Es wäre falsch den Kahlivobh, den wir als König bezeichnen würden, als höchste Instanz im sphinxischen System anzusehen, denn dies ist er keineswegs. Vielmehr stehen über jedem Einzelnen uralte Regeln und Rituale, denen sich niemand – selbst der König –widersetzen kann
Aus Ichirs „Eine Abhandlung über die Gesellschaft des sphinxisches Staates Ikantjey“.
Der Junge aus der neuen Gruppe heulte. Das Weinen bildete einen seltsamen Kontrast zu dem Keuchen und Schnauben der anderen Männer, die ihre Arbeit mit hängenden Schultern verrichteten.
Die in die Wände eingelassenen Kienspannhalter flackerten unregelmäßig und warfen Schatten auf die Wände des Tunnels. Die Ifinas-Grube war nicht viel anders als die Erste, in der Kesaj gelandet war. Die Arbeit war dieselbe, die Aufseher ähnlich, nur die Kontrolle war ein wenig abgeschwächt.
Die Spitzhacke schlug regelmäßig gegen den Stein, Funken stiegen auf und Schweiß lief Kesaj in Bächen über den nackten Rücken. Die Arbeit hier unten hatte sein Muskeln gestählt. Vorsichtig befreite er einen Brocken Erz von der Gesteinschicht mit einem Meißel und kratzte ihn dann vorsichtig frei, bevor er ihn in den Karren unter sich warf. Seine Finger waren blutig, die Nägel eingerissen.
Das Plärren endete nicht. Kesaj seufzte und konzentrierte sich auf seine Arbeit. Der Junge gehörte nicht zu seinem Arbeitstrupp, was ging es ihn also an? Der Junge hatte im Krieg kämpfen können, also hatte er auch die Konsequenzen alleine zu tragen.
Doch sein Herz sagte ihm, dass es doch etwas bedeutete und er empfand Mitleid für dieses Kind, das seine Heimat verloren hatte und jegliche Hinsicht darauf, jemals wieder zurückzukehren. Denn selbst wenn ihm die Flucht gelingen würde, würde seine Familie ihn verleugnen und abweisen, weil er sich ein Kriegsgefangener Schande bereitet hatte und diese Schande erst getilgt werden musste, bevor eine Rückkehr in die Heimat möglich war. Dies war auch einer der Gründe, warum Kesaj den Gedanken an eine Flucht bald verworfen hatte. Wohin hätte er sich auch wenden können? Das Mal der Schande schmückte seinen Oberarm wie ein finsterer Schatten arthergischer Machtinteressen. Doch er besaß die Hoffnung auf eine Revolution, die ihm diese Schande wieder nehmen konnte, der Junge hatte nichts.
Mit einem Seufzen legte er sein Werkzeug weg und trat von der Eisenerzader zurück.
„Was wird das?“, fragte einer der Wächter, Aerilon.
„Ich will Wasser lassen.“, meinte Kesaj erschöpft und der Bewaffnete wandte sich mit einem Schulterzucken ab. Er war einer von den Netten. Solange man seine Arbeit ordentlich verrichtete, ließ er einen in Ruhe.
Kesaj sah sich noch ein letztes Mal um, bevor er zu dem benachbarten Arbeitstrupp hinüber schlich und den Jungen an der Schulter schüttelte.
„Hör auf zu weinen.“, fuhr er in der Sprache seiner Heimat an.
Der Junge plärrte weiter. Entnervt hob Kesaj das Kinn des Jungen an und stellte mit Erstaunen fest, wie jung dieser war. Neun, vielleicht zehn Jahre. Nein, dieses Kind hatte es nicht verdient, hier unten zu sterben.
„Junge, wie ist dein Name?“.
Der Junge schniefte, dann antwortete er: „Asej.“.
Kesaj schluckte, denn dies war der Name seines Bruders gewesen.
„Hör mir zu, Asej. Wir werden nicht sterben, sondern die Weiten unser Heimat wieder erblicken.“. Er sah sie vor sich. Die schneebedeckte Bergkette, die dichten Wälder und das gelbe Gras der Quires-Steppen, das sich bis zum Horizont erstreckte.
