Die beiden Pferde und Colum trotteten durch das kniehohe Gras des Hügellands. Yodda sah immer wieder zu Nylian herüber, dessen Hengst dicht neben Colum trabte. Früher waren sie oft hier geritten, Nylian, Yodda, Kat – und Kiirion, als er noch gelebt hatte. Auf dem Hinweg war sie mit Kat zusammen auf Barrs Rücken geritten, einem kräftigen Kaltblut, das Kaithryns Nachbarn gehört hatte. Auf dem Rückweg hatte sie meistens hinter Kiirion im Sattel gesessen. Das waren schöne Erinnerungen an eine sorgenfreie Zeit, in der ihnen das Wail wie ein sicherer, grüner Hafen erschienen war, mit Inseln kleiner Baumgruppen gesprenkelt.
Nun war Nylians Gesicht vom Kummer gezeichnet und selbst der Ritt schien die Sorgen nicht vollends vertreiben zu können. Für ihn fühlte es sich vermutlich an wie der erste Ausritt seit Kiirions Tod, dem ersten Ritt ohne den jungen Elfen. Yodda empfand dasselbe, dabei waren sie kurz nach Kiirions Tod oft hier geritten, auf der todesverachtenden Suche nach den Vampiren, die Kiirion getötet hatten.
Mit einem lautlosen Seufzen wandte Yodda den Blick wieder nach vorne, wo sie die Lederriemen über der braunen Jacke ihres Mentors betrachten konnte. Colums breiter Rücken versperrte ihr jeden Blick auf das Land vor ihr, doch daran war sie gewöhnt. Wie die meisten Zwerge machte Yodda sich nichts aus dem Horizont, sie war viel glücklicher, dass sie zwischen ihren Freunden reiten konnte.
Den ganzen Tag über begegnete ihnen kein vernunftbegabtes Lebewesen, nicht ungewöhnlich für diesen dünn besiedelten Teil der Welt. Gegen Nachmittag frischte der Wind plötzlich auf und wurde ungemein kühl.
Die Reiter und der Zentaur verlangsamten ihr Tempo.
„Es scheint, als wäre meine Rechnung etwas optimistisch gewesen“, sagte Colum.
Yodda griff nach den Lederriemen und lehnte sich zur Seite, um an Colums Oberkörper vorbei nach vorne zu sehen. Die Amrais-Berge lagen noch vor ihnen. Zwar hatten sich die Hügel stetig gehoben und gingen nun langsam in das Vorgebirge über, doch sie würden ihr Ziel auf keinen Fall heute noch erreichen.
„Die Rechnung war schon korrekt, aber du hast nicht bedacht, wie sehr einige aus unserer Gruppe trödeln würden“, ließ sich Yrsa Cirdrim vernehmen. „Sehen wir es ein, wir haben uns zu viel Zeit gelassen. Jetzt bleibt uns nichts anderes übrig, als eine Nacht in dieser kargen Wildnis zu verbringen.“
„Dann lasst uns aber lieber direkt ein Lager aufschlagen und nicht erst in die Berge reiten. Hier unten finden wir noch genug Gras für eure Pferde und außerdem ist der Boden weicher.“
Cirdrim schien zu überlegen. Die anderen warteten, bis der weise Magier nickte. Er war das älteste Wesen von Helmsieg, manche behaupteten, dass er sogar älter als die kleine Stadt war. Alle brachten ihm Respekt entgegen, selbst solche, die ihn nicht mochten.
„Ich sehe einen Fluss, der vom Gebirge kommt, dort hinten“, verkündete Nylian. „Dort finden wir sicher einen guten Rastplatz.“
„Wie weit ist es?“, fragte Colum.
„Etwa eine halbe Stunde, wenn wir ein gutes Tempo halten“, schätzte Nylian.
„Also rechnen wir besser mit einer ganzen Stunde“, spottete Yrsa Cirdrim. Yodda musste kichern.
Sie galoppierten so schnell, dass Colum gut mithalten konnte (was zugegebenermaßen nicht allzu schnell war) und straften Cirdrims Spott Lügen, indem sie tatsächlich innerhalb einer halben Stunde an dem kleinen Bächlein ankamen, lange bevor die Sonne über dem Wail untergegangen war.
