Der Vampir erwartete sie bereits. Nylians Eingeweide zogen sich beim Anblick des purpurhäutigen Alptraums zusammen. Ein Neumond-Vampir, wenn auch ein geschwächter. Er fühlte sich in die Zeit nach Kiirions Tod zurückversetzt, spürte die ohnmächtige Angst und Wut wieder, die ihn damals fest im Griff gehabt hatte.
„Nylian, das ist Izcun Javat“, sagte Yodda mit leiser Stimme. „Izcun …“
„Der Junge, den Azmaek fortgejagt hat.“ Der Vampir sprach mit sanfter Stimme und verneigte sich leicht. „Ich habe euer Gespräch mitbekommen“, sagte er dann zu Yodda. „Tut mir leid, ich habe nun mal gute Ohren.“
Nylian schwieg. Er versuchte, die Abscheu zu bekämpfen, die in ihm aufstieg. Der Vampir wich seinem Blick aus. Wenn er das ganze Gespräch gehört hatte, dann wusste er Bescheid.
„Ich werde mich zurückziehen“, sagte der Vampir zu Yodda. „Ihr habt viel zu besprechen und ich muss mich ausruhen.“
Als der Vampir in den dunklen Schatten tiefer in der Höhle abgetaucht war, atmete Nylian auf.
„Er ist wirklich nett“, sagte Yodda leise.
„Das kann sein.“ Nylian seufzte. „Wir haben wenig Zeit. Aoi ist vielleicht in großer Gefahr.“
„Wer ist Aoi?“, fragte Yodda nun zum zweiten Mal.
„Sie ist eine Gestaltwandlerin, ein Katzenmädchen. Kaithryn hat sie zu mir geschickt. Da die Werwölfe von ihrem Geruch verwirrt sind, konnte sie durch ihre Reihen schlüpfen. Sie hatte mich gewarnt, das Lager zu verlassen. Schon vorher kam es mir dort seltsam vor, irgendetwas stimmte nicht. Dank Aoi konnte ich offenbar einem furchtbaren Kampf entgehen.“
„Was ist geschehen?“
„Ich weiß es nicht. Da war jemand mit wie Feuer glühenden Augen“, berichtete Nylian das wenige, was er wusste. „Dann war überall Feuer.“
Yodda zog scharf die Luft ein: „Gibur Kroblis hatte auch feurige Augen! Als er mich vom Kran geworfen hat!“
„Er hat was?!“
Nylian lauschte mit offenem Mund, als Yodda von dem Angriff des älteren Zwergs berichtete. „Ich dachte, er wäre einfach nur wahnsinnig, weil er mich für eine Verräterin hält.“
„Nein, er muss von einem Dämon besessen sein.“ Nylian sah auf seine Hände. „Und ich habe Aoi direkt dorthin geschickt! Ich muss sie retten!“
„Nein, du darfst nicht dorthin. Kroblis würde dich töten!“, widersprach Yodda heftig. „Und wenn es stimmt, was Aoi sagte, dann ist Azmaek auf dem Weg hierher. Du musst verschwinden!“
Nylian schüttelte den Kopf: „Ich bin für Aoi verantwortlich!“
„Warte doch, Nylian. Ich kann gehen“, sagte Yodda.
Nylian lachte: „Dich werden sie doch erst recht töten!“
„Vielleicht, wenn sie mich finden. Aber ich kenne das Lager. Und mit Izcuns Hilfe könnte ich auch unerkannt hineinschleichen.“
Nylian schüttelte den Kopf, dann seufzte er. „Gut, vielleicht ist es besser so. Ich habe Aoi gesagt, dass sie dich suchen soll. Ich hoffe, dass sie sich versteckt hält und nicht mit jemand anderem spricht.“
„Zum Glück!“, stieß Yodda aus. „Aber was tut sie, wenn sie mich nicht findet? Sollte sie nicht versuchen, die Wissenschaftler zu retten?“
Nylian zuckte mit den Schultern. „Wenn es Dämonen sind, wird sie sie vielleicht wahrnehmen können. Katzen haben ein Gespür für das Übernatürliche!“
„Wie auch immer.“ Yodda atmete durch. „Du musst verschwinden. Reite in die Berge, such dir dort irgendwo ein Versteck. Azmaek darf dich nicht finden.“
„Und was wirst du tun?“
„Ich rette Aoi, danach werde ich dich suchen. Oder ich versuche, zu Kat zu kommen.“
Nylian zögerte. Ihm gefiel der Gedanke nicht, sich zu verstecken, während seine Freundinnen ihr Leben riskierten.