„Das verspreche ich dir.“.
Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, drückte er die Hand des Knaben. Und dieses Versprechen war mehr, als nur ein Wort. Denn als er aufblickte und in die Gesichter der umstehenden Bergleute sah, las er den kostbarsten Schatz in ihren Gesichtern. Den Schatz der Hoffnung.
Mearestjohrg blickte seinen Herrn besorgt an. Der Bentjavkil von Astira erholte sich von dem schon mehrere Wochen zurückliegendem Kampf nur langsam. Und solange Astjolivt unfähig zu kämpfen war, konnten sie nicht fort. Denn ein starker Anführer musste kämpfen, um sich in den Zweikämpfen seines Volkes durchzusetzen. Also musste er gesund werden, bevor sie etwas unternehmen konnten.
„Ich muss dir danken, Mearestjohrg.“, meinte Astjolivt und Angesprochener war erleichtert, als er die Stärke in ihr vernahm.
„Ich tue nur meine Pflicht.“, entgegnete er.
„Nein.“, widersprach der Bentjavkil, „Du tust mehr, als es deine Pflicht wäre. Jeder andere hätte mich verlassen und viele hätten mich getötet, um meinen Platz einzunehmen. Bedauerst du es? Du könntest jetzt fern der Gefahr sein.“.
„Nein. Ich bedauere nicht.“, erklärte Mearestjohrg mit harter Stimme. „Ich wünschte mir nur, dass ich mich von meiner Familie hätte verabschieden können.“.
Doch er hatte das Risiko gekannt, als er in den Dienst des Bentjavkil getreten war und sein Weib war ihm bereitwillig gefolgt. Wenn nur diese Unwissenheit nicht wäre…Er konnte alleine hoffen, dass seiner starken Frau Inristja mit seinen beiden Söhnen die Flucht gelungen war.
Dennoch war dies die richtige Entscheidung gewesen, wenn jemand diese Situation verändern mochte, dann war es Astjolivt.
In diesem Moment richtete er sich ruckartig auf.
„Sphinx.“, murmelte er und auch Mearestjohrg schnüffelte.
Der Geruch eines Löwen hing in der Luft und er näherte sich rasch.
Mearestjohrg kroch vorsichtig über den Rand der Senke, in welcher sie sich verbargen, und blickte in die Sandwüste.
Es war nichts zu sehen, außer ein paar Geiern und den fernen Schemen einer Wildpferdherde.
Dann sprang jemand von der anderen Seite auf ihn und warf ihn zu Boden. Pfoten nagelten ihn fest und ihm war es kaum möglich, sich zu rühren.
„Hadassa?“. Entsetzt und überrascht zugleich starrte er seine Zwillingsschwester an.
„Kannst du es vielleicht beim nächsten Mal unterlassen, mich so zu erschrecken?“, fauchte er, nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte.
„Es war ein Appell an deine Wachsamkeit.“, bemerkte sie, ließ ihre Pfoten jedoch senken.
„Witzig.“, knurrte er.
Sie stand auf und drehte sich erneut zu ihm um.
„Und deinen Gestank“, konterte sie, „habe ich schon in den Dohmbrob wahrgenommen.“.
„Freut mich, dass du auch noch lebst.“, knurrte Mearestjohrg und richtete sich ebenfalls auf.
Hadassa ignorierte ihn jedoch, was er ziemlich unverschämt fand und neigte ihren Kopf vor Bentjavkil Astjolivt.
Dieser wirkte eher amüsiert als verärgert und begrüßte die ehemalige Botin mit einem freundlichen Knurren.
„Ich akzeptiere dich, Bentjavkil.“, erklärte sie sogleich, während die Löwin sich niederließ, „Doch erwarte nicht, dass ich irgendwelche Höflichkeiten befolge. Dies lehne ich bei Allen ab, denn sind wir Löwen und keine Menschen.“.
„Ich stimme dir zu.“, entgegnete der Verletzte schlicht, was Hadassa mit einem Nicken quittierte.
„Erzählt mir, was geschehen ist. Ich vernahm auf meinem Weg Widersprüchliches.“.
