Du bist Elred Aramys Nuvian.
Du zögerst nicht einen Moment. Wenn Karja Brenna nicht rechtzeitig erreicht, würdest du dir das nie verzeihen.
Staub wallt auf, als du den Schotterhang herunter rutschst. Die Zeit läuft wieder schneller, und ihr könnt euch bewegen. Aus dem Erdloch blitzen die langen, dünnen Zähne des Erdgräbers – länger als ein Mensch hoch ist. Im Sturz streckt Brenna die Arme aus.
Entweder, du rennst wie noch nie in deinem Leben, oder sie fällt langsamer als du und Karja euch bewegt. Kannst du mit dem Stein beeinflussen, wie schnell die Zeit für einzelne Personen läuft? Um das zu überprüfen bräuchtest du mehr Zeit, doch die hast du nicht.
Kurz vor Karja erreichst du den Rand der Senke. Als du den Fuß aufsetzt, spürst du, wie der Boden unter dir nachgibt. Doch du kannst dich zu Brennas Hand herabbeugen und ihre Hand umfassen. Während du ziehst, sinkt der Sand unter deinen Schuhen weiter. Der Erdgräber ist genau unter euch!
Du wirfst dich quälend langsam zurück, den Stein immer noch umklammert. Karja packt dein Hemd von hinten und zieht euch beide zurück. Schritt für Schritt erreicht ihr sicheren Boden, während der Sand in einer langen Schlucht einbricht.
Du willst ihnen etwas zurufen, aber kein Laut dringt aus deiner Kehle. Überhaupt ist die Welt um euch herum unnatürlich still. Du hörst weder den Wind noch eure Schritte, und auch nicht das Brüllen des Sandgräbers.
Ihr rennt auf die Wälle des Grabens zu. Diesmal rutscht der Schotter unter euren Füßen nicht so schnell wie ihr hinaufsteigt. Die Verlangsamung hilft euch, doch gleichzeitig zerrt die Schwerkraft stärker an dir als zuvor. Ihr müsst euch weit vorbeugen, um nicht nach hinten zu stürzen.
Du riskierst einen Blick über die Schulter. Tiefe Risse durchziehen den Graben und rasen auf den Wall zu. Erde, Gestein und Schutt fallen in die Tiefe. Die klaffenden Wunden nähern sich euren Fersen.
Du hast Brennas Hand noch immer umklammert und ziehst sie mit dir. Karja schleicht sich halb den Hang hinauf. Als ihr endlich auf ebenen Boden gelangt, ergreift die Piratin mit der freien Hand eure Taschen und ihr stürmt vorwärts, noch immer langsam. Bei jedem Schritt schwebt ihr einen Moment in der Luft, ehe ihr die Füße aufsetzen könnt. Ihr merkt instinktiv, dass ihr Arme und Oberkörper zum Rennen einsetzen müsst, da ihr sonst langsamer werdet. Sonst nimmt niemand von euch das Laufen so intensiv wahr, aber jetzt könnt ihr jeden Schritt, jede Handbewegung in Ruhe planen und all eure Kraft einsetzen.
Auf diese Weise überquert ihr das Plateau, bis du merkst, dass du kurzatmig wirst. Die Magie zehrt an deinen Kräften.
Du drehst den Kopf und erblickst eine gewaltige Sandfontäne hinter dir. Es sieht aus wie ein dicker Busch oder eine bizarre, etwas verschwommene Felsformation. Der Erdgräber tobt, doch er folgt euch nicht. Natürlich – diese Wesen sind viel zu plump und langsam. Selbst jetzt ist der Massige Leib nicht über der Erde zu sehen. Wie eine fette Kröte wird er an seinem Loch auf die nächsten Unglücklichen warten.
Du nimmst die Hand vom Stein. Ihr stolpert, als die Welt für euch plötzlich zur normalen Geschwindigkeit zurückkehrt. Hinter euch erklingt tiefes, rumpelndes Gebrüll.
„Das war knapp.“ Brenna stützt die Hände auf die Oberschenkel und schnauft durch. „Ich dachte echt, ich schaffe es nicht mehr da raus.“
„Wir würden dich doch nicht im Stich lassen.“ Karja lächelt schief.
