https://www.deviantart.com/ifritnox/art/806529390
Es war zwei Wochen nach der Verhandlung.
Die Kinder der Sonne bewohnten nun ein vorher verlassenes Gehöft in einem verborgenen Tal in den Hügeln von Mîm. Es war ein ehemaliger Bauernhof mit einem Stall für Kühe, Weidenflächen und Feldern, einem alten, weitläufigen Haus, sowie einigen kleineren Wohngebäuden im gleichen verwinkelten Fachwerkstil, einer Scheune und mehreren kleineren Bauten – eine Hundehütte, die Jackie gelegentlich nutzte, ein kleiner Brunnen und ein abgelegener Keller, der über eine Bodenklappe erreicht wurde.
Inzwischen hatte sich ein gewisser Rhythmus eingeschlichen, dem ihr Alltag folgte. Das Haus bot ihnen viel Arbeit. Die Vorbesitzer waren verstorben und hatten allerlei Gerümpel zurückgelassen, das aufgeräumt werden wollte. Das Dach war an einer Stelle leck, in der Scheune nisteten Mäuse und die Felder waren verwildert.
Sie waren keine Bauern oder Handwerker, deswegen mussten sie die Arbeiten erst noch lernen. Das gab ihnen Zeit, sich darüber klar zu werden, was ihr neues Leben war.
Die Kinder der Sonne waren zusammengeblieben. Abarax wohnte in der Scheune, Dayr im Stall. Cary und Iljan hatten sich eine der kleinen Hütten genommen, der Rest verteilte sich über die Räumlichkeiten im Herrenhaus. Doch zum Frühstück kamen sie alle zusammen. Gudrun hatte das Kochen von Anfang an übernommen, wie als Entschuldigung dafür, dass sie ihnen einen ausgewachsenen Krieg auf den Hals gehetzt hatte.
Denn immer wieder hörten sie von Soldaten auf den Straßen, und das, obwohl sie sich von den Nachbarn möglichst fernhielten. Die wenigsten Sonnenländer wussten, wo die Gruppe dunkler Wesen wohnte, die ihr Land terrorisiert hatte, und das sollte auch so bleiben.
Terziel streckte sich. „Ist das nicht ein herrlicher Sonnenaufgang?“
„Hmm-hm“, machte Abarax.
„Die Farben, die Luft, und die Wolken!“, schwärmte der Engel. „Und wir stehen an dem perfekten Ort, um ihn zu bewundern. Ein kleines Wunder, findest du nicht?“
„Hm-hm.“
„Weißt du, ich könnte stundenlang hier stehen, jeden Tag, und die Abend- und Morgendämmerung bestaunen.“
„Ich weiß“, knurrte Abarax. „Und in der Zwischenzeit darf ich die Felder ganz alleine umgraben.“
„Verzeihung.“ Terziel schreckte zusammen und nahm die Harke wieder auf. „Aber mit deinen Krallen fällt dir das auch leichter.“
Abarax schnaufte. „Was nicht heißt, dass du einfach faulenzen darfst. Mach gefälligst dein Zehntel vom Feld, Bruderherz!“
Jeden Tag ein Feld, das hatten sie sich vorgenommen. Terziel sehnte die Zeit herbei, da hier Salate, Möhren, Wassermelonen und so vieles mehr wachsen würde. Doch dieses Jahr war es zu spät zum Säen. Sie würden warten müssen.
Gemeinsam mit seinem Bruder zupfte er Unkraut und grub die harte Erde um. Nur hin und wieder glitt sein Blick zur Sonne.
Ja, eine herrliche Aussicht …
„Iljan, hast du eine Sekunde?“
Der Vampir hob den Blick und sah zuerst nur viele Papiere, dann Merkanto dahinter. Er seufzte. „Oh weh.“
„Ich habe mir Gedanken über die Felder gemacht“, sagte der Zauberer, trat in das Zimmer und breitete die Karten auf dem Bett aus, das Iljan gerade gelüftet hatte.
