Du bist Elred Aramys Nuvian.
Es ist zu heiß. Sandig, staubig, und kein Wasser, so weit du blicken kannst. Nur diese endlose, braune Geröllwüste mit größeren und kleineren Gesteinsbrocken. Selbst die Luft schmeckt staubig.
Du drehst dich um und blickst zurück zu Brenna und Karja. Die beiden Frauen folgen dir mit dem Esel in einiger Entfernung. Sie gehen langsam, damit das graue Tier nicht stürzt.
Da Karja nicht reiten kann, habt ihr euch schweren Herzens entschlossen, Brennas Duma und deinen Coritas in Lilienstein zurückzulassen, der größten Stadt der Südmarke, die vor allem von Magiern bewohnt ist. Ein Stellplatz dort ist nicht eben billig, doch ihr habt genug Gold von der Krone erhalten, um euch das leisten zu können. Nur den Esel habt ihr mitgenommen. Der Stall wäre teuer gewesen als einen neuen Esel zu kaufen, und außerdem benötigt ihr ein Packtier für euer Wasser.
Statt direkt nach Süden zu marschieren, habt ihr euch allerdings für einen Umweg entschieden. Die Grenze nach Kalynor wird in der Wüste gut bewacht. Doch das rotbraune Land der Erdgräber, die von Canyons und Tafelbergen durchzogene Geröllwüste im Westen von Galabad. Hier hättet ihr ohnehin nicht reiten können, dennoch wünscht du dir Coritas her. Auf dem Pferderücken wäre diese Reise deutlich weniger mühselig. Und vor allem schneller vorbei!
Brenna winkt dir, als du in Sichtweite kommst. Wenig später bist du nah genug, dass ihr einander verstehen könnt, und sie ruft: „Hast du was gesehen?“
Du nickst und machst noch ein paar Schritte, damit ihr nicht brüllen müsst. „Vor uns liegen die ersten Dünen“, berichtest du den Frauen.
Du weißt nicht einmal, ob du dich darüber freuen sollst. Die Sanddünen bedeuten, dass ihr dem Land der Erdgräber fast entkommen seid. Doch andererseits fängt die Mühe dann erst an. Ihr müsst eine Oase in der Wüste finden, an deren Ufer sich die Stadt Aramati befindet. Du hast vor deiner Zeit als Söldner einiges über die Wüste gelesen und weißt deshalb, wie aussichtslos eure Suche ist. Viele Armeen und Heere sind spurlos im Sand verschwunden, wenn sie Aramati überfallen wollten.
Du legst die Hand unter dein Hemd. Alles, was euch auf dieser Reise hilft, ist das Tigerauge, der Stein mit der Macht über die Zeit.
Brenna lässt den Esel halten und holt drei Wasserschläuche vom Tier. Ihr trinkt jeder einen ordentlichen Schluck, während heißer Wind an deiner Kleidung zerrt. Etwas wehmütig siehst du zu den restlichen Wasserschläuchen, doch ihr trinkt nur einmal pro Stunde, trotz der unbarmherzigen Hitze. Da jedoch eine Wüste vor euch liegt, dürft ihr nicht verschwenderisch werden.
Dabei ist es gar nicht so heiß. Das Land der Erdgräber ist von tiefen Schluchten durchzogen, in deren Schatten es schon fast kalt ist. Viel schlimmer findest du die Trockenheit. Dieses Land besitzt kaum Wasser, selbst die Luft scheint ausgedörrt. Sie kratzt in deinem Hals. Wie schlimm es erst in der Wüste sein wird, möchtest du dir gar nicht vorstellen.
Nach eurer Pause setzt ihr euch langsam wieder in Bewegung, über gelblichen Schotter, steile Hänge, flache Täler mit stoppeligem, bernsteinfarbenem Gras und durch die gewundenen Schluchten, die sich wie Gerippe von Flüssen durch die Landschaft ziehen.
Du hast Kopfschmerzen. Die Sonne schmerzt in deinen Augen. Obwohl du die Dünen bereits sehen konntest, scheinen sie kein Stück näher zu rücken.
