„Wenn du nicht aufhörst mich fortwährend anzustarren, schwöre ich …‟. drohte Dorian und warf seinem Cousin einen scharfen Blick zu. Josh hob entschuldigend die Hände, ein diebisches Grinsen stahl sich auf seinen Lippen.
„Keine Angst, ich beeinflusse dich nicht.‟ Er wandte seine Augen von Dorian ab, der entnervt stöhnte.
„Ich habe keine Angst‟, fauchte er zornig und rümpfte beleidigt die Nase, „Es ist eben nervig die eigenen Gefühle beobachten zu müssen, da irgendjemand sie durcheinander bringen könnte. Ich habe zugestimmt dir bei deinem kleinen Projekt zu helfen, aber nicht, jeder Zeit als Testobjekt zur Verfügung zu stehen.‟ Er starrte verdrossen auf das leuchtenden Display seines Handys und vermied Joshs irritierten Blick.
„Als ob ich dich ohne deine Zustimmung beeinflussen würde‟, versuchte dieser sich zu verteidigen und konnte abermals nicht den Blick von seinem Cousin abwenden.
„Vielleicht nicht mich, aber bei anderen bist nicht so zimperlich. Wenn du geglaubt hast, ich hätte das neulich mit Nora nicht bemerkt, liegst du falsch.‟
Josh erbleichte und senkte beschämt den Kopf. Seit er Dorian von seiner Idee erzählt und es geschafft hatte ihn besorgt zu stimmen, konnte er sich nicht davon abhalten, das gleiche bei anderen zu versuchen.
Es war, als wäre ihm an diesem Tag ein Schleier von den Augen gerissen, sodass er endlich die Wahrheit erkennen konnte. Seine bisherige Sichtweise erschien ihm derart beschränkt, dass er Mitleid mit all jenen empfand, die weiterhin an ihr festhielten.
Die Welt war in seinen Augen bunter und lebhafter geworden und der Drang, alles Neue zu erforschen war unüberwindbar. Seine kleine Cousine bildete dabei keine Ausnahme und auch wenn er im Herzen wusste, dass es falsch war, hatte er es nicht verhindern können.
Nora hatte wie üblich an seiner Seite gehangen, unaufhörlich auf ihn eingeredet und seine Nerven beansprucht, während er selbst versucht hatte seine Ungeduld nicht zu zeigen. Dorian war das hektische Treiben seiner Schwester gewohnt und konnte ihre quiekende Stimme ausblenden, doch für Josh war sie nervenaufreibend gewesen. Stöhnend hatte er sich tiefer in das Sofa fallen lassen und mit leerem Blick in das sonnendurchflutete Wohnzimmer gestarrt, als ihm erstmals die Farben auffielen; bunte Schleier schwebten federnd durch die Luft, lösten sich auf und verblassten. Es war ein hypnotisierendes Schauspiel von dem er sich nicht hatte losreißen können, ähnlich dem Rauch in seinen Marmeladengläser.
Nora hatte seine Abwesenheit bemerkt und war ihm beleidigt auf den Schoß gesprungen, wo sie ihm mit ihren kleinen Kinderhänden gegen die Brust trommelte. Josh war aus der Trance aufgeschreckt und hatte sie entschuldigend angelächelt, aber im gleichen Moment schlagartig die Augen aufgerissen und seine Cousine verzückt angestarrt. Die Farbschleier hatten sich um ihre schmale Gestalt zu orangenen Wolken verdichtet, die stetig umeinander wirbelten, an den Rändern verblassten und sich zusammenzogen.
