- Kapitel 2
Mehr als absolute Dunkelheit ist nicht zu sehen, als Kea die Augen öffnet. Im ersten Moment begreift sie nicht. Begreift nicht, warum sie auf einer dünnen Decke liegt, durch die sie kaltes Metall spürt, begreift nicht, warum sie Gitterstäbe ertastet, als sie die Hand ausstreckt und begreift auch nicht, warum es in ihrem Kopf so unerträglich donnert und ihr speiübel ist. Sie stemmt sich hoch und kommt in eine sitzende Position. Alles tut ihr weh - nicht nur ihr Kopf, sondern auch jede Stelle ihres Körpers. Ihr ist nicht klar, wie sie hierhergekommen ist und erst jetzt fällt ihr auch wieder ein, dass ihr Name Kea ist. Kea flüstert ihren Namen in die Dunkelheit, als könnte sie ihn vergessen, wenn sie ihn nicht oft genug wiederholt. „Hallo?“, Keas Stimme ist so kratzig, als hätte sie kiloweise Sand gegessen. Sie räuspert sich und versucht es noch einmal, aber es hat keinen Zweck. Vorsichtig tastet sie über den kalten Boden um herauszufinden, ob hier irgendwo etwas Wasser ist. Ihre Finger finden tatsächlich eine kleine Holzschale in der sich eine Flüssiges befindet. Vorsichtig zieht Kea die Schale zu sich heran, riecht daran und nimmt erste einen kleinen Schluck, bevor sie sich sicher ist, das es tatsächlich Wasser ist. Kühl und gnädig fließt es ihre Kehle herunter und gibt Kea ihre Stimme zumindest ein bisschen wieder. „Ist da jemand?“ Nach kurzem horchen hörte sie ein leises Grunzen. „Wer ist da? Verstehst du mich?“ Es folgt Stille.
Plötzlich erscheint ein heller Streifen an der Wand, der schnell breiter wird. Eine wuchtige Gestalt steht in dem Lichtschein, gegen den Kea die Augen zusammenkneifen muss. Mit schweren Schritten kommt die Person auf sie zu. Anstatt etwas zu sagen holt sie einen Schlüssel aus ihrer Tasche und schließt Keas Käfig auf. Kea ist noch immer so geblendet, dass sie kaum etwas erkennen kann und es noch nicht einmal richtig bemerkt, als irgendwas um die Handgelenke gelegt wird.
„Mitkommen“, raunt die breite Gestalt - eindeutig ein Mann. Jetzt erst bemerkt Kea, dass sie Handschellen trägt, an denen eine lange Kette befestigt ist. Sie wird aus ihrem Käfig geschleift, hat kaum die Chance auf die Beine zu kommen und stolpert eine kleine Treppe hoch. Mit einem letzten Blick zurück sieht sie, was vorhin gegrunzt hatte. Ein Ferkel liegt in einer Holztruhe auf der Seite - aus seinem Bauch ragen zweizusätzliche, fast ausgebildete Beine. Es zuckt kraftlos, seine Augen sind angeschwollen und es gibt ein letztes erbärmliches Grunzen von sich, dann fällt die Tür hinter Kea ins Schloss. Langsam gewöhnen sich ihre Augen an das Licht und sie erkennt die breiten Schultern des Mannes und die unregelmäßigen Stoppel, die sich über seinen Kopf ziehen. Kea schaut an sich hinab und sieht, dass sie nackt ist.
Für einen kurzen Moment vergisst sie, wie man läuft. Ein heftiger Ruck an ihren Handgelenken bringt es ihr augenblicklich wieder bei. „Was ist hier los?“ Sie erschrickt selbst über den ängstlichen Ton in ihrer Stimme. Der Mann vor ihr dreht den Kopf sodass er sie aus dem Augenwinkel sehen kann. Anstatt Kea eine Antwort zu geben, verzieht er nur angewidert den Mund und dreht den Kopf zurück.
Das ist auch eine Antwort - irgendwie.
„Kopf einziehen“, raunt der Mann, als sie am Ende des kleinen Flures sind. Nach links führt eine Tür, die sie nicht benutzen. Vor ihr senkt sich die Decke auf eine Höhe von etwa eineinhalb Metern ab. Der Mann öffnet eine Klappe und zieht Kea hinter sich her in den tunnelartigen Durchgang. Eine schwache Lampe flimmert und wirft ihre Schatten in einem gespenstigen Rhythmus durch den großen Raum. Die Decke erhöht sich nicht, sodass die beiden fast auf allen Vieren kriechen müssen. Von oben ist ein gedämpftes Grollen zu hören, dass sich aus Applaus, Getrampel und Stimmengewirr zusammensetzt. Kleine Lichtpunkte tanzen vor Keas Augen. Nachdem der Mann kurz innegehalten hat, geht er weiter. Kea will im folgen, bis sie merkt, dass ihre Kette nicht mehr in den Händen des Mannes ist - er muss sie irgendwo befestigt haben. In dem schummrigen Licht ist nicht zu erkennen, wo sie festgekettet ist. „Was soll das?“ Kea dreht sich zu dem Mann, der sie in einem großen Bogen umrundet und wieder zum Ausgang kriecht. Kea umfasst die Kette und reißt daran - nichts bewegt sich.
Kalt und erbarmungslos drückt sich das Metall in ihre Handflächen als sie ein zweites Mal daran zieht. Ihr Schädel fühlt sich an, als würde jemand von Innen dagegen schlagen und versuchen, sich einen Weg hinaus zu schaffen. Kea drückt ihre Handflächen gegen die Schläfen um die Schläge abzudämpfen. Sie muss sich jetzt beruhigen, muss die Angst kontrollieren und versuchen alles so zu sehen, wie es ist. Aber es gelingt ihr nicht. Sie kann jetzt nicht ruhig bleiben! Sie muss hier raus - jetzt!