Yodda kletterte erleichtert von Colums Rücken. Zwerge waren nicht zum Reiten geboren. Obwohl sie deutlich mehr Erfahrung hatte als andere ihres Volkes, waren ihre Beine nach jedem Ritt steif. Sie stampfte auf der Stelle, um den Blutfluss wieder in Wallung zu bringen.
„Ich habe seit Stunden keinen Baum gesehen.“ Colum streckte den Rücken durch. „Trotzdem würde ich die Nacht nur ungern ohne ein Feuer verbringen.“
„Ich denke nicht, dass du erfrieren würdest.“ Yrsa Cirdrim sah mit schmalen Augen zu den Bergen herüber. „Doch falls ihr ein wenig Material findet, sollte ein Feuer kein Problem sein.“
Der Magier schritt den Fluss entlang und folgte ihm in ein kleines Tal. „Schlagen wir das Lager hier auf, wo wir von den Bergen aus nicht zu sehen sind. Es ist nicht notwendig, Aufmerksamkeit zu erregen.“
Die anderen warfen einander verwunderte Blicke zu. Sie hatten ihre Lager im Wail noch nie versteckt, Cirdrims Vorsicht schien mehr als übertrieben.
„Ich gehe Feuerholz sammeln“, erklärte Colum, nachdem sie alle ihre Taschen abgelegt hatten.
„Ich komme mit“, verkündete Nylian, der Pfeil und Bogen geschultert hatte. „Wenigstens ein Stück. Ich möchte sehen, ob ich nicht ein Kaninchen jagen kann, um diesen schrecklichen Eintopf aufzupeppen.“
„Du darfst gerne selber kochen!“, schimpfte Yodda, doch der Elf winkte nur lachend und eilte mit dem Zentauren davon. Kopfschüttelnd beugte Yodda sich über den Beutel mit ihren Vorräten, doch sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Es war lange her, dass Nylian sorglos gelacht hatte.
~ ⁂ ~
Kaithryn führte Aidalos und das Einhorn zum Fluss, wo sie den Tieren lockere Schlaufen um die Vorderbeine legten. Keine Fesseln, die die Tiere im Ernstfall an einer Flucht hindern könnten, denn die Stricke waren dünn genug, um bei einem kräftigen Ruck zu zerreißen, doch das Gefühl der Seile hinderte Aidalos und das Einhorn daran, sich in der Nacht allzu weit zu entfernen.
Als sie zum Lager zurückkehrte, war Yodda eifrig damit beschäftigt, Karotten kleinzuschneiden. Meister Yrsa stand ein wenig abseits auf der Kuppe des Hügels und betrachtete nachdenklich die Berge, während er an einer großen Pfeife zog.
Kat nickte Yodda zu und stieg dann den Hügel hinauf zu ihrem Lehrmeister.
„Dieser Aufruf bereitet mir Sorgen“, sagte Yrsa Cirdrim statt einer Begrüßung.
„Es ist nur ein Wettkampf“, meinte Kaithryn verwundert.
„Ja, ein friedlicher Wettkampf, um den besten jeder Zunft zu ermitteln.“ Cirdrim paffte nachdenklich in die kühle Luft hinaus. „In all den Jahren, die ich nun schon in diesem Land lebe, gab es niemals etwas dergleichen.“
„Nicht?“, fragte Kaithryn verwundert. „Ich dachte -“
„Zu den Zeiten, als es noch Könige gab, da wurden Turniere abgehalten, doch das war eine blutige und furchtbare Angelegenheit“, schnitt Yrsa ihr das Wort ab. „Und ab und zu wurde nach dem besten Handwerker oder nach einem Wunderheiler am Hof verlangt, doch einen freundschaftlichen Wettbewerb gab es niemals. Meist ging es darum, die besten Werkzeuge für den Wahnsinn eines Herrschers zu finden – einen Baumeister, der ihm Kriegsmaschinen bauen konnte oder etwas dergleichen.“
Der alte Zauberer seufzte und nahm einen tiefen Zug aus seiner silbernen Pfeife.
„Vielleicht werde ich auch alt und täusche mich“, fuhr er dann fort. „Ich kenne solche Aufrufe nur aus dunklen Zeiten, wenn alle Soldaten mit falschen Versprechungen in den Krieg gelockt wurden. Ein Aufruf, der im ganzen Land verteilt wurde, weckt unangenehme Erinnerungen.“
Kaithryn stand schweigend neben ihrem Meister und wagte kaum, zu atmen. Seit sie zwölf war, ging sie nun schon bei Yrsa Cirdrim in die Lehre, und dies war das erste Mal, dass er von seinem langen Leben erzählte. Sie wollte ihn um keinen Preis stören.
