Eigentlich wollten wir tanzen gehen, gleich nach unserem Training. Mit einem Bein muss ich wohl schon dort gewesen sein, oder mit meinem Kopf im Kleiderschrank, um herauszufinden, was ich anziehen kann. Jedenfalls rutsch ich noch wie ein Sack Bohnen unbeholfen über den Boden, fünf Minuten vor Schluss. Mira hatte mich voll erwischt und mit einem gezielten Dollyochagi aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich machte ihr keine Vorwürfe, so ist das im Freikampf im Tae Kwon Do. Absolut Regel gerecht. Trotzdem verflixt schmerzhaft. Mein Fußgelenk war angeschwollen, bevor ich aufstehen konnte.
Sie umringten mich alle mit besorgten Gesichtern. Die einzige, deren Ausdruck schnell zu schelmisch wechselte, war meine Freundin Jinny. Sie rannte schnell in die Umkleide und kam mit ihrem Smartphone wieder. Sie tippte etwas ein und hielt es mir ans Ohr.
Ich war sprachlos. Vor allem als ich die Stimme am anderen Ende der Leitung erkannte: Bernsteinauge! Vor Verblüffung vergaß ich einen Moment meinen Schmerz. Hatte ich richtig verstanden?
"Also, hm, vielleicht kann ich Ihnen helfen. Aber wenn es Ihnen in einer halben Stunde wieder gut geht, dann melden Sie sich zu unserem Schnupperkurs an. Versprochen?"
Was sollte das denn heißen? Über was für einen Kurs sprache er und überhaupt, wie sollte ich das Geld auftreiben, das wäre doch bestimmt teuer?! Nicht ein Wort hatte ich laut heraus gebracht und erschrak entsprechend, als er wieder sprach:
"Das ist mir wirklich egal, wie Sie das auftreiben. Immerhin gilt die Abmachung nur, wenn Sie tanzfit in 30 Minuten sind."
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jinny mir Zeichen machte. Was hatte sie ihm gesagt? Und wieso hatte sie ihn überhaupt angerufen?
"Vermutlich weil sie glaubt, dass ich Ihren Abend retten kann, Tara. Schöner Name für einen Hund."
Eins wusste ich damals mit Bestimmtheit: Seine enervierende Art, auf Gedanken zu antworten, als seien sie ausgesprochen, auf längst Vergangenes Bezug zu nehmen, ohne dass er davon wusste - daran würde ich mich nie gewöhnen. Doch meine Neugier war geweckt. Ich nickte.
"Schönen Abend noch, Stephanie." Damit war die Leitung beendet.
Alle, vor allem unsere Trainerin, starrten uns an, als seien wir kurz davor den Verstand zu verlieren. Tja. Und dann hatten wir sozusagen einen kollektiven Schock zu verarbeiten - nur Jinny strahlte aus allen Poren und freute sich wie ein kleines Kind zu Weihnachten: Mir wurde unglaublich heiß, als hätte mich jemand ins Solarium gesteckt. Am Knöchel begann es zu kribbeln und besonders intensiv zu brüten. Langsam ging die Schwellung zurück. Als die Sanitäter kamen, die offenbar jemand gerufen hatte, konnte ich schon alleine wieder aufstehen. Sie schauten von einem zum anderen, schüttelten den Kopf und gingen wieder.
Jinny umarmte mich. "Ich freu mich so, mit dir zu studieren. Nur eines verstehe ich nicht: Wieso hat er dich Stephanie genannt?"
Das Geheimnis kennen nur ganz wenige. Als Kind hatte ich mal einen Westie. Tara. Als sie starb, war ich untröstlich. Damals nahm ich ihren Namen an, um sie nie zu vergessen. Auf meiner Geburtsurkunde steht ein anderer Name. Ich behielt die Geschichte für mich und fragte statt dessen: "Was ist das für ein Kurs, den ich machen soll, und vor allem, wo kriege ich das Geld her?"
"Nur ein kleiner Online-Versuch, wart's ab. Und über das Geld mach dir keine Gedanken. Deine Gegenleistung besteht im Absolvieren des Kurses, nicht in seinem Bezahlen." Sie erklärte mir das Finanzierungs-Prinzip der ersten spirituellen Universität. Es besteht darin, dass es keins gibt. Jeder bezahlt so viel, wie er kann und will. Das wird weder kontrolliert noch eingefordert. "Die haben ein völlig neues Konzept von Geld. Es geht nicht mehr um Angst und Zwang, sondern um einen Liebesdienst. Und weißt du, meine Eltern haben genug gegeben, dass du guten Gewissens teilnehmen kannst."
Jinnys Eltern? Das machte mich sprachlos. Sie waren ziemlich wohlhabend, wie man so sagt. Und ziemlich konservativ. Wie ich glaubte. "Wenn alle Überraschungen so gut sind, will ich mehr davon."
"Ja, warte nur den Schnupper-Kurs ab." Jinny kicherte und zog mich mit sich. "Lass uns noch was essen, bevor wir abtanzen."