Ihr seht zurück zum Erdgräber. Noch immer peitscht Dreck in den Himmel. Du merkst, dass dein Herz rast. Und deine Füße pochen ungewöhnlich schmerzhaft.
„Tun euch auch die Beine so weh?“, fragt Karja im gleichen Moment, als dir das auffällt.
Ihr nickt beide.
„So viel sind wir doch gar nicht gerannt.“
„Ich glaube“, murmelst du langsam, „das liegt daran, wie wir gerannt sind. Normalerweise spürt man viel mehr von seiner Umgebung. Aber jetzt war alles so langsam, dass auch Schmerzen nicht zu uns durchgedrungen sind.“ Du massierst deine Waden. „Es ist ja nicht schlimm, aber ich schätze, wären wir normal gerannt, wären wir auch etwas rücksichtsvoller gewesen.“
„Klingt logisch“, meint Karja. „Den Schöpfersteinen wird nachgesagt, dass sie solche Gefahren bergen.“
„Gut zu wissen“, brummst du.
Da der Erdgräber noch immer tobt, geht ihr weiter. Ihr achtet besser auf den Boden als zuvor, während Karja die Taschen durchsucht und überprüft, welche Vorräte euch geblieben sind. Den Esel habt ihr verloren. Aber immerhin habt ihr noch etwas Wasser und Nahrung. Allerdings liegt ein Großteil eurer Taschen noch neben der Falle des Erdgräbers.
„Damit kommen wir nicht besonders weit“, stellt Karja fest.
„Was sollen wir tun? Wir können nicht umkehren.“
Karja nickt. „Für den Rückweg nach Kalynor reicht es vermutlich auch nicht.“
Ihre ernsten Worte lassen dir einen Schauer über den Rücken laufen. Ihr steckt hier fest. Es gibt keine Möglichkeit, umzukehren. Wenn ihr kein Wasser findet, seid ihr tot.
Brenna ist ebenfalls blass geworden. „Was machen wir?“, fragt sie.
„Wir müssen Wasser finden.“ Karja zuckt mit den Schultern. „Ist doch klar.“
Du versuchst, dich an das zu erinnern, was du bisher gelesen hast. Du hast eine umfassende Ausbildung von 100 Jahren genossen, bevor du dich zum Entsetzen deiner Eltern den Söldnern angeschlossen hast. In der Theorie weißt du, wie man in der Wüste Wasser findet, aber es ist lange her, dass du das gelernt hast, und du hättest nie gedacht, dass du das Wissen mal brauchst. Momentan ist dein Kopf wie leergefegt.
Schweigend geht ihr weiter. Ihr habt keine Zeit zu verlieren. Der Boden verwandelte sich unter euren Schritten allmählich in weichen Sand, als ihr in die goldenen Dünen eintretet. So weit du sehen kannst, gibt es kein Anzeichen von Wasser.
Ihr erklimmt eine größere Düne und seht euch suchend um.
„Ich glaube, Aramati liegt dort.“ Karja deutet gen Süden. „Allerdings weiß ich von einer größeren Oase, die sich irgendwo im Osten befinden muss.“ Sie deutet geradeaus. „Ich weiß nicht, was sinnvoller wäre. Auf dem Weg nach Aramati gibt es garantiert auch kleine Oasen, und wir würden keinen großen Umweg nehmen, der uns mehr Zeit kostet. Allerdings weiß ich nicht, wo sie sich befinden. Der schnellere Weg wäre ein Glücksspiel.“
Du siehst zu Brenna, doch sie erwidert deinen Blick ähnlich ratlos.
„Wo genau liegt denn die große Oase?“
„Das weiß ich nicht“, erklärt Karja. „Ich weiß, dass dort der Schöpferstein übergeben wurde. Wir müssten sie relativ leicht finden können. Glaube ich.“
Du betrachtest eure Wasserschläuche. Selbst wenn ihr alle auffüllen könnt, werden sie nicht besonders lang reichen. Aber wenn ihr gar nichts auffüllt …
Aber euch bleibt vermutlich nur Wasser für ein paar Tage. Vielleicht drei oder vier. Es ist schwer einzuschätzen.
Ihr müsst dringend Wasser finden.
Du entscheidest dich …
- … und suchst nach der großen Oase. Lies weiter in Kapitel 4.
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- … und gehst direkt nach Aramati. Lies weiter in Kapitel 5.