mein Buch und schaue weg. Hoffentlich schaffe ich es meine Antwort noch länger heraus zu zögern. “Wie lautet deine Antwort jetzt? Verzeihst du mir oder nicht?“, fragt er vorsichtig und hebt seinen Blick dabei konsequent nicht vom Buch. Da ich selbst noch keine Entscheidung getroffen habe, antworte ich: “Ich weiß es nicht. Gib mir etwas Bedenkzeit?“ Sein Gesichtsausdruck zeigt mir, dass es nicht die Antwort ist, die er sich gewünscht hatte, aber trotzdem akzeptiert er, was ich einfordere: “Du bekommst natürlich so viel Zeit, wie du willst.“
Als wir mit den Aufgaben fast fertig sind, stellt er mir eine weitere Frage: “Sagst du mir nun mit wem du zum Ball gehst. Wenn nicht, ist das aber nicht schlimm. Schließlich geht mich das nichts an.“ “Stimmt es geht dich nichts an“, mein Ton ist knall hart. Er schaut mich verletzt an, scheint aber zu akzeptieren, was ich gesagt habe, bis ich noch etwas hinzufüge: “Aber trotzdem werde ich es dir sagen.“ Sofort hellt sich seine Miene auf und bei dem Anblick, breche ich fast in Gelächter aus. Es wirkt, als hätte er gerade die beste Nachricht auf den ganzen Planeten erhalten. “Ich gehe mit Kyle Davenport hin!“ “Wer ist das denn?“, fragt er verwundert.
Erst jetzt fällt mir wieder ein, dass ich Kyle erst kennen gelernt habe, als ich auf die Middle School gekommen bin. Zu dem Zeitpunkt waren Cameron und ich nicht mehr befreundet, also kann es sein, dass er und Kyle noch nie ein Wort gewechselt haben. Gesehen haben sie einander wahrscheinlich schon, aber mit Sicherheit wusste Cameron nicht, dass er gerade mit Kyle reden. Früher hat ihm ja schon der kleinste Kontakt mit meinen Freunden oder mir gereicht.
“Mein bester Freund“, murmele ich, an der Rückseite meines Stiftes kauend. “Echt?“, fragt er verwundert: “Wer geht mit seinem besten Freund auf einen Ball?“ “Es war seine Idee“, rechtfertige ich: “Und mit Kyle hinzugehen ist meilenweit besser als am Samstag allein zu Hause auf dem Sofa zu sitzen und Eis in mich hinein zu stopfen.“ “Wärst du nicht lieber mit mir auf den Ball gegangen? Das wäre doch sicher viel besser für uns beide“, bietet er an. Verwundert blicke ich ihn an und schüttele hysterisch den Kopf: “Vergiss es! Ich möchte nicht mit dir, sondern mit Kyle hingehen.“ Schnell öffne ich mein Heft und blicke auf die Aufgaben im Buch: “Und mit dir in einem Team arbeiten möchte ich auch nicht länger. Du machst einfach die ersten und ich die letzten vier Aufgaben.“
Wieso muss er immer wieder alles zerstören? Wir hätten einfach still hier sitzen und gemeinsam die Aufgaben machen können, aber er musste ja wieder mit dem Ball anfangen und ich war so dumm darauf einzugehen.