„Bisher hat mich mein Instinkt nie getrogen“, stellte Yrsa Cirdrim leise fest. „Genau wie du, musste auch ich lernen, auf ihn zu vertrauen.“
Der hagere Magier wandte sich um und fixierte Kat mit seinen blassen, violetten Augen: „Etwas stimmt nicht. Vielleicht ist es nur eine Kleinigkeit, eine dunkle Regenwolke am Horizont, doch sie könnte genauso gut der Vorbote eines heftigen Gewitters sein.“
Kat musste zugeben, dass das Verhalten ihres Meisters sie bestürzte. Cirdrim wirkte ehrlich besorgt, und sie hatte selten erlebt, dass etwas den uralten Feuerelben aus der Ruhe brachte.
„Sollen … sollen wir besser umkehren?“, fragte sie mit zittriger Stimme.
„Ach, Kindchen.“ Cirdrim schien einen Schritt nach hinten zu gehen, obwohl er sich nicht wirklich bewegte. „Ich wollte dir keine Angst machen, Kaithryn. Vermutlich ist es eine Regenwolke und ich fürchte nur den Schmerz in meinen alten Knochen. Wir haben Frieden, schon seit vielen Jahren, und es gibt kein Anzeichen für einen neuen Konflikt. Komm, gehen wir zurück.“
Zaubermeister und Lehrling machten sich an den Abstieg von dem sanften Hügel.
„Hast du die Pferde versorgt?“, fragte Cirdrim.
„Ja“, antwortete Kaithryn.
„Hmph. Ich werde trotzdem noch einmal nach meinem Einhorn sehen.“ Yrsa Cirdrim bedachte das junge Mädchen mit einem strengen Blick. „Und du kommst mit, für den Fall, dass ich etwas auszusetzen finde.“
Kat unterdrückte ein Stöhnen. Yrsa Cirdrim fand immer etwas auszusetzen. Der alte Magier war niemals zufrieden.
„Wenn Colum endlich etwas zum Feuermachen findet, wirst du versuchen, das Lagerfeuer in Gang zu bringen“, teilte Cirdrim ihr unvermittelt mit.
„Was, ich? Mit Magie?“, stammelte Kaithryn.
„Mit wem rede ich denn, mit meinem Bart?“ Cirdrim lachte leise. „Ich kann nicht zu einer Versammlung der besten Magier gehen mit einer Novizin, die noch nie gezaubert hat. Außerdem bist du bereit. Dir fehlt es noch an Ausgeglichenheit, doch die wirst du erst in einigen Jahren finden. Du hast die Meditation und die Theorie gemeistert, nun ist die Magie dran.“
„Ich … danke, Meister“, stammelte Kaithryn, die keine Worte fand, um den Sturm von Stolz, Freude und einer gehörigen Portion Angst in ihrem Inneren auszudrücken.
~ ⁂ ~
Nylian tauchte nahezu lautlos aus der wachsenden Dunkelheit auf. In der Hand hielt er drei tote Hasen, jeweils an den Hinterläufen gepackt.
„Ist Colum noch nicht zurück?“, wunderte sich der Elf, als er sich zu Yodda setzte.
„Nein. Sollte er?“
„Nun, wir haben uns vor einiger Zeit getrennt, ich denke, es waren zwei Stunden.“ Nylian legte den Kopf schief. „Selbst, wenn er tatsächlich nach einem Wäldchen gesucht hat, sollte er mittlerweile zurück sein. Und ich riet ihm, nur nach trockenem Gras zu suchen.“
„Das ist seltsam“, meinte Yodda, die sich jedoch keine ernsthaften Sorgen um Colum machte. Sie war mehr ärgerlich. Seit sie das Lager aufgeschlagen hatten, hatte sie Gemüse gewaschen und geschnitten, frisches Wasser zum Kochen aus dem Fluss geholt und dann die Feuerstelle vorbereitet, indem sie das Gras an einer Stelle ausgerissen und den Erdflecken dann mit großen Steinen vom Flussbett eingegrenzt hatte. Inzwischen war sie hungrig und müde. Ihr Daumen schmerzte unverhältnismäßig von einem kleinen Schnitt, den sie sich unachtsam mit dem Schälmesser zugefügt hatte.