In knappen Worten, in welchen der Zorn loderte, erzählte Mearestjohrg seiner Schwester von der Versammlung der Bentjavkil und dem Verrat des Tchaveskov.
Sie verhielt sich bei dieser Erläuterung erstaunlich gut, doch kannte er seine Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie zu wütend war, um diesen Zorn in irgendeiner Form offenbar werden zu lassen.
„Der Name dieser Wesen ist Oteilon, so nennt sie zumindest Narichre Tanide.“.
„Nanis…Wer?“.
„Narichre Tanide ist eine bedeutende hersorische Wissenschaftlerin, die zur Zeit Ascarnas lebte.“, erläuterte Astjolivt knapp.
„Und woher weißt du das bitte?“, fragte Mearestjohrg vollkommen verblüfft. Seine Schwester konnte wie die große Mehrheit des sphinxischen Volkes nicht lesen und sie verabscheute jegliche Art von Wissenschaft.
Sie seufzte und erzählte ihnen von ihrer Suche.
„Eine Sphinx, zwei Hersor, eine Elbe und ein Mensch, das klingt nach einer interessanten Mischung.“, gab der Bentjavkil sein Plädoyer ab. „Beschreibe mir den Menschen.“.
Mit einem Schulterzucken erfüllte Hadassa den Wunsch des Fürsten, was zur Folge hatte, dass dieser leise auflachte.
„Hiskijar nennt er sich nun? Ich kannte ihn unter dem Namen Tiandyos. Ein wahrlich eigentümlicher Mann, doch ein fantastischer Krieger. Und mit deinen Forschungen bestätigst du meine Vermutungen, auch wenn mir immer noch unklar ist, warum sie jetzt zuschlagen.“.
Hadassa sprang auf.
„Was hast du vor?“, rief Mearestjohrg in der Ahnung, dass seine Schwester erneut einen verrückten Plan gefasst hatte.
„Rache zunehmen für einen Verrat an unserem Volk und unserem Glauben.“. Er hatte sich geirrt, sie wollte Selbstmord begehen.
„Das ist Wahnsinn.“, hielt er ihr vor.
„Nein.“. Gelassen blickte sie ihn an, „Es ist der Mut verzweifelter Hoffnungen.“.
Sie erklomm die Sanddüne, dann wandte sie sich erneut zu ihm um.
„Wenn ich deine Frau sehen werde, überbringe ihr deine Grüße. Wenn du sie zuerst siehst, richte ihr meinen Dank aus.“.
Verzweifelt blickte Mearestjohrg ihr nach. Immer wieder sah er zwischen seinem Herrn und seiner Schwester hin und her. Sie beide besaßen einen festen Platz in seinem Herzen und sie beide benötigten seine Hilfe. Doch er verblieb bei seinem Herrn und sah seiner Schwester alleine hinterher, die einen wahnwitzigen Plan verfolgte, bei welchem sie unweigerlich in Schwierigkeiten geraten musste.
Er seufzte und ließ sich auf den Boden sinken.
Hadassa war zornig. Die Löwin hetzte über den Sand und obwohl sie wusste, dass sie diese Geschwindigkeit bald bereuen würde, war es ihr nicht möglich, sich zu zügeln. Sie verachtete den Tchaveskov für seinen Verrat und einstige Achtung hatte sich rasch in Hass gewandelt. Jeder, egal ob einfacher Sphinx oder Tchaveskov hatte sich dem Gesetz zu unterwerfen. Doch durch seinen Verrat hatte er sich der Gerechtigkeit Ikantjeys entzogen, zumindest hatte er sich so mächtige Unterstützer gesucht, dass er diese nicht länger achten musste. Folglich musste jemand den König wieder dem Gesetz unterstellen.
Doch vielmehr als ein Verrat, war dies auch eine Beleidigung am Glauben der Mehrheit des sphinxischen Volkes. Zwar gab es einige die den südlichen Krieger – und Jagdgöttern ihre Anbetung schenkten, doch die meisten hingen dem alten Glauben des Hüters an. Die Oteilon schienen jedoch offenkundig seine Feinde zu sein, weshalb ein Bündnis des Tchaveskov mit jenen, gegen den Glauben des Volkes sprach.
