Wie lange die beiden so dagelegen hatten war schwer zu sagen und Jeremy wäre bestimmt nicht derjenige, der sich als Erster aufrappeln würde. Er lag einfach da, döste an die Decke und war völlig ruhig, während Rufus‘ mit dem Kopf und verschränkten Armen auf seiner Brust lag. Er konnte seinen Atem deutlich spüren und fragte sich, ob er so eingeschlafen war. Jeremy strich gedankenverloren und zärtlich mit den Händen über seinen Rücken. Wie lange war es her, dass er so mit jemandem zusammen war? Irgendwann summte ein Handy irgendwo am Boden. „Mmmmh, deins oder meins?“, brummte Rufus.
„Ich fürchte meins. Ist doch egal.“
Rufus kicherte leise. „Das kitzelt, wenn du sprichst.“
„Was?“
„Dein Brusthaar an meiner Nase. Ist irgendwie sexy.“
„Vergiss es, wir fangen nicht nochmal an.“
„Mmmmh, wieso, wie spät ist es?“
Jeremy schaute sich um, fand aber keine Uhr. „Du musst aufstehen, wenn du es wissen willst.“ Rufus murrte ein wenig, dann rollte er sich von Jeremy herunter und stand auf, um nach einem Handy zu greifen, „Shit. Schon nach vier. Ich sollte um sechs in der Garderobe sein. Also sollten wir so langsam…“
„Was für eine Rolle spielst du eigentlich?“ fragte Jeremy jetzt neugierig.
„As You Like It, Shakespeare. Ich spiele den Orlando.” So wie Rufus das sagte, gab es keinen Zweifel, dass jeder wüsste, was er damit meinte. Er begann, sich ein paar Anziehsachen zusammenzusuchen und verschwand im Bad.
“Das ist ein Liebhaber? Bösewicht? Prinz?“ rief ihm Jeremy hinterher.
„Das Erste!“
Jeremy suchte seinen Kram jetzt auch zusammen und fand sein Handy. Drei Nachrichten von June: Sexy times! Viel Spaß! Gesendet um 9.25 Uhr.
Tu nichts Unüberlegtes. Von 9.26.
Wir müssen reden. Von 16.04.
Bei dem Letzten war er nicht sicher, ob er das auch so sah. Was gab es groß zu reden? Er hatte jemanden gefunden, mit dem er zusammen sein wollte. Das war doch wohl einfach, ohne reden. Rufus kam jetzt aus dem Bad. „Ich mache uns noch ‘nen Kaffee zu den Hobnobs“, bot er an. Jeremy nickte und ging ins Bad. Er sprang schnell unter die Dusche, dann stellte er fest, dass er sich wohl rasieren sollte. „Wo hast du Rasierzeug?“, rief er laut nach unten.
„Im Schrank, rechts in der Mitte! Lass` doch. Zeitverschwendung…ich find’s sexy so,“ kam die Antwort. Jeremy grinste sein Spiegelbild an. Immer noch Spuren von Knutschflecken und Bartstoppeln. Okay, wenn das sexy war, dann dürfte es bis zur nächsten Aufführung so bleiben.