Trotzdem lächelte sie: „Er kommt schon noch. Vermutlich hat er wieder seinen Dickkopf durchgesetzt und ist losmarschiert, um Holz zu finden.“
„Ich hoffe nur, dass ihm nichts zugestoßen ist“, murmelte Nylian.
„Was soll einem großen Zentauren wie Colum schon zustoßen?“, fragte Yodda. Dann streckte sie die Hand aus: „Komm, gib mir einen Hasen. Wir können sie schon einmal ausnehmen.“
Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und die Arbeit erwies sich als ausgesprochen schwierig, bis Yrsa Cirdrim eine Fackel neben ihnen in den Boden pflanzte und entzündete. Kaithryn gesellte sich zu Yodda und Nylian, sodass jeder sich nur um einen Hasen kümmern musste. Die Freunde arbeiteten in Stille, häuteten Nylians Beute und trennten essbares Fleisch von allem anderen.
„Meister Cirdrim?“ Nylian hatte die Pfoten aller vier Hasen abgetrennt und hielt sie dem Zauberer hin.
Yrsa Cirdrim nahm die winzigen, braunen Pfoten entgegen und durchstöberte sie geschickt mit einem Zeigefinger wie ein Schatzsucher ein Häuflein Strandgut nach einer Perlenmuschel durchsucht. Dann schüttelte der Zauberer enttäuscht den Kopf: „Nein, sie sind unbrauchbar. Trotzdem danke, mein Junge.“
Nylian wollte etwas erwidern, wurde aber von einem plötzlichen, klagenden Geheul unterbrochen.
Laut, hohl und zitternd erklang das Wolfsgeheul im kalten Wind.
Erschrocken sprangen die drei Freunde auf. Nylian lauschte kurz, dann fluchte er: „Das sind Werwölfe!“
„Hier!“ Yrsa Cirdrim hatte bereits gehandelt und warf jedem der drei eine Fackel zu. Kaum, dass die jungen Schüler je einen mit ölgetränktem Tuch umwickelten Stock in den Händen hielten, schnipste der alte Zauberer mit einer Hand und die Fackeln entzündeten sich wie von Geisterhand.
Im flackernden Licht konnte Yodda nur zu gut sehen, dass Nylian blass geworden war. Das Wail galt seit Jahrzehnten als ausgesprochen sicheres Gebiet, doch die Freunde hatten vor drei Jahren schmerzhaft am eigenen Leib erfahren müssen, dass das nicht immer der Wahrheit entsprach. Das Geheul der Wölfe, mal näher und mal weiter weg, weckte düstere Erinnerungen, neben den uralten Ängsten, die jedes vernunftbegabte Wesen empfand.
„Der Silbermond ist sehr schmal“, erklang Cirdrims Stimme hinter ihnen. „Es sind Alphas, ohne Rudel. Und sie sind nicht so nah, wie es klingen mag. Sie müssen in den Bergen sein, aber der Wind trägt ihr Heulen weit mit sich.“
„Werwölfe im Gebirge?“, fragte Nylian. „Ich dachte, sie meiden Vampire.“
Yodda ließ langsam ihre Fackel sinken. Die Gefahr war nicht so nah, wie sie schien. Doch das Geheul verursachte ihr trotzdem eine Gänsehaut.
„Ein weiteres schlechtes Omen“, murmelte Kaithryn an ihrer Seite.
„Ich denke, dass ist der Grund für diesen unmenschlichen Lärm“, sagte Cirdrim. Er selbst hielt die Fackel in der Hand, die den drei Schülern bis eben noch als Lichtspender bei ihrer Arbeit gedient hatte. „Die Alphas sind ins Gebirge gezogen. Ob sie gegen die Vampire kämpfen wollen, eine Beute verfolgen oder einfach nur auf der Durchreise in ein anderes Gebiet sind, kann ich nicht sagen. Doch die Vampire werden sie entdeckt haben. Mit ihrem Jaulen können die Alphawölfe über große Entfernungen miteinander sprechen.“ Der Magier steckte seine Fackel wieder in den Boden. „Aber es gilt: Heulende Wölfe jagen noch nicht. Wir werden heute Nacht Wache halten, aber unser Feuer sollte die Wölfe fernhalten, falls sie überhaupt auf dieser Seite von den Bergen herabkommen.“
Cirdrim wirkte tatsächlich nicht besonders beunruhigt von dem klagenden Konzert der Werwölfe. Yodda bückte sich nach dem Hasen, den sie vor Schreck hatte fallen lassen.