Dies war eine Tatsache, auf die Hadassa zu beharren gedachte, denn sie selbst hing ebenfalls dem alten Glauben an.
Nach einem halben Tag erreichte sie die Ruinen von Ikantjey, von wo aus die der Spur des Tchaveskov und der verräterischen Bentjavkil folgen wollte.
Als die den Platz des Verrats schließlich fand, zitterte ihr ganzer Körper von Zorn. Die Körper der toten Löwen mochten sich in Sand aufgelöst haben und mit der Wüste verschmolzen sein, doch der Geruch des Blutes hing weiterhin in der Luft. Über der ganzen Stadt lag eine Atmosphäre der Angst und Bedrückung, die Oteilon mochten fort sein, doch ein Teil von ihnen war verblieben. Für einen Moment fragte Hadassa sich, was die Oteilon zu dem hatte werden lassen, dass sie waren. Denn sie war sich sicher, dass der Hüter nie etwas so abgrundtief Böses hätte erschaffen können. Und die Oteilon waren eine Verkörperung der Bosheit, anders war es ihr nicht möglich zu beschreiben, was sie gesehen und empfunden hatte. Und ihr war es schier unverständlich wie der Tchaveskov sich mit solchen Kreaturen hatte verbünden können.
Sie wandte sich von diesem Platz der Schande und des Verrats ab und lief durch die Ruinen der einst so stolzen Stadt Ikantjey nach Süden.
Verfallen war Ikantjey vor etwa hundertdreißig Jahren, als Tchaveskov Ascarna sich entschieden hatte, den Löwen der menschlichen Gestalt vorzuziehen. In dieser Zeit hatte sich die Wüste zurückgeholt, was einst ein Teil von ihr gewesen war.
Hadassa lag über Sanddünen, unter denen sich Häuser befanden, während einzelne Türme wie krumme Finger aus der Wüste ragten.
Plötzlich krallte sich etwas in Hadassas Bein und hielt sie an der Stelle. Die Löwin sah an sich hinab und identifizierte die Pranke eines Löwen, welcher sich wohl im Sand verbarg. Nein, verbesserte sie sogleich, die Pranke war zu kräftig für einen Löwen und passte eher zu einer Löwin.
Hadassa begann den Sand in der Hoffnung hinfort zu werfen, dass der Löwe befreit werden möge.
„Ristkja“, erkannte sie, als sie die Löwin freilegte, „Was machst du hier?“.
Die Bentjavkil schüttelte den Sand aus ihrem Fell und blickte Hadassa an.
„Versuchen eine Erklärung für diesen Verrat zu finden. Wie ist dein Name?“.
„Hadassa Minjoskarsarb. Ich diente dem Tchaveskov als Botin nach Beovrey.“.
„Du dientest ihm?“, wiederholte die Fürstin scharf.
„Richtig.“, bestätigte sie, „Und jetzt folge ich seinen Spuren, um ihm wieder dem Gesetz zu unterstellen.“.
„Da bin ich dabei.“, knurrte sie.
Hadassa musterte die Löwin kurz. Zwar war ihr Körper von Abschürfungen, Prellungen und Bisswunden übersäht, doch dies würde die Bentjavkil nicht davon abhalten zu kämpfen.
Ohne, dass sie ein weiteres Wort austauschen mussten, setzten sich die beiden Löwinnen nach einem grimmigem Nicken in Bewegung.
Sie folgten Kahlivobhs Duft, der in der Wüste hing, doch die Warnung seines Verrats verhallte ungehört in der Weite. Diejenigen, die von diesem wussten, waren auf seine Seite gewechselt oder tot.
Eine ohnmächtige Wut erfüllte Hadassa, als sie durch die Wüste jagte und seinen Geruch verfolgte, Ristkja an ihrer Seite.
„Da.“. Sie hielt inne. Spuren, die der Wind noch nicht davon getragen hatte, Wegweiser im Wüstensand.
„Wohin er wohl will?“, überlegte sie.
„Schaden anrichten, soviel ist sicher.“, knurrte die Bentjavkil und setzte sich wieder in Bewegung.