Eine Packung Hobnobs und eine rasante Motorradfahrt durch Zentral-London weiter, erreichten die Beiden gerade noch pünktlich den Bühneneingang vom Donmar Warehouse. Jeremy war zwar noch nie hier gewesen, normalerweise besuchte er, wenn er in London war, eher andere Musik und Klassik- Vorstellungen, doch von diesem Theater hatte er selbstverständlich schon gehört. Es lag in der Nähe vom Covent Garden, was logisch war, denn Rufus und seine Schauspielerkollegen hatten ja im gleichen Pub gefeiert wie Jeremy, June und co. Und es hatte den Ruf, eines der innovativsten Theater der Stadt zu sein. Immer waren die wenigen Tickets im Donmar heiß begehrt. Rufus stellte das Motorrad ab und zog Jeremy einfach hinter sich her. Der Pförtner grüßte schon von Weitem. „Wie immer spät dran, Mister Sommerford!“
„Ja, wie immer“, sagte Rufus mit einem entschuldigenden Lächeln, das allerdings durchblicken ließ, dass er daran nichts ändern würde, weil er ja mit einem Lächeln damit durchkäme. Rufus deutete jetzt auf Jeremy. „Ich habe einen Freund mitgebracht. Wo kann er sitzen und zuschauen?“
„Ich sehe mal, was sich machen lässt. Geh gleich in die Maske.“ Der Pförtner konnte sich ein Augenzwinkern nicht verkneifen und Rufus gab Jeremy einen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann war er auch schon verschwunden. „Komm einfach mit. Du kannst bei der Technik sitzen“, erklärte er jetzt und führte Jeremy durch einen Gang in den hinteren Teil des Zuschauerraums, wo die Instrumente für Licht und Ton aufgebaut waren. „Hier ist immer ein Platz frei. Viel Vergnügen, Sir.“ Jeremy schaute sich um und begrüßte die Jungs von der Technik. Die schienen es gewohnt zu sein, dass man ihnen einen Freund, Bekannten oder eine Tante vorbeibrachte und zeigten ihm einen Stuhl, mit der Bitte nichts anzufassen. Jeremy gehorchte und fand es tatsächlich richtig aufregend, zur Abwechslung mal nicht auf, sondern quasi hinter der Bühne zu stehen. „Mit wem bist du hier?“, fragte einer der Männer neugierig. Jeremy zögerte kurz. Rufus hatte „ein Freund“ gesagt. Das war okay. „Ich bin ein Freund von Rufus“, erklärte er dann. Der Techniker nickte und machte weiter mit seinen Vorbereitungen. Nach und nach kamen Zuschauer und Jeremy lieh sich ein Programmheft aus, dann ging es endlich los. Die Inszenierung war modern, keine elisabethanischen Kostüme oder anderer Firlefanz. Ein Herzog war von seinem Bruder entmachtet worden und lebte jetzt wie Robin Hood im Wald. Seine Tochter Rosalind wächst am Hofe des Onkels heran. Rufus` Rolle, Orlando, Typ jugendlicher Held und Liebhaber, ist eigentlich von Adel, die Eltern sind tot, aber sein älterer Bruder, Oliver, verweigert ihm die angemessene Erziehung und überlässt ihn sich selbst. Und Oliver plant, seinen Bruder in einem Ringkampf töten zu lassen. Ein Ringkampf! Jeremy verfolgte den mit entsprechender Aufregung und nicht nur er. So wie sich Rufus auf der Bühne bewegte, der Ausdruck und Charme, den er in sein Spiel legte und vor allem die Körperlichkeit und Kraft des Ringkampfes, das alles nahm nicht nur die Heldin des Stücks, Rosalind, für Orlando ein, sondern vereinnahmte auch das gesamte Publikum. Und wer am Ende des Ringkampfes noch nicht in Orlando verliebt war, der war es nach den Liebesgedichten für Rosalind. Und obwohl es absolut irrational war, verspürte Jeremy so etwas wie Eifersucht. Der junge Mann auf der Bühne sollte ihm gehören und nicht irgendeiner Rosalind! Woher konnte er überhaupt Ringen? Oder tat er nur so? Rufus musste als Schauspieler wirklich richtig gut sein, denn auch wie er sich da in das Mädchen verliebte, war absolut glaubwürdig. Sogar die Bühnenküsse versetzten Jeremy einen Stich der Eifersucht. Hatte Rufus mal was mit der Schauspielerin gehabt? Lief da was? Könnte da was laufen? Aber nein. Das war kompletter Unsinn… Am Ende der Aufführung war Jeremy völlig aufgelöst. Ihm waren jetzt mindestens zwei Dinge absolut klar. Zum einen hatte er sich da wohl von einem der talentiertesten Jungschauspieler der Szene aufgabeln lassen. Und zum anderen war ihm zwar nicht klar wieso, aber er würde alles dafür tun, dass es so bliebe. Er war verliebt. Definitiv.