„Wenn wir uns selbst ernähren wollen, was ja wohl der Plan ist, da jeder Weg zum Markt ein Risiko bedeutet, sollten wir darauf achten, welche Pflanzen wir wo anbauen können und welche eventuell in diesem oder jenen Boden, in dieser oder jenen Lage eingehen würde oder sich sogar gegenseitig das Licht nähmen.“
„Du bist nicht wirklich glücklich, solange du nicht irgendwas planen kannst, habe ich recht?“, fragte Iljan mit einem leichten Lächeln.
„Iljan, das hier sind ernste Dinge!“, ermahnte Merkanto ihn streng.
„Ich weiß. Und ich höre, alter Freund.“
Merkanto zückte einen Stift. „Ich dachte, wir beginnen mit Tomaten …“
Hinter dem Bauernhof schloss sich ein kleines, schattiges Wäldchen ab. Eigentlich war es nicht mehr als ein Platz, wo eine Handvoll Bäume wuchsen. Nun, im Schatten ihrer kühlenden Kronen befand sich seit einiger Zeit ein großer, weißer Stein, der sich zwischen die Stämme, Wildblumen und Gräser fügte.
In zarter Schrift stand darauf: Abarax.
„Weißt du, mein Freund, du kannst auch gehen“, sagte Cary und lehnte sich an das metallene Gatter. Dayr, der in der Box stand, hob den Kopf, Heu im Maul.
„Ich hatte dich gebeten, uns zu helfen“, sagte Cary. „Und nun haben wir unser Ziel erreicht. Wir brauchen dich nicht mehr, auch wenn das hart klingt.“
Sie seufzte, öffnete die Tür und trat zurück. „Du gehörst nach Ynmerie, Dayr. Willst du nicht heim?“
Der Hirsch sah sie aus seinen großen, dunklen Augen traurig an. Doch er rührte sich kein Stück. Dann senkte er den Kopf und fraß neues Heu.
Cary schloss das Tor wieder. Sie lächelte schwach. „Wie du willst. Ich freue mich, dass du bleibst. Immerhin wäre dieser Stall sonst sehr leer und trostlos.“ Ein wehmütiges Seufzen. „Stella hätte es hier gemocht.“
„Guck mal, was ich gefunden habe!“ Lachend hüpfte Najaxis die Leiter zum Dachboden herunter.
„Pass auf!“, rief Merkanto entsetzt und sprang vor, um Najaxis aufzufangen, falls der Inkubus stürzte. Doch dieser war erstaunlich geschickt auf den Füßen. In den Händen hielt er eine schlanke Amphore mit Wein, höher als Najas Oberkörper. Sie war von Staub bedeckt.
„Los, hol einen Korkenzieher!“, drängte der Inkubus. „Ich will wissen, wie alt der wohl ist.“
„Das findest du mit einem Korkenzieher allerdings nicht heraus“, warf Merkanto ein.
Najaxis grinste. „Oh, doch, ich merke es am Geschmack!“
Der Magier zögerte und sah zu den vielen Zimmern, die gesäubert, entrümpelt, erneut gesäubert, aufgeräumt und wieder gesäubert werden mussten.
Morgen, entschied er.
„Bin gleich wieder da!“, rief er. „Such uns ein Sofa, das nicht vollkommen mottenzerfressen ist und wo Iljan uns nicht findet!“
Kichernd eilte Najaxis los und Merkanto lief, so leise er mit seinen knackenden Knien konnte, nach unten.
Jackie kam in der Hundehütte zu sich. Zum Glück befand sich im hinteren Teil eine kleine Truhe, in der sie immer etwas Kleidung aufbewahrte. Doch ihre Haut war schlammverschmiert, Gräser und Ästchen hingen in ihren Haaren und auch sonst sah sie ihrem Körper die letzte Nacht an.
Was war geschehen? Sie hatte doch nicht etwa gejagt?