Schließlich fanden sie ihn und als Kahlivobhs Gruppe unter ihnen entlang zog, spannten sich Hadassas Muskeln. Es war keine besondere Entscheidung dafür von Nöten, sie taten es von alleine, als würden auch sie ihren Hass wahrnehmen.
Sphinxe, deren Loyalität zuvor anderen Herren gehört hatte, reisten bei ihm. Bentjavkil, deren Herzen nicht mehr dem Staat, sondern Macht und Einfluss dienten. Und in ihrer Mitte wanderte der Verräter, Tchaveskov Kahlivobh, der sich über das Gesetz und sein Volk erhoben hatte, dank der Hilfe der Oteilon.
Hadassa loderte vor Zorn, als sie die Zufriedenheit in seinem Gesicht las und den Stolz in seinen Bewegungen erkannte.
Jeglichen rationalen Gedanken, der zuvor noch in den hintersten Winkeln existiert hatten, waren vergessen. Allein Zorn und Wut regierten, als sie über die Düne sprang und sich auf den Löwen warf.
Von ihrem Schwung getragen, krachten sie beide auf den Boden. Aus den Augenwinkeln nahm Hadassa noch wahr wie Ristkja zwei Bentjavkil abwehrte.
„Verräter.“, knurrte die einstige Botin, während sie sich über den Sand rollten.
Seine Zähne verbissen sich in ihrer Schulter und seine Krallen schlugen gegen ihre Flanke. Sie jedoch spürte den Schmerz kaum, nahm alleine das Fleisch zwischen ihren Zähnen wahr.
Für einen Moment lösten sie sich von einander, nur um sich erneut in einander zu verbeißen. In dieser Zeit wunderte sie sich, wieso seine Männer nicht angriffen, denn war selbst eine Löwin wie Ristkja einer solchen Anzahl nicht gewachsen.
Doch war es ihr nicht gegeben, länger bei dieser Frage zu verweilen. Mit einer raschen Bewegung schüttelte sie seine Pranke ab, rollte sich fort und kam wieder auf die Füße.
Um sie herum hatten sich Löwen versammelt, nur sahen sie keinen Grund dafür, einzugreifen, sondern hielten einzig Ristkja fest. Als Hadassa die Situation verstand, hätte sie fast begonnen zu lachen. Kahlivobh mochte die uralten Gesetze und Rituale seines Volkes abgeschworen haben, doch seine Gefolgschaft hatte ihre Wurzeln nicht vollends gekappt. Der Tchaveskov hatte zu beweisen, dass er ihrer würdig war.
Wenn ihre Situation nicht so gefährlich gewesen wäre, hätte sie ihn fast bedauert, so hatte der Verräter sich seine Situation bestimmt nicht vorgestellt.
Löwin und Löwe umkreisten einander mit nervös zuckenden Schwänzen und schätzten die Stärken den jeweils anderen ab.
„Du hast dich mit dem Feind verbrüderst, Kahlivobh.“, stellte sie ruhig fest.
„Dein Feind kann mein Freund sein, Hadassa. Diese Dinge sind immer subjektiv.“.
„Viele Ansichten ändern sich nach dem jeweiligen Standpunkt.“, gab sie zu, „Doch die Oteilon zählen nicht dazu. Sie sind verkörperte Bosheit.“.
„Auch Bosheit ist immer eine Frage der Definition.“, entgegnete er leise und für einen Moment war sie überrascht, dass er nicht zuschlug.
„Verstehst du denn nicht? Ihr einziges Interesse ist es, Rache an dem Stamm Ascarnas und ihres Volkes zu nehmen, dass einst ihre Eroberungspläne vernichtete.“.
Er musterte sie nur und schwieg.
Seine Pfoten hinterließen Spuren im Sand, als sie sich umkreisten und Hadassa ertappte sich dabei, dass sie mit Absicht in seine Abdrücke trat, als würde sie dadurch den alten Kahlivobh zurückholen können.
„Nein.“, erwiderte er schließlich mit einer Einfachheit, die von Endgültigkeit sprach.
Dann stürzte er erneut auf sie zu.
