Grauer Staub kitzelt mich in der Nase, als ich zwischen den Häusern entlanglaufe. Ich sehe fast nichts mehr, doch ich kenne den Weg auch blind. Zu oft bin ich diesen Weg nun schon gelaufen und noch immer spüre ich diese freudige Aufregung. Endlich trete ich aus dem Schatten der Häuser hervor. In der Ferne kann ich bereits das Wasser hören. Der Boden unter meinen Füßen wird fester und ich beginne schneller zu laufen. Immer weiter. Ich bin schon außer Atem, doch ich laufe weiter.
Endlich sehe ich die Grenze und bleibe stehen.
Dort. Das riesige strahlende Gebäude. Das einzige Gebäude komplett aus Holz. Es scheint zu leben, die Wände zu atmen. Die Türen scheinen nur darauf zu warten, sich endlich öffnen zu dürfen. Als wollten sie jedem Besucher ihren wertvollsten Besitz zeigen. Freundlich blicken die Fenster mich an, begrüßen mich. Die Vögel beginnen zu singen, im Hintergrund das Rauschen des Meeres. Die Pflanzen verbreiten eine frische Luft. Ich schließe die Augen und atme den Duft des Lebens ein. Obwohl ich so oft hier bin, wie nur möglich, bin ich immer zu lange nicht hier. Hier wirkt alles so frisch, lebendig. Doch wenn ich zurückblicke, ist alles viel zu kahl. Farblos. Vertrocknet. Staubig. Es riecht dort immer nach Tod.
Und doch muss ich immer wieder zurückkehren. Hier darf ich nicht bleiben. Es ist verboten. Zum Glück haben sie diesen Ort noch nicht entdeckt.
Ich blicke auf die Kante auf dem Boden. Hier ist der Boden grau, voller Staub. Hart und steinig. Doch nur ein kleines Stückchen weiter wachsen bunte Pflanzen. Kein grauer Staub mehr. Unter den Pflanzen weiche Erde.
Obwohl ich schon unzählige Male hier war, bin ich noch immer von dem plötzlichen Übergang fasziniert.
Langsam trete ich über die Kante. Die Sorgen fallen von mir ab und lösen sich in Staub auf, der sich mit dem Staub hinter der Grenze vermischt.
Hüpfend nähere ich mich dem Haus. »Ace« rufe ich.
Die Vögel singen lauter, ein paar Insekten stimmen ein. Ich sehe Bienen, wie sie von Pflanze zu Pflanze schwirren. So viele Tiere, die es nur hier gibt und an keinem anderen Ort des Dorfes.
»Bin da«, höre ich Ace und laufe auf ihn zu, als er durch die Tür tritt.
Wir umarmen uns und ich spüre etwas hartes an seinem Bauch. »Du hast es dabei«, flüstere ich in sein Ohr.
Er nickt. »Wie versprochen. Es ist das, was du dir gewünscht hast. Aber lass uns nach unten ans Wasser gehen, damit meine Eltern uns nicht sehen«, antwortet er leise.
Ich nicke und wir gehen langsam über die Wiese. »Aber nicht zu tief ins Meer«, hören wir seine Mutter rufen.
»Weiß ich doch«, ruft er ihr hinterher und wir gehen die Felsen hinunter, die fast wie eine Treppe geformt sind.
»Ich finde es immer wieder erstaunlich«
Langsam steige immer tiefer hinab. »Was?«, fragt Ace über das immer lauter werdende Rauschen des Meeres hinweg.
»Die Natur. Das hier alles. Es ist einfach...magisch. Unerklärlich. Warum gibt es das alles nur hier?«
»Ich weiß, wie wir es herausfinden können«, ruft er freudig und hat plötzlich das Buch in der Hand. Wir sind unten angekommen und ziehen unsere Schuhe aus.
Ich schaue ihn an und wir laufen über den warmen Sand, bist wir irgendwann stehen bleiben.