Sie hatten sich zu einem trägen und dunkler werdenden Strudel verlangsamt, als Nora verwundert die Stirn runzelte. Josh stieß sie fasziniert mit dem Finger an, aber glitt durch die Schwaden ohne sie zu beeinflussen. Abermals hatte er es versucht und dieses Mal leuchteten sie auf und wurden heller und lebhafter. Nora hatte erheitert gequiekt und sich lachend in seinen Armen gewunden …
„Es war gruselig wie du sie angestarrt hast‟, riss Dorian ihn aus der Erinnerung und schüttelte sich, „Und mit dem gleichen Blick siehst du auch mich an.‟
Josh runzelte die Stirn und sah zu seinem Cousin. Auch um seine Gestalt verdichteten sich die Luft zu träg fließenden Farbströmen. Violette und gräuliche Schleier gingen von ihm aus und machten es Josh schwer sich zu konzentrieren.
„Ich beeinflusse dich nicht‟, versicherte er ihm und beobachtete wie die Schwaden dunkler wurden, als Dorian misstrauisch den Blick hob. „Ich habe auch Nora nicht beeinflusst‟, sprach Josh unsicher weiter und runzelte nachdenklich die Stirn, „Ich wollte es jedenfalls nicht.‟
Dorian zuckte mit den Achseln und wandte sich wieder seinem Display zu. „Sie hatte den schlimmsten Lachkrampf seit Jahren, am liebsten hätte ich sie in den Schuppen gesperrt, bis sie sich beruhigt hat.‟
„Dorian!‟, wies Josh ihn zurecht und sein Cousin musste spöttisch grinsen.
„Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich gesagt hätte, dass ich sie auch gerne mit einem Kissen erstickt hätte?‟ Josh schüttelte fassungslos den Kopf, Dorians Farbmantel begann bei diesen Worten golden zu leuchten und wechselten schlagartig die Farbe. Das grau verblasste, ebenso das violett und an ihre Stelle trat ein helles, pulsierendes Orange.
„Ich habe etwas gefunden‟, verkündete er aufgeregt und hielt triumphierend sein Handy in die Höhe, „Laut deinen Schilderungen und dem Internet, von dem wir wissen, dass es alle Fragen beantworten kann, kannst du seit neustem die Aura eines Menschen sehen.‟
„Aura?‟, wiederholte Josh skeptisch, „Ich dachte, dabei ginge es um den Charakter.‟
Dorian schüttelte den Kopf, „Ich glaub es gibt mehrere Definitionen, laut Wikipedia sieht du die emotionale Aura. Das Wort Astralleib wird auch des öfteren verwendet, aber der Eintrag ist mir zu lang und ich schätze, dass er mehr mit der Seele, dem Leben nach dem Tod und dem anderen Humbug zu tun hat. Keine Ahnung.‟
„Ich fürchte wir müssen unsere Ansichten über Humbug ändern‟, gab Josh grinsen zu bedenken, „Wenn ich in der Lage bin eine Aura zu erkennen, kann auch dieser Astralleib existieren.‟
„Mach dich nicht lächerlich‟, schnaubte Dorian und tippte neue Suchanfragen ein, „Wir müssen uns jedoch ernsthaft über deine neue Fähigkeiten unterhalten. Ich verstehe, dass du sie ausprobieren und lernen möchtest, wie sie funktionieren, aber du solltest nicht willkürlich in das Gefühlsleben deiner Mitmenschen eingreifen.‟
„Das tue ich auch nicht!‟, fauchte Josh zornig.
„Oder sie mit einem irren Stalkerblick mustern‟, ergänzte Dorians schmunzelnd und brachte damit seinen Cousin zum Lachen.
„Wenn du das Gleiche wie ich sehen würdest, würdest du verstehen, weshalb das nicht so einfach ist, aber ich versuche es.‟ Sie grinsten sich breit an, wobei die Farbflüsse in einem warmen gelb zu leuchten begannen.
Dorian tippte immer neue Begriffe ein und überflog mit mildem Lächeln die Artikel, die meisten davon, erschienen ihm lächerlich, während Josh das lebhafter Spiel seiner Aura beobachtete. Die Farbschleier wechselten in ein beruhigendes grün mit grauen Akzenten und versetzten ihn abermals in eine tiefe Trance.