„Lasst uns eine Pause machen“, schlägt Brenna schließlich vor. Ihr habt ein kleines Plateau erreicht, auf dem das Gras etwas höher steckt und euer Esel ein paar karge Büsche finden kann. Brenna lässt das Tier an der langen Leine laufen, sodass der Esel das Gesträuch abgrasen kann. Wehmütig siehst du zum Wasser, doch ihr habt noch nicht genug Strecke geschafft. Brenna stapft im Kreis, den Blick zu Boden gerichtet, und wälzt mit dem Stiefel Felsen um, unter denen sich Skorpione verbergen könnten. Karja sitzt auf dem Boden. Keuchend zieht sie ihr Hemd ein Stück vom Körper weg und wedelt sich damit Luft zu. Schweiß hat den Stoff durchtränkt.
„Ich hasse dieses Land“, brummt sie.
„Zu heiß?“ Du grinst schief.
„Zu trocken.“
„Tja, wenn man sein ganzes Leben auf dem Ozean war …“ Du zuckst mit den Schultern. „Dann ist eine Wüste wohl ein ziemlicher Schock.“
Karja nickt. Sie blickt nach Westen, wo irgendwo die Mondsee liegen muss, und lässt dann die Schultern sinken. „Ich will nicht lügen, Spitzohr. Ich vermisse meine Heimat sehr. Dort gehöre ich hin.“
„Und trotzdem hast du dich uns angeschlossen.“ Du schlägst einen versöhnlicheren Tonfall an. „Das war sicher keine leichte Entscheidung.“
„Keineswegs. Aber ich denke, dass die Drachen uns früher oder später betrogen hätten. Der Pakt der Schöpfersteine besteht nur, solange Kalynor besteht. Wenn euer Land erst einmal besiegt ist – wie geht es dann weiter? Sicherlich werden die Drachen die Schöpfersteine zurückfordern. Ich glaube kaum, dass es Frieden geben wird. Momentan ist Kalynor eine Macht, die uns untereinander zu Bündnissen zwingt. Wenn die wegfällt und alle das Land haben wollen …“
„Aber wenn sich die Jenseitslande gegen die Drachen stellen?“ Du siehst kurz zu Brenna, die noch immer Echsen jagt, und kniest dich dann zu Karja.
„Wir hätten vermutlich keine Chance. Die Drachen besitzen den Aventurin, den mächtigsten der Schöpfersteine. Seine Macht könnte die der anderen Steine ersticken, wenn sich der Stein an einen Drachen bindet. Dann wären die Schöpfersteine nichts anderes als hübsche Edelsteine.“
Karjas Blick ruht, genau wie deine Hand, auf deiner Brust. Das Tigerauge ist euer bester Trumpf auf dieser Reise. Du hast ein bisschen mit dem Stein experimentiert. Besonders im Kampf wird euch seine Macht sehr nützlich sein. Du möchtest gar nicht wissen, was geschieht, wenn der Stein euch plötzlich den Dienst verweigert.
„Kann das nicht auch passieren, wenn wir die Steine stehlen?“
Karja nickt. „Natürlich. Ich denke, die Drachen wissen noch nicht, dass Schöpfersteine fehlen. Niemand der Jenseitsvölker würde ihnen gerne eine solche Nachricht überbringen. Aber ob sie es wissen oder nicht – sie werden eines Tages davon erfahren. Und ab dann werden sie alles daransetzen, die Macht der Steine zu brechen. Wir können nur hoffen, dass wir weiterhin schnell genug sein werden.“
Du nickst, während deine Gedanken um die Drachen kreisen. Selbst die Jenseitsvölker fürchten sie. Du hast selbst noch keinen Drachen gesehen, allerdings Geschichten gehört. Ein einzelner Drache kann einen ganzen Wald verbrennen. Drei oder vier könnten eine Stadt innerhalb kürzester Zeit auslöschen. Zum Glück gibt es nicht besonders viele Drachen. Sie sind uralt, mächtig und eben nicht sehr zahlenreich. Deshalb konnten sie bisher auch nicht alle Macht an sich reißen. Würden die Drachen angreifen, wäre das eine derartig große Bedrohung, dass ich vermutlich sofort alle Jenseitsvölker und Kalynor verbünden würden. Und die Feuerechsen sind nicht stark genug, um gegen alle von euch gleichzeitig zu kämpfen.
Aber wenn eine Macht fehlte – beispielsweise eine große, zentrale Macht wie Kalynor – stünde dem Sieg der Drachen nicht mehr so viel entgegen.
Brenna ist zu euch zurückgekehrt. Sie sieht ebenso müde und verschwitzt aus wie du dich fühlst. Mit einem knappen Nicken stimmt ihr ab, weiterzuziehen. Vielleicht könnt ihr heute noch die Ausläufer der Wüste erreichen und dieses steinige Land verlassen. Der Weg wird durch das Geröll mühsam, und du bist schon mehrmals umgeknickt, sodass dir die Knöchel inzwischen wehtun.