»Hier ist der perfekte Ort«, stelle ich fest und Ace nickt.
Wir legen uns auf den Sand und Ace platziert das Buch vor uns.
Es ist schon alt. Alle Bücher sind schon alt. Es gibt keine neuen Bücher. Und doch erstrahlt der Einband noch immer so wunderbar in Grün, dass es scheint, als wäre er neu. So grün wie die Wiese vor dem Haus.
Ich kann die Schrift nicht mehr lesen, doch ich weiß, dass es das richtige ist.
»Da ist sie also drin?«, frage ich.
Ace nickt. »Ja genau. Die Geschichte, in der es darum geht, dass es einmal überall so aussah wie hier. Doch nicht immer. Mal gab es kalte, graue Phasen. Und dann erwachte alles wieder zum Leben. Der Frühling. Die wohl wundervollste Zeit. Wie aus dem Nichts der ganze Glanz entstand...unvorstellbar.«
Ich nicke. »Ja. Das ist wirklich unglaublich.«
»Aber lass es uns nun selbst lesen«, meint Ace und öffnet das Buch. Sofort blicken die Buchstaben mich an, als ob sie ewig darauf gewartet hätten, dass ihnen endlich mal wieder jemand lauscht.
Ich schaue Ace an und als er nickt, beginne ich die Worte vorzulesen:
Eisiger Wind pfeift über die Bäume hinweg und lässt sie unter den Schneemassen erzittern. Es ist nichts als das Rauschen des Windes zu hören, doch es wirkt unglaublich beruhigend zu lauschen.
An den Ästen liegt Schnee, so viel Schnee, dass selbst die stärksten Bäume unter der Last ächzen und stöhnen. Dicke Eiszapfen hängen von ihren Ästen herab, als wären es Skulpturen, die nach unten wachsen.
Ab und zu hört man einen Ast unter der Last brechen und den Schnee aufwirbeln. Doch nur kurze Zeit später sind alle Spuren bereits wieder unter dem Schnee verschwunden.
Soweit das Auge reicht, nichts als weißer perfekter Schnee. Kein einziges Tier ist zu sehen, für sie ist es hier deutlich zu kalt.
Doch es wird bald anderes sein. Bald wird der Bach wieder anfangen zu fließen, die Sonne wird es wieder durch die Schneemassen schaffen.
Bald ist der Winter vorbei, die einzigartige Kunst wird sich komplett auflösen. Der Wind verstummen, die Bäume werden anfangen wieder um die Wetter zu strahlen. Werden ihren Duft in der Umgebung verteilen, die Vögel werden wieder singen, der Bach wird im Hintergrund rauschen.
Die Blätter werden im leichten Wind rascheln. Überall werden Tiere zu sehen sein. Überall leben.
Doch noch schläft das Leben und erholt sich.
Aber bald, bald werden sie alle nach und nach wieder wach. Bald sind sie alle wieder da. Frisch und ausgeruht.
Der Wind wird leiser. Der Schneesturm durchsichtiger. Die ersten Sonnenstrahlen erreichen den Boden und erwecken die Welt.
Der Winter weiß, dass seine Zeit sich dem Ende zuneigt und zieht sich widerwillig zurück. Doch er weiß, dass er bald wiederkehren wird. Bald ist wieder seine Zeit.
Ein letztes Mal pfeift er durch die Bäume.
Die Sonne berührt mit sanften Fingern den Bach und er erwacht langsam. Mit einem leisen gluckern erwacht er aus der Winterstarre und fließt durch die noch weiße Umgebung, gefüttert durch den schmelzenden Schnee.
Erste Fußspuren sind im Schnee zu erkennen, bevor auch der letzte Rest verschwindet.
Sofort beginnen die ersten Pflanzen in ihrer vollen Pracht zu blühen, als wollen sie nach dem farblosen Winter ein buntes Zeichen setzen.