„Auch wenn du es gerne vergisst“, sagte Yodda streng, „ich bin schon erwachsen, Nylian!“
„Nach den Maßstäben deines Volkes vielleicht!“, spottete Nylian lächelnd zurück. Er stand auf. „Also gut, dann ist es beschlossen. Ich gehe in die Berge. Nur, wie sollen wir einander wiederfinden?“
„Das schaffen wir schon irgendwie“, sagte Yodda zuversichtlich. „Falls sich die Berge wieder öffnen, wirst du uns sicherlich an einem der Ausgänge finden. Und das Tal ist ja nicht besonders groß.“
Schon wenig später trabte Aidalos einen gewundenen Bergpfad hinauf, höher und höher in kalte Gefilde. Der Abschied von Yodda war ihm schwergefallen, doch Nylian versuchte, ihren Optimismus zu teilen. Bisher hatten sie alle überlebt, so verwirrend die Ereignisse auch gewesen waren.
Ein Blick nach oben offenbarte ihm, dass die Berge nicht so vollständig verlassen waren, wie sie schienen. Etwas über ihm befand sich die Ruine eines großen Schlosses, mit schwarzen, gähnenden Fensterhöhlen. Nylian lenkte Aidalos darauf zu. Es war verlockend, eine Nacht geschützt vor dem schneidenden Bergwind zu verbringen, außerdem wäre das Schloss sicher ein guter Treffpunkt. Und nicht zuletzt hatten Burgschlösser wie dieses häufig verborgene Räume, in denen er sich, wenn nötig, tagelang vor Azmaek verstecken konnte. Er musste nur hoffen, dass kein Vampirclan sich in dem Gemäuer eingenistet hatte.
Doch Aidalos blieb gelassen, als sie unter dem rostigen Fallgatter hindurch ritten, begleitet vom zurückgeworfenen Echo ihrer eigenen Geräusche. Auf die Instinkte seines Pferdes konnte Nylian sich verlassen. Er führte Aidalos in einen alten Stall aus Stein. Zwar gab es kein Heu mehr, doch wenigstens war dieser Ort trocken und windgeschützt. Staubschwere Spinnweben hingen in zahlreichen Nischen.
Nylian überquerte den Innenhof und drang alleine in den zweiten Burgring ein. Hier fand er das Haupttor, das allerdings fest verschlossen war. Auch die Fenster waren verriegelt oder vernagelt. Die Spuren waren recht frisch, vielleicht einige Wochen alt. Der Ort war bewohnt; doch nicht von Vampiren. Vampire würden die Fenster offen lassen, um nachts ausschwärmen zu können.
Nylian zögerte. Er spannte den Bogen und zückte einen Pfeil, dann atmete er tief durch, hämmerte gegen die Pforte und trat sogleich kampfbereit zurück.
Schritte näherten sich von Innen. Zwei unterschiedliche Rhythmen, sie klangen nach harten Stiefeln. Nylian spannte vorsichtig den Bogen und wich in den Schutz eines verwilderten Strauches zurück.
Ein Schatten schob sich hinter einem Fenster vorbei. Dann wurde die Tür vorsichtig ein Stück weit geöffnet und ein Gesicht spähte nach draußen.
Nylian gab sein Versteck auf. „Unmöglich!“
„Nylian!“, rief der Besitzer des Gesichts erfreut.
~ ⁂ ~
„Sei bloß vorsichtig!“, hatte Izcun ihr eingeschärft, ehe er ihr einen letzten Kuss auf die Stirn gedrückt hatte. Yodda hatte nichts gefunden, um es darauf zu erwidern.
„Ich passe schon auf“, hatte sie schließlich gemurmelt, dann war sie losgerannt.
Jetzt lag das Lager der Wissenschaftler vor ihr. Die drei gespaltenen Zeltlager hatten sich aufgelöst und waren am Fuß des Sturmturms zusammengerückt. Kroblis hatte das Versteckspiel also aufgegeben. Der Turm war fertig. Als Yodda den rohen Kran, den Rammbock und die fertige Verkleidung entdeckte, stahl sich ein stolzes Grinsen auf ihre Lippen. Das erste Werk, an dem sie mitgeholfen hatte, und es war fertiggestellt!
Doch dann furchte sie die Stirn, denn der Kran wies in die falsche Richtung. Ins Tal hinein.
Sie drehte sich langsam um. Auf der Ebene konnte sie eine Schar dunkler Gestalten erkennen, die auf das Lager zumarschierten.
Azmaeks kleines Heer rückte immer näher. Yodda seufzte und eilte geduckt durch die schmalen Wege, die sich tief in die Felsen geschnitten hatten.