Bild für Bild kam die Erinnerung wieder und beruhigte sie. Vor der Verwandlung hatte sie gegessen, sodass die Wölfin keine Notwendigkeit für eine Jagd gesehen hatte. Stattdessen war sie über die Wiesen gelaufen, hatte den Mond angeheult und sich offenbar in jeder Schlammpfütze in Reichweite gewälzt.
Stöhnend zog sie ein großes Tuch aus ihrer Kiste und wickelte es um ihren Körper. Verstohlen huschte sie zum kleinen Ententeich auf dem Gelände und sprang in das kalte Wasser.
„Haah! Haah! Kalt!“, fluchte sie und rieb sich die Arme. Sie hatte eine Gänsehaut und Algen strichen über ihre Beine.
„Ughhh“, stöhnte jemand in der Nähe. Jackie zuckte zusammen. Die Wellen, die sie beim Hineinspringen hervorgerufen hatte, waren ans Ufer geschwappt, wo eine Gestalt ausgestreckt lag.
„Najaxis?“
„Auuu, mein Schädel“, stöhnte der Inkubus. „Merkanto, bist du das? Der Wein war billig. Das hätten wir wissen müssen.“
Jackie schmunzelte und ahmte Merkantos tiefe Stimme nach. „Nächstes Mal besorgen wir uns teuren Wein.“
„Oh jaaa!“, nuschelte Naja, drehte sich auf die Seite und schnarchte schon bald wieder.
Jackie wischte den Schmutz ab, schlich aus dem Teich und hüllte sich in das trockene Tuch, das noch am Rand lag. Leise eilte sie zurück zum Haus und in ihr Zimmer.
Das Frühstück fiel diesmal karger aus.
„Gudrun ist zum Markt gegangen“, entschuldigte sich Cary für die verbrannten Eier.
„Die armen Tiere haben Tag und Nacht dafür geschuftet, und du verdirbst es!“, meckerte Terziel.
Najaxis lachte gackernd. „Haben sie dir das gesagt, so als weiterem Federvieh?“
Der Engel schlug mit der Gabel auf den Tisch und funkelte Najaxis an.
„Wenn ihr kämpfen wollt, bitte draußen“, erinnerte Iljan sie und lächelte Cary an. „Es schmeckt wunderbar.“
„Nein, tut es nicht, du Schleimer!“, knurrte sie und grinste dann.
Najaxis starrte Terziel an und schob demonstrativ seinen Stuhl zurück.
Der Engel winkte ab. „Ich bin nicht für den Frieden durch das ganze Land gezogen, um mich jetzt zu prügeln wie ein kleines Kind!“
„Du hättest das mit den Eiern nicht auf dich nehmen sollen“, sagte Iljan, während er Cary beim Abwasch half.
„Wieso denn nicht? War doch nichts dabei.“
„Ja, aber ich hatte dich aufgehalten“, murmelte Iljan. „Sonst wären sie auch nicht verbrannt.“
Cary verdrehte die Augen. „Weißt du, ich denke, das geht niemanden hier etwas an.“
„Und wenn“, neckte Iljan vorsichtig und umfasste ihre Hüften mit den Händen, die nass vom Wasser waren, „ich dich auch vom Abwasch abhalte?“
Cary quietschte auf, drehte sich und schlug ihn mit dem Trockentuch. „Nimm deine kalten Pfoten weg!“
„Sonst?“, fragte Iljan mit einem schelmischen Grinsen und griff nach dem nächsten Teller. Dieser stürzte in das Wasser, als Cary ihn nach hinten riss und auf den Esstisch warf. Das Tuch über der Schulter baute sie sich vor dem Vampir auf und drückte ihn mit einer Hand nach unten, als er sich aufrichten wollte. Sie kam ganz nah und stieg auf den Knien auf die Tischplatte. Dann beugte sie sich über Iljan. „Sonst“, flüsterte sie an seinem Ohr. „Sonst bereust du es.“
Sie biss in sein Ohr und wirbelte zur Seite, ehe Iljan sie umfassen konnte.