In diesem Moment ertönten eilige Schritte, die schnell näher kamen. Yodda fuhr auf, Nylian stieß einen Warnruf aus und ein großer Schatten stürmte auf ihren Lagerplatz.
„Leute! Ich bin es nur!“ Der Schatten hielt inne und entpuppte sich als Colum, die Arme beladen mit gelbem, trockenen Gras. „Erschießt mich bitte nicht!“
Erleichtert atmeten die drei Freunde aus. Nylian hatte tatsächlich nach seinem Bogen gegriffen, doch keine Gelegenheit gehabt, ihn auch wirklich zu ziehen, geschweige denn zu spannen und einen Pfeil auf die Sehne zu legen.
„Colum! Wir hatten uns schon gefragt, wo du bleibst!“
„Ich muss mich bei dir entschuldigen, Nylian. Ich hätte direkt auf dich hören sollen. Stattdessen habe ich Holz gesucht und gesucht und viel zu viel Zeit damit vergeudet.“
„Es ist verziehen“, sagte Nylian lachen, „hauptsächlich, weil ich froh bin, dass du kein Wolf bist!“
Colum schauderte. „Dieses Geheul hat mich mitten auf der Wiese überrascht. Unheimlich, nicht wahr? Ich war sehr froh, als ich eure Fackeln gesehen habe.“
„Ein Ruf oder eine andere Vorwarnung wäre dennoch nett gewesen.“ Yodda wies zu dem vorbereiteten Platz. „Leg das Gras da ab. Das Essen muss nur noch gekocht werden.“
~ ⁂ ~
„Bist du bereit?“
Kat nickte und Yrsa Cirdrim trat einen Schritt zurück.
„Haltet Abstand“, wies er die anderen an, die schnell von dem Steinrund zurückwichen. Kaithryn schloss die Augen und konzentrierte sich, wie sie es schon unzählige Male getan hatte. Sie streckte die Hände nach vorne – eine alberne Geste, aber Zauberanfänger kamen nicht ohne aus und selbst Meister nutzten gerne Bewegungen, um Zauber zu wirken – und versuchte, das trockene Heu mental zu ertasten.
„Blende alle anderen Gedanken aus und konzentriere dich nur auf den Moment.“ Yrsas leise Stimme war in einen leichten Singsang verfallen. Kat atmete tief ein und aus und dann … fühlte sie es.
„Sehr gut!“ Cirdrim musste ihr den Triumph vom Gesicht ablesen. „Jetzt such das Feuer in deiner Seele.“
Kaithryn musste nicht lange suchen. Feuer war ihr Element, sie hatte es oft in der Tiefe ihrer Seele flackern gesehen. Wie ein Schwimmer ins Meer taucht, so tauchte sie nun in ihr Innerstes ab, hinein in die vertraute Wärme der Flammen.
„Und nun musst du das Feuer in deine Hände und über deine Finger ins Heu lenken“, instruierte Cirdrim sie. „Nimm es mit dem Einatmen auf und lass es beim Ausatmen los – aber langsam, Kaithryn, sehr langsam.“
Sie gehorchte seinen Anweisungen. Atmete tief und ruhig ein und sofort spürte sie es: Ein Kribbeln, das sich in ihren ganzen Körper ausbreitete, warm und liebkosend, berauschend und sanft. Sie öffnete den Mund leicht und keuchte. Ihr richtiger Atem ging zitternd und mühsam, doch der Innere Atem, ihr geistiger Atem, war beherrscht. Sie atmete aus, im Herzen wie auch mit dem Mund, und die Wärme strömte zu ihren Fingerspitzen wie ein Fluss.
„Langsam!“, rief Cirdrim warnend. Keinen Augenblick zu früh, denn die Macht entwickelte ein Momentum wie ein Fluss im Frühling, angereichert vom Schmelzwasser. Kat machte einen geistigen Schritt nach hinten, wodurch ein großer Teil der Magie in ihr sofort versiegte. Doch eine Menge schoss aus ihren Händen hervor, explodierte förmlich in die Nacht hinaus. Sie hörte ihre Freunde schreien und spürte im nächsten Moment Hitze.