Hadassa wich im letzten Moment zur Seite aus und ließ ihn ins Leere laufen. Für einen Moment stolperte er und dies nutzte sie aus. Mit all ihrer Kraft rammte sie gegen ihn und schmiss ihn erneut zu Boden.
Ihre Pranke setzte sich auf seine Brust und ihr Kopf senkte sich, um seine Kehle zu entblößen.
Kahlivobhs Augen loderten vor Zorn, doch war es ihm nicht möglich, ihr Gewicht von sich zu werfen.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Veränderung in seinem Gesicht wahr, es war nicht viel, doch genug, um sie zögern zu lassen.
Dennoch reagierte sie zu spät. Sein Körper spannte sich an und sie wurde fortgeschleudert. Etwas brach mit einem lauten Knacken, als sie gegen einen Felsen krachte. Schmerz durchzog in glühenden Bahnen ihren Körper und als sie sich aufrichtete, bemerkte sie, dass sie die menschliche Haut trug.
Im Hintergrund hörte sie Ristkjas lauten Schrei und mit der Gewissheit einer Kriegerin wusste sie, dass sie gleich sterben würde. Ihr Bein war gebrochen und obwohl Sphinxe anders auf Verletzungen reagierten als gewöhnliche Menschen, würde der Bruch nicht schnell genug heilen, um sie vor Kahlivobhs Zorn zu bewahren.
Seine gewaltige Körpermasse raste auf sie zu und obwohl sie sich bereit machte, um sich zur Seite zu werfen, war ihr bewusst, dass dieses Spiel unmöglich auf Dauer auszuhalten war.
Sie sah die Muskeln unter seinem goldenen Fell arbeiten, die Pranken über den Boden hetzen.
Dann sprang jemand vor sie.
Erschrocken riss Hadassa die Augen auf, denn war es ein Mensch, der mit dem Rücken zu ihr stand und den Angriff des Tchaveskovs abgefangen hatte.
Dabei trug dieser Mann noch nicht einmal eine Rüstung, die ihn hätte schützen können. Schnürstiefel, die mehr dem Zweck denn der Verteidigung dienten. Eine Hose und ein Wams aus festem, grauem Stoff waren alles, die ihren Retter vor den Löwenkrallen bewahrten.
Sie konnte Kahlivobh zornig knurren hören und auch wenn sie es sich nicht erklären konnte, hatte der Mann den ersten Angriff abgefangen.
Hadassa stand – so gut sie es vermochte – auf, lehnte sich aber gegen den Felsbrocken. Erst jetzt erkannte sie auch wie jung ihr Retter war. Feines braunes Haar, das auf eine seltsame Art und Weise geflochten war, reichte ihm bis zum Nacken. Er war groß und schlank, gelenkig und sprungbereit wie ein Raubtier.
Kahlivobh sprang in einer einzigen Bewegung des Zorns gegen ihm, doch die Kraft, welche einen ausgewachsenen Löwen zu Boden geworfen hatte, schien an dem jungen Mann spurlos vorüber zu gehen.
Er blieb stehen und der Angreifer prallte zurück.
„Dies ist nicht deine Heimat, also verschwinde von hier.“, meinte der Tchaveskov mit einer Stimme, die Hadassa nicht länger bekannt war.
„Ebenso wenig ist dies das Land der Oteilon, Kahlivobh. Demnach kann ich dasselbe zu dir sagen.“.
Der Fremde schien in einem hellen Licht zu strahlen und nun bemerkte Hadassa die dunklen Strahlen, die ihren ehemaligen Herrn berühren zu schienen.
Fünf Oteilon tauchten am Rand der Düne auf, doch behielten sie eine beobachtende Rolle bei.
Kahlivobh währenddessen stürzte erneut auf den unerwarteten Gegner zu, nur besiegte dieser den Sphinx ebenso leicht wie zuvor.
Hadassa war schon viel in Anthar umher gereist und hatte viele Völker getroffen, doch war ihr noch nie ein Mensch begegnet, der einem Sphinx unbewaffnet lange etwas entgegen zu setzen hatte.