„Hey!“, beschwerte er sich matt.
Cary warf ihm den Teller zu, den Iljan im letzten Moment fing, fallen ließ und gerade noch mit der anderen Hand erwischte.
„Zuerst die Arbeit, dann die Freizeit“, sagte Cary. „Deine Worte.“
„Heute kam schon wieder eine Truppe vorbei“, berichtete Aislyn. Sie war die Bäuerin vom Hof nebenan, wobei ‚nebenan‘ hieß, dass es ein Fußweg von zwei Meilen zu ihrem Hof war, durch schattige Täler und über sonnige Hügel, und einmal durch einen kleinen Wald.
Sie hatten sich früh kennengelernt, am zweiten Tag, den die Kinder der Sonne hier gewohnt hatten. Jackie hatte in ihrer Wolfsgestalt die Schafe der Bauern erschreckt und Abarax hatte diese für Aislyn und ihren Mann wieder eingefangen. Dann hatte sich Iljan mit einem Korb voller Beeren noch einmal entschuldigt und nun waren sie zwar noch keine Freunde, aber wie alle Bauern in diesem Land ein wenig aufeinander angewiesen. Sie halfen sich gegenseitig, wenn es nötig sein sollte. Das waren die unausgesprochenen Gesetze von Mîm, und Aislyn hielt sich daran. Ihre anfängliche Skepsis hatte sie überwunden.
„Wie viele waren es diesmal?“, fragte Merkanto.
„Sicherlich hundert“, antwortete die Bäuerin.
„Es wird schlimmer“, erkannte der Magier. Die Kinder der Sonne tauschten unglückliche Blicke. Gudrun hatte diesen Krieg herbeigerufen. Im Grunde war es ihre Schuld.
„Hier werden sie uns niemals erwischen“, sagte Aislyn. „Keine Armee kann so weit vordringen.“
„Wir konnten es.“ – Diese Worte hingen unausgesprochen in der Luft über dem Tisch.
Aislyn schien sie zu hören. Seufzend leerte sie ihren kleinen Korb und platzierte etwas Honig auf den Tisch. „Für eure Hilfe beim Reparieren des Karrens“, sagte sie.
„Warte, wir haben auch etwas für dich.“ Najaxis sprang auf und brachte ein Tablett mit zwei Dutzend kunstvollen Miniküchlein, die er aufwendig verziert hatte. „Nimm.“
„So viele?“, staunte Aislyn. „Aber …“
„Wir haben noch fünf Bleche“, seufzte Iljan leise. „Und nur einer von uns kann mehr als ein, zwei davon essen, bevor er Karies bekommt. Derjenige isst dann alle an einem Tag und klagt zwei Wochen lang über Bauchschmerzen.“
Najaxis knirschte mit den Zähnen. Aislyn lachte wohlwollend und packte die Küchlein ein.
„Vorsichtig, sie sind wirklich sehr süß“, warnte Merkanto, während er die Frau zur Tür brachte.
Dort blieb die junge Frau stehen. „Sagt mal … wo ist denn euer letztes Mitglied? Die nette, alte Frau mit dem Buckel. Ist sie in ihrem neuen Kräutergarten?“
„Oh, nein, Gudrun wollte zum Markt gehen“, sagte Cary. „Wir brauchten ein paar neue -“
„Zum Markt?“, unterbrach Aislyn sie. „Aber … der Markt findet diese Woche doch gar nicht statt. Das habe ich ihr ganz bestimmt gesagt, ich habe ihr sogar meinen handgemachten Kalender geschenkt!“
„Kein Markt?“, wiederholten die Kinder der Sonne einstimmig.
Aislyn schüttelte den Kopf. „Wo ist sie denn dann?“
„Das ist die Frage“, knurrte Iljan düster.