„Aoi!“, rief sie leise, als sie sich dem Lager näherte. „Aoi, bist du hier?“
Sie kauerte in einer dunklen Nische, von wo aus sie die Zelte beobachten konnte. Wo konnte sich ein Kind verstecken? Und wie sollte sie Aoi finden?
„Du musst Yodda sein.“
Yodda wirbelte herum. Hinter ihr stand ein dürres Mädchen mit braunen Locken und zwei unterschiedlichen Augen, in Lumpen gekleidet und einen halben Kopf größer als Yodda.
„Aoi?“, fragte sie, denn die Beschreibung, die Nylian ihr gegeben hatte, passte.
„Ich dachte, du wärst im Lager.“ Aoi legte dem Kopf fragend schief.
„Es gab … Schwierigkeiten“, murmelte Yodda. „Sie haben mich fortgejagt. Jetzt müssen wir hier verschwinden.“
„Aber der Elf hat gesagt, ich soll sie warnen.“ Aoi machte misstrauisch einen Schritt zurück.
„Ja, davor, dass Azmaek kommt.“ Yodda wies auf den Sturmturm. „Sie wissen es bereits. Aber wir müssen hier fort, ehe Azmaek da ist.“
„Ist er schon so nah?“ Das gelbe und das grüne Auge weiteten sich.
Yodda nickte. „Vor Einbruch der Nacht sind sie hier.“
Aoi brauchte keine zweite Ermahnung. Seite an Seite liefen sie los, um die Berge zu verlassen. Doch kurz vor den Wiesen blieb Aoi plötzlich wie angewurzelt stehen.
„Was hast du?“, fragte Yodda, die ein paar Schritte weiter gerannt war und dann abrupt stehen blieb. „Aoi?“
Das Kind warf ihr einen verstörten Blick zu, dann war es auf einen Schlag verschwunden. Eine braungetigerte Katze sprang an Yodda vorbei und tauchte ins hohe Gras.
„Wa-“, brachte Yodda heraus, dann spürte sie plötzlich einen Druck aus der Brust. Im nächsten Moment wurde sie von einer unsichtbaren Macht angehoben und schwebte über dem Boden. Ein Mann schlenderte aus der Deckung eines Geröllhaufens hervor. Yodda erkannte ihn sofort. „Azmaek!“
„Wohin des Weges?“, fragte der Aurasichtige gut gelaunt.
Yodda kämpfte gegen die unsichtbaren Fesseln an. „Lass mich frei!“
„Ich weiß, dass du dem Elfen geholfen hast“, zischte Azmaek. „Du musst mir sagen, wo er ist!“
Yodda schüttelte den Kopf und ballte in hilfloser Wut die Hände zu Fäusten. Ihr Herz raste vor Angst. Wieso hatte sie nur nicht besser aufgepasst oder hatte Aois Zögern schneller richtig gedeutet?
Azmaek seufzte, machte eine Bewegung und Yodda glitt vorwärts. Es war ein beängstigendes Gefühl, wie ein Sturz, der nicht enden wollte.
„Ich werde später mit dir reden. Zuerst muss ich mit den anderen Wissenschaftlern fertig werden.“
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Während Nylian das Schloss betrat, stand Aidalos im offenen Stall und erholte sich schnaubend von den langen Ritten der letzten Tage. Der Hengst ließ den Kopf hängen und sehnte sich nach einer gut gefüllten Futterkrippe. Sicherlich würde Nylian bald kommen, und sich um ihn kümmern.
Etwas ließ das Pferd plötzlich aufhorchen. Aidalos hob den Kopf und weitete die Nüstern, er spitzte die Ohren und stand stocksteif.
Mit lautem Schnauben blies er Atem aus, eine weiße Wolke stieg zur Decke. Dann warf er den Kopf hoch und wieherte schrill. Er stieg auf die Hinterhand, dann trat er gegen die steinerne Wand des Stalls. Seine Flanken zitterten. Er rollte mit den Augen.
Er war dabei gewesen, in jener Nacht, als Kiirion starb. Der jüngere Faeyra-Sohn hatte nicht Nylians Geschick im Umgang mit Tieren, doch in jener Nacht vor drei Jahren hatte Kiirion ihn auf einen späten Ausritt mitgenommen, da Nylian keine Zeit gehabt hatte.
Aidalos war damals verschont worden. Vampire machten sich nicht viel aus Tieren. Aber der Geruch, den er nun wahrnahm, versetzte ihn in jene schreckliche Nacht zurück.