Hinter ihr wurden die anderen Sphinxe langsam unruhig und die Verletzte suchte in dem Kreis nach Ristkja, die immer noch von zwei Sphinxen zu Boden gedrückt wurde. Da…
Ohne zu zögern, verließ Hadassa ihre Deckung und humpelte auf die Bentjavkil zu.
Im selben Moment stürzte der Tchaveskov erneut auf den Fremden und biss sich an ihm fest.
„Ristkja!“, schriee die ehemalige Botin voller Zorn.
Ihr Wutschrei mischte sich mit denen von Ristkja, nur zeugten die ihren von entsetzlichen Schmerzen. Die Flammen der Oteilon hatten ihren Körper erfasst und ihr Gesicht wandelte sich inmitten des Feuers zu einer entsetzlichen Grimasse.
Ein Oteilon wandte sich ihr zu und Hadassa schreckte vor der entsetzlichen Leere zurück, die sie im Schatten der Kapuze fand.
Flammen loderten in den Händen des Wesens auf und kurz darauf leckten sie an Hadassas Kleidung.
Die Flammen fraßen langsam aber gierig.
Hadassa floh humpelnd vor der Macht der Oteilon, gegen die sie nichts ausrichten konnte.
Hier geschah es aber, dass der Hüter ihr die Gabe schenkte, welche die Zerstörung der Oteilon und Rettung ihres Volkes ermöglichte.
Einst mochte es diese Gabe gegeben haben, doch sie selbst besaß sie nicht. Sie hatte viele Kämpfe ausgefochten, doch noch nie hatte sie so stark für einen Sieg gefleht wie jetzt. Es war mehr als der Gedanke ihres eigenen Todes, sondern die Zukunft ihres Volkes.
In ihrer Verzweiflung tat sie also das in ihren Augen einzig Richtige: Sie griff den Tchaveskov an.
Es war eine Dummheit, das wurde ihr in demselben Moment bewusst, in welchem sie losstürzte. Ihre menschliche Haut schützte keineswegs so gut wie es die des Fremden tat, sie würde von den Löwenkrallen zerrissen werden. Und womit sollte sie kämpfen? Weder Waffen aus Eisen oder Stahl, noch aus Holz, konnten ihr dienlich sein. Und eine Verwandlung…Sie wusste nicht genau, was Kahlivobh getan hatte, doch war es ihr nicht länger möglich, sich zu verwandeln.
Welche Möglichkeiten blieben ihr außer Zähne und Finger?
Kahlivobh stand da, gelassene Körperkraft und Macht, die Ruhe in Person, denn konnte er sich seiner Position sicher sein. Sie war keine Gefahr, Ristkja war tot und den Fremden mochte er zwar nicht besiegen können, doch war dieser unbewaffnet, wenn er keinen Dolch in seinem Stiefel versteckte.
Einen Dolch…
Für einen Moment zögerte Hadassa, denn eine Waffe war ihr geblieben. Es war eine Waffe, von der sie sicher sein konnte, dass Kahlivobh sie nicht besaß.
Noch während sie rannte, zog sie mit einer schnellen Bewegung einen Silberpfeil aus den Falten ihrer Kleidung.
Zugegeben war es eine lächerliche Waffe, um gegen einen Löwen anzutreten, knapp so lang wie ihre ausgestreckte Hand.
Es war kein reines Silber, sondern mit Kupfer vermischt, doch war die silberne Farbe vorherrschend.
Sie verbarg dieses kurze Stück Hoffnung in ihrer Hand und sah dem Sphinx, welchem sei einst vertraut und gedient hatte in die Augen. Sie hatten sich verändert, waren dunkler geworden, von Schmerz und Schrecken verhärmt und gezeichnet. Für einen Moment fragte Hadassa sich nach seiner Intention. Musste es nicht mehr sein, als das Streben nach Macht und Einfluss? Weshalb wollte er unbedingt gegen Artherg ziehen?
Ein Prankenhieb kam auf sie zu, doch sie stürzte zur Seite, rollte sich durch den Sand ab und sprang wieder auf die Füße. Eilig hastete sie davon, als Kahlivobh auf sie zusprang.
Sofort machte er kehrt und jagte erneut auf sie zu und wieder gelang Hadassa nur durch einen raschen Sprung zur Seite die Flucht.