Ihr sammelt den Esel ein und reist weiter. Der Boden wird bereits deutlich sandiger, was bedeutet, dass die Ränder der Schlucht immer instabiler sind. Als euch nach einer Weile klar wird, dass die Schlucht nicht so bald wieder auf ein Plateau führen wird, beschließt ihr, den Hang hinaufzusteigen und sozusagen am „Ufer“ des nicht mehr existenten Flusses zu reisen. Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Du kommst relativ leicht herauf, aber Brenna, Karja und insbesondere der Esel rutschen auf dem Sand immer wieder ab.
„Wir müssen das anders machen“, sagt eine ausgesprochen staubige Brenna schließlich. „Karja, nimm das Gepäck.“
Ihr sattelt den Esel ab und befestigt ein Seil an den Vorräten. Brenna wirft es zu dir herauf und zu ziehst das Wasser nach oben. Der Sand färbt die Taschen sofort gelb ein.
Nachdem du das Gepäck neben dir abgestellt hast, wirfst du den beiden Frauen das Seil zu. Sie packen je ein Ende und mit der anderen Hand den Esel, so gut es geht. Brenna legt den Arm um den Rücken des Tieres, Karja greift in die Mähne. Der Esel stemmt die Hufe in den Boden und legt alles Gewicht auf die Hinterhand.
„Dummes Tier“, zischt Karja. „Komm schon!“
Brenna zerrt ächzend. „Hätten wir bloß eine Peitsche mitgenommen!“
„Jetzt reißt euch zusammen. Für ihn ist der Aufstieg noch schwieriger als für euch!“ Du ziehst am Seil.
Stück für Stück arbeiten sich die Drei nach oben. Dann geht plötzlich ein Ruck durch das Seil und sie rutschen zurück. Die grobe Faser rauscht so schnell durch deine Hände, dass sie dir die Haut aufreißt. Du springst vor an den Rand.
Brenna und Karja sehen zu dir auf, als der Boden unter ihnen plötzlich nachgibt. Der Esel stürzt mit einem spitzen Schrei in ein Loch, das sich unter ihm geöffnet hat. Karja konnte rechtzeitig loslassen, doch Brenna rutscht mit. Sie kann sich an den Rand der Öffnung klammern, der jedoch sandig und nachgiebig ist. Dann stürzt sie.
Zum Glück hast du trainiert! Mit einem Ruck schließt sich deine Hand um das Tigerauge und die Zeit friert ein. Regungslos – keiner von euch kann sich bewegen – betrachtest du die Szene.
Brenna hängt in der Luft über einer tiefen Öffnung. Du erhaschst einen Blick auf etwas Braunes, aus dem spitze, gelbliche Zähne ragen. Ein Erdgräber! Du hättest nicht erwartet, dass diese riesigen Würmer so weit draußen noch nisten. Doch offenbar seid ihr direkt über den Gang einer solchen Kreatur geraten. Den Esel könnt ihr vergessen, doch Brenna möchtest du nur ungern im Stich lassen. Allerdings hat sie nichts, woran sie sich festhalten kann.
Du siehst zu Karja. Sie steht auf der anderen Seite des Lochs und wendet sich gerade quälend langsam um, die Hand nach Brenna ausgestreckt. Sie könnte sie erreichen, sofern der Boden dort stabil genug ist und sie nicht ebenfalls einbricht. Sie muss einmal um das Loch herum und von hier oben kannst du nicht erkennen, wie der Gang darunter verläuft.
Außerdem wird der Erdgräber mit Sicherheit gleich hervorbrechen, wenn ihm Brenna vor der Nase weggeschnappt wird. Falls ihr sie retten könnt.
Du hältst den Stein weiter umklammert. Unter dem Zauber könnt ihr euch nur langsam bewegen. Die Luft ist von goldenem Licht erfüllt.
Brenna sieht hilfesuchend zu dir. Karja stürmt auf sie zu. Du musst entscheiden, was du tust – hilfst du Brenna oder bleibst du besser hier oben und sicherst den beiden Frauen den Rückzug?
Du entscheidest dich …
- … und springst nach unten zu Brenna und Karja. Lies weiter in Kapitel 2.
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- … und bleibst oben mit dem Seil stehen. Lies weiter in Kapitel 3.