Entsetzt riss sie die Augen auf, überzeugt, dass sie ihre Begleiter tödlich verletzt hatte. Doch Yodda brach in euphorischen Jubel aus und Nylian klopfte ihr grinsend auf die Schulter. Sie waren unverletzt, das Feuer prasselte fröhlich in seinem Gefängnis aus Stein.
„Sehr gut!“ Colum stampfte auf Kaithryn zu und hob sie mühelos hoch in eine feste Umarmung. „Haha, du bist eine richtige Magierin!“
Er setzte Kat ab und sie sah zu Yrsa Cirdrim. Der alte Zauberer nickte mit einem zufriedenen Lächeln und endlich breitete sich das warme Gefühl des Erfolgs in Kaithryns Magen aus. Sie hatte Magie gewirkt, zum allerersten Mal!
Sie sah sprachlos auf ihre Hände. All die Jahre der Vorbereitung … jetzt fühlte es sich unwirklich an.
„Du musst wachsam bleiben“, sprach Yrsa, als er zu ihr trat. „Du hast ihn gespürt, den Sog, nicht wahr?“
Kat nickte. „Es wäre so einfach gewesen“, murmelte sie. „So verlockend … einfach … weitermachen statt aufzuhören.“
Yrsa Cirdrim nickte bedächtig. „Du wirst natürlich noch größere Magie wirken, länger weitermachen als heute. Doch du darfst nie vergessen, dass der Sog gefährlich ist. Wenn du nicht aufpasst, gerätst du in einen Rausch. Er lässt dich nach Macht gieren wie nach einer Droge, bis du alles tun würdest, wirklich alles, um noch stärker zu werden und noch größere Kräfte zu beherrschen. Denk immer daran, dass du bescheiden bleiben musst.“
Kat nickte ernst.
„Du hast deine Sache sehr gut gemacht, Kaithryn“, sagte Yrsa Cirdrim dann. „Ich bin stolz auf dich.“
Kat lächelte jetzt. Sie glaubte nicht, dass sie sprechen könnte, selbst wenn sie Worte finden würde. Im Moment war sie erfüllt von Glück und der Befriedigung, endlich einen weiteren Schritt in ihrer Ausbildung getan zu haben. Sie war so ausgefüllt, dass einfach kein Platz mehr für Worte blieb.
Bald war der Eintopf aus Karotten, Sellerie und Hasenfleisch aufgewärmt und die fünf Reisenden aßen an dem Feuer, das Kaithryn wie ein Kind erschien, auf das sie achtgeben musste. Ihr erstes, eigenes Feuer. Schade eigentlich, dass es spätestens am Morgen erlöschen würde.
Als die Zeit kam, sich hinzulegen, übernahm Kat die erste Wache. Sie glaubte nicht, schlafen zu können, selbst wenn sie gewollt hätte. Fasziniert sah sie in die tanzenden Flammen und malte sich aus, was sie alles tun könnte. Magie zu nutzen war viel einfacher, als sie geglaubt hatte. Während Cirdrim sie die Theorie gelehrt hatte, war ihr Magie immer wie ein kompliziertes Mysterium erschienen, doch in Wahrheit war sie sehr viel intuitiver, als Yrsa Cirdrim es hatte klingen lassen. Die Versuchung, ihre neue Macht auszuprobieren, war groß. Doch Kaithryn widerstand. Sie nahm Cirdrims Warnung bezüglich des Sogs sehr ernst. Für einen Magier lag die größte Gefahr im Inneren, in dem Wunsch nach mehr Macht. Deshalb musste jeder Novize sich in Meditation üben, musste seine eigenen Grenzen, körperlich, seelisch und geistig, erkunden und möglichst viel über das eigene Ich erfahren, ehe es ihm erlaubt wurde, eigene Magie zu wirken. Und Cirdrim hatte sie gewarnt, dass sie diesen Weg noch nicht abgeschlossen hatte. Sie heute in die Magie einzuführen war ein Vertrauensbeweis gewesen, doch Kat wusste, dass sie auf keinen Fall übermütig werden durfte – damit würde sie das Vertrauen ihres Meisters enttäuschen. Sie hatte viel zu viel Angst vor seinem Zorn, um es zu versuchen.
So begnügte sie sich damit, im Wärmekreis des Feuers zu sitzen und gelegentlich Heu nachzulegen, damit die Flammen nicht erstarben, bis Nylian sie kurz vor Mitternacht ablöste.