Dieses Mal jedoch wurde Kahlivobh seine Stärke zum Verhängnis. Er wendete zu langsam, um zu verhindern, dass sie auf einen Felsbrocken sprang.
Dieser war nicht groß genug, um sie vor einem gesunden Löwen zu schützen, doch verschaffte er ihr einen guten Überblick und eine kurze Atempause.
Sowohl die Löwen, die Oteilon als auch der Fremde verhielten sich abwartend. Bereit jeden Moment einzugreifen, wenn er erforderlich sein sollte. Erst jetzt konnte sie ihren Beschützer das erste Mal richtig sehen. Er war jung, doch in seinen dunklen Augen erkannte sie die Weisheit vieler Jahre. Es war mehr Wissen und Erfahrung, als sie es je in Alechos’ Augen gefunden hatte. Für einen winzigen Moment trafen sich ihre Blicke, doch dann nahm Kahlivobh ihre Aufmerksamkeit ein.
Ihr Gegner wandte sich ihr zu und nahm Anlauf, um sie vom Felsen zu stürzen. Kieselsteine und Sand wurden von seinen Pfoten hoch geschleudert und mit der unbändigen Kraft einer Naturgewalt raste er auf sie zu.
Kurz bevor er zum Sprung ansetzte, ließ Hadassa sich von der Erhöhung fallen. Ihre Hände klammerten sich in das verfilzte, goldene Fell und ihre Beine pressten sich mit aller Kraft an seine Flanken.
Kahlivobh brüllte zornig, denn sie verletzte ihn mit ihrem Ritt tief in Ehre und Ansehen. Wild bäumte er sich auf und machte der Sphinx bewusst, dass sie sich nicht lange würde halten können. Sie suchte nach einer Stelle, an welche sie angreifen konnte, doch schützten Fell und Mähne die verletzbarsten Stellen vortrefflich.
Erneut bäumte Kahlivobh sich auf und dieses Mal gelang es ihr nicht, sich festzuhalten. Sie wurde durch die Luft geschleudert und prallte gegen den Felsbrocken. Ein schriller Schrei verließ ihre Lippen, als sie auf ihr verletztes Bein fiel. Etwas Feuchtes rann ihr Bein herab und durchnässte ihre Hose.
Der Pfeil…
Verzweifelt tastete sie nach der Waffe, die sie während ihres Sturzes hatte fallen lassen. Ihr Herz pochte gegen ihre Rippen, als immer mehr Sand durch ihre Finger rann.
Kahlivobh schritt mit der Gemächlichkeit eines Jägers auf sie zu, der wusste, dass seine Beute gestellt war.
„Kahlivobh…“, flüsterte sie seinen Namen, als würde sie dadurch seine Vernunft wieder ans Licht bringen.
„Und hier endet es, Hadassa.“.
„Nein.“, flüsterte sie und Tränen rannen über ihr Gesicht, während ihre Finger sich um den Pfeil schlossen. Mit all ihrer Kraft hob sie den Arm und stieß ihm den Pfeil ins Auge.
Für einen Moment erkannte sie die Überraschung in seinen Augen, dann las sie die Erkenntnis und dann nichts mehr…
Der Körper des Tchaveskov fiel in sich zusammen und ein Sandsturm umtoste die daliegende Sphinx.
Hadassa keuchte auf, als wenn sie erst die Schmerzen wahrnehmen würde, die ihren Körper in loderndes Feuer tauchten.
Sie blickte auf und durch einen Tränenschleier erkannte sie die Oteilon, die auf sie zu glitten, während in ihren Händen das Feuer loderte.
Und dann wurde ihr offenbar, dass sie gleich sterben würde mit der Gewissheit, dass sich mit dem Tod des Tchaveskov nichts geändert hatte, denn die Oteilon waren immer noch da.
Doch dann sprang der Fremde vor sie und aus seinen Händen floss Licht hervor, dass die Oteilon vertrieb. Sphinxe und Oteilon, alle rannten davon von dem Licht des Fremden.
Doch Hadassas Sicht verschwamm und schließlich verblieb allein Dunkelheit.