Vögel singen, Insekten schwirren umher. Leise knistert ein Lagerfeuer.
Das Rauschen des Windes ist nun endgültig verschwunden, der Winter vollkommen verschwunden. Doch in weiter Ferne wartet er bereits sehnsüchtig darauf, dass er das nächste Mal seine besondere Kunst verbreiten kann.
Wenn man ruhig ist, sind unzählige Tiere zu beobachten, zum Beispiel wenn sie aus dem Bach trinken. Gelegentlich kann man in dem klaren Wasser auch mal einen kleinen Fisch schwimmen sehen.
Ansonsten lauscht man den unzähligen Gesprächen der Vögel, die sich austauschen und froh sind, dass der harte Winter endlich vorbei ist.
Denn nun ist es endgültig Frühling.
»Wunderschön«, flüstere ich. Ich schließe meine Augen und lausche den Wellen. Höre die Vögel zwitschern. Atme die frische Luft ein.
»Diese Magie wahrzunehmen, zu sehen wie all das zum Leben erwacht...das muss unbeschreiblich sein«, hauche ich und öffne wieder meine Augen.
»Habe ich zu viel versprochen?«, fragt Ace und ich schüttel meinen Kopf. »Niemals. Das ist einfach unglaublich. Ich konnte es spüren. Es war als wäre ich dort gewesen. So viel Leben, so viel Magie«
Ich schaue über das Meer in die Ferne. »Was ist, wenn es diese Welt wirklich gibt? Irgendwo dahinten?«, ich deute nach vorne.
»Wer weiß?«, antwortet er geheimnisvoll.
Ich grinse und schaue ihn an. »Jetzt tue nicht so, als wüsstest du mehr als ich«, lache ich und stupse ihn in die Seite.
Ace steht auf. »Wer zuerst am Meer ist?«
»Das ist unfair«, rufe ich. Schnell springe ich auf und renne hinter ihm her, bis das Wasser meine Füße umspült.
Gemeinsam gehen wir noch weiter, bis das Wasser auch unsere Hüften umspült.
»Mich würde wirklich interessieren, was dort hinter ist«, stelle ich fest. »Hinter dem ganzen Wasser. Da muss doch noch etwas sein. Solche Geschichten kann man sich nicht ausdenken.«
Ace nickt. »Es muss noch mehr geben.«
Ich beobachte einen kleinen Fisch, der um meine Füße schwimmt. »Sie tun immer so, als gäbe es nicht außer das Dorf. Doch das hier«, ich deute auf die Umgebung, »ist doch der Beweis, dass es mehr geben muss. Wenn das hier existiert, warum nicht auch das Dorf hinter dem Wald? Ich glaube der Wald ist so gefährlich, wie sie immer erzählen.«
Ich sehe ein verräterisches Grinsen in seinem Gesicht. »Finde es heraus.«
»Ich meine warum sonst sollen sie die Bücher verbieten?«
Ace zuckt nur mit den Schultern.
»Danke«, sage ich. »Danke, dass ich hier sein darf. Das ich mit dir in diesen Büchern lesen darf. Das ich hierherkommen darf. Diese fremden Welten entdecken darf. Es bedeutet mir wirklich viel.«
»Ich weiß«, Ace legt seinen Arm um meine Schulter. »Und es macht einfach viel mehr Spaß mit dir. Viel mehr als alleine.«
Lange stehen wir dort. Gemeinsam im Wasser. Wir brauchen nichts mehr zu sagen, denn wir genießen gemeinsam die Umgebung.
»Langsam wird es kalt«, flüstert Ace. »Wollen wir langsam hoch gehen?«
Ich nicke leicht. Widerwillig bewege ich mich aus dem Wasser raus. Ich kann nicht ewig bleiben. Leider.
Ich nehme seine Hand und wir gehen den Strand zurück. Am Felsen nehmen wir unsere Schuhe und gehen nach oben.