Wieder reißt Kea an der Kette und noch einmal. Ihr Atem geht schnell und stoßartig, Verzweiflung will sie lähmen aber das lässt sie nicht zu. Unter ihren Füßen spürt Kea raue, lückenlos zusammengesetzte Holzplatten. Plötzlich wird es hell, dort wo sie sitzt. Kea legt den Kopf in den Nacken und sieht, wie über ihr zwei Holzplatten auseinandergezogen werden. Ihre Arme wandern von selbst über ihren Kopf und ziehen sie ein Stück über den Holzboden, ehe sie langsam in den aufrechten Stand gezogen wird und den Boden unter ihren Füßen verliert. Wieder muss Kea die Augen gegen das Licht zusammenkneifen, zwingt sich aber nach einer Sekunde, sie zu öffnen um sehen zu können, wo sie ist. Ihre Füße hängen nun über dem Boden, der bis gerade eben noch die tiefhängende Decke war. Als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt haben, erkennt sie, was sie vor sich hat. Sie hängt in der Mitte eines riesigen, rot-weiß gestreiften Zeltes. Über Kea strahlt eine einzige Lampe sie punktgenau an. Mit wildem Blick durchstreift sie die Ränge, in denen Menschen sitzen, die sich alle besonders herausgeputzt haben. Eine Mischung aus Erstaunen und Abscheu spiegelt sich in ihren Gesichtern wieder. Doch das Eigenartigste hier ist die Gestalt, die direkt vor Kea steht und sie schief angrinst. Knochenfinger schauen aus den langen Ärmeln heraus und ein schwarzer Hut thront auf seinem hautlosen Kopf. Für einen Moment vergisst Kea wo sie ist - sie kann nur noch dieses Skelett im Anzug anstarren. Sie öffnet den Mund um einen Laut von sich zu geben, vielleicht einen Schrei aber das Skelett legt einen Finger vor seinen Mund. Seine leuchtend weißen Augen fixieren sie noch einen Moment, ehe es sich und zu dem Publikum zuwendet. „Das, meine Damen und Herren“, er zeigt auf Kea. „Ist unser Neuzugang!“ Die Stille wird durch ein einzelnes Klatschen unterbrochen, dass schnell zu einem tosenden Applaus anschwillt. Kea windet sich in der Luft um irgendwie ihren nackten Körper vor den gaffenden Blicken der Leute zu schützen. Die Handschellen graben sich schmerzhaft in ihre Handgelenke.
„Oho wie Lebhaft!“, tönt das Skelett. „Auf einer gefährlichen Jagd habe ich es gefangen - nur für euch.“ Es spricht zum Publikum während es zwei junge Männer heranwinkt. Plötzlich spricht das Skelett in einer bedrohlichen und geheimnisvollen Stimmlage: „Wer wagt es, ihr nahezukommen? Sie anzufassen?“ Ein unruhiges Raunen wandert wie eine Welle durch die Ränge, bis ein älterer Mann in der ersten Reihe aufsteht und laut „Ich“ ruft. Das Skelett lädt ihn mit einem breiten Lächeln ein, näher zu kommen. Keas Beine werden von den Männern gepackt, die das Skelett heran gewunken hatte. Ihre Griffe sind zu stark, als dass sie sich wehren könnte. Der Mann aus der ersten Reihe steigt über die Absperrung und kommt selbstbewusst auf sie zu. Er trägt einen dicken, wurstartigen Bart im Gesicht, der ihm ein speckiges Aussehen verleiht.
Was passiert hier gerade? Kea kann es nicht begreifen, es geht einfach nicht in ihren Kopf! Er zieht seinen Handschuh aus, nimmt mit der anderen Hand seinen Gehstock und steckt die Hand aus. Kea versucht sich irgendwie von ihm weg zu drehen aber sie kann es nicht verhindern. Der Finger des Mannes streicht, von einem lang gezogenem "Ihhhh" begleitet über ihren Bauch. Dann zieht er die Hand weg und schüttelt sie, als ob er gerade in Schleim gefasst hätte und diesen wieder loswerden will. Kea ekelt sich vor diesem Mann und sie denkt auch nicht nach, sondern spuckt ihm einfach entgegen und versucht nach ihm zu treten. Ihr Tritt wird zwar von den Männern an ihnen Beinen abgefangen aber ihre Spucke trifft das Jackett des speckigen Kerls. Er sieht einen Moment auf den Fleck als sich sein Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzieht. „Wie kannst du es wagen!“ Bellt er und holt mit seinem Gehstock zu einem Schlag aus, der Rippen brechen würde. Kea krümmte sich schon von dem Schlag weg, als plötzlich das Skelett zwischen ihr und dem Mann steht und besänftigend die Arme hebt.
„Aber, aber, guter Mann. So weit wollen wir doch wirklich nicht gehen.“ Der Mann lässt seinen Stock tatsächlich wieder sinken.
„Dass werden sie mir erstatten.“ grunzt er. „Natürlich.“ Die Stimme des Skeletts erklingt wie ein leiser Singsang. Mit einer kurzen Handbewegung bedeutet er den Männern an Keas Beinen, sie wieder wegzuschaffen.
Die junge Frau sitzt wieder in ihrem Käfig. Das grunzen des Schweines ist nicht mehr zu hören. Sie findet die Idee, dass es tot ist, gar nicht mal so abwegig. Ihre Finger zittern, sie zieht die Beine an und umklammert sie. Mit dem Kopf auf den Knien hockt sie hinter ihren Gitterstäben und versucht ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen. Eigentlich will sie nicht weinen aber dieser Käfig, diese Dunkelheit und das, was gerade passiert ist hält sie nicht davon ab.