Die 60-Minutes-Challenge vom 25.08.2019 hieß: "Mondscheinserenade"
Es ist eine Fortsetzung meines Buches "Der Dieb der Geilheit" und ich hoffe, es ist mir gelungen, dass sie auch, ohne das Buch zu kennen, gelesen werden kann.
„Können wir jetzt endlich los?“ Akula wartete mit wippendem Fuß auf seinen Sohn Mischa und dessen neue Liebe Ali. Es war nicht einmal eine Woche her, dass sie gerade ein Abenteuer überstanden, das Ali hätte ums Leben bringen können.
„Daaaaa!“ bejahte Mischa in seiner Muttersprache aus dem oberen Stockwerk.
Akula ärgerte sich, sonst brauchte sein Sohn doch nicht so lange. Naja, wahrscheinlich haben die beiden über ihre Liebe einfach die Zeit vergessen. Wer kann es ihnen denn auch verdenken, so richtig waren sie ja auch erst seit rund zwei oder drei Wochen zusammen. Doch es gab schon den ersten Streit. Mischas Vater hatte in seiner Funktion als Priester zwar Ali wieder Kraft zurückgegeben, doch damit gleichzeitig einen Verbindung zwischen Mischa und ihm geschaffen. Das war natürlich schön, doch Ali wollte wissen, ob er Mischa nur wegen dieser künstlich erzeugten Verbindung so liebte. Das hätte er nämlich nicht gewollt. Er wollte nur das echte Gefühl aus der Tiefe seines Herzens, und nicht das, was aus der Essenz des weißen und des grünen Kristalls ihm fast heimtückisch eingeflößt wurde.
Endlich hörte Akula die beiden Jungs auf der Treppe herunterkommen. „Es wird Zeit!“ sagte er ernst und ging direkt zur Haustür. Die beiden folgten ihm.
Sie fuhren mit dem Auto auf die Anhöhe nahe der Stadt und der Mond schien bereits hell am Himmel und tauchte die Landschaft in blassen Farben ein. Oben auf dem Hügel gab es einen Dolmen, ein altes, keltisches Grab, wobei man das Grab nur noch erahnen konnten. Es lagen lediglich ein paar Steine dort herum, und wer nicht wusste, dass es einmal ein heiliger Ort war, lief vorbei, ohne dem Ort die Beachtung zu schenken, die ihm gebührte. Es sei denn, er hätte genügend Feingefühl, um diesen Ort als Kraftort wahrnehmen zu können. Es gab nämlich Menschen, die das Durchfluten der Energie, die dort aus der Erde ausströmte, am eigenen Leib wahrnehmen konnten. Ein leichtes Bitzeln in den Fingerspitzen bis zu Halluzinationen, wenn man sich zu lange dort aufhielt.
Akula fuhr den Wagen auf den Parkplatz. Zum Glück war niemand anderes hier. Gerade an Vollmond-Nächten hielten sich dort öfter mal Jugendliche auf, die so taten, als wären sie in der Lage, eine schwarze Messe zu feiern. Die endeten jedoch meist einfach damit, dass das Huhn, das geopfert wurde, spätestens am nächsten Tag auf einem Grill landete, fein mariniert und mit frischen Salaten serviert. Akula machte das wütend. Es war schon schlimm genug, dass die Magie seiner Gemeinschaft durch das Verschwinden des weißen Kristalls derart litt. Dass aber solche Alternativen mit Füßen getreten wurden, war ihm ein Graus.
Er schmollte ein wenig vor sich hin: „Nur noch fienfzehn Minuten.“
Ali flüsterte zu Mischa: „Wirklich, ich schenke euch mal ganz viele ‚Ü’s. In meiner Sprache gibt es genug davon.“ Mischa kommentierte das nur mit einem Grinsen, er erinnerte sich noch sehr gut daran, als ihm Ali das schon einmal gesagt hatte.
„Sucht euch Platz, wo ihr stehen wollt. Ihr miesst fiehlen Energie“, gab Akula seine Anweisung. Seine größte Furcht war nämlich, dass sie diesen Platz nicht finden könnten.
Doch Mischa ging einfach quer über den Platz, blieb mal hier, mal da stehen, und streckte die Arme Richtung Erde. Ab und zu schloss er die Augen. Es dauerte keine zwei Minuten, da drehte er sich um und bat Ali, zu ihm zu kommen: „Fiehle, wo es um mich herum ist am besten fier dich.“
Ali tat, wie ihm geheißen. Tatsächlich konnte auch er die Energie wahrnehmen, wenn auch nur ganz sanft. Er fand die Stelle, an dem es am besten funktionierte und Mischa drehte sich zu ihm.
„Ein letzter Kuss in der Verbindung?“ fragte Mischa in seiner gewohnt ruhigen, fast emotionslosen Art. Die Einladung nahm Ali direkt an und streckte seinen Kopf hoch zu Mischa. Was musste der auch fast einen ganzen Kopf größer sein? Wo die Liebe hinfällt.
„Jungs, wir miessen starten mit Ritual.“ Er unterbrach sie nur ungern, denn seit sein Sohn verliebt war, lächelte er einfach sehr viel mehr als früher.
Er zog einen Lederbeutel aus seinem Umhang. Das Pulver, das auf seinen Einsatz wartete, hatte er die ganze Woche über hergestellt. Erst musste er verschiedene Kräuter sammeln gehen, zum Glück war es Herbst und er konnte all das finden, was er brauchte. Noch komplizierter war jedoch die Herstellung, sie bestand aus einer Reihe von Koch- und Siebe-Prozessen. Wieder trocknen, etwas dazugeben, noch einmal kochen und abseihen. Wieder trocknen, jedoch nur in der Mittagssonne. Zum Glück war es die ganze Woche sonnig gewesen. Zuletzt braute er von einem kleinen Teil davon gestern Nacht den Trank, der die Verbindung lösen sollte.
Er murmelte russische Worte und verteilte das Pulver um die beiden. Dort, wo das Pulver die Erde berührte, hatte Ali den Eindruck, dass es kurz leuchtete, doch er konnte sich täuschen, vielleicht war etwas Glänzendes in dem Pulver, das das Licht des Mondes reflektierte. Mischa dagegen stand mit geschlossenen Augen da und wartete, was da kommen mag.
Der Kreis war geschlossen und Akula hielt eine kleine Phiole zwischen die beiden. Mischa würde ihm später übersetzen, was sein Vater auf russisch sprach: „Möge die Verbindung zwischen euch gelöst werden, damit jeder sein eigener Herr werde. Möge trotzdem die Liebe euch zusammenhalten, so lange es der richtige Weg ist für euch.“ Mit den mitternächtlichen Glockenschlägen der Kirche unten in der Stadt nahm Mischa den ersten Schluck und reichte die Phiole an Ali, der sie leer trank.
Mit erwartungsvollen Augen stand Akula da und wartete auf eine Reaktion. Nichts. Er hatte diese Zeremonie mit dem Namen „Mondscheinserenade“ von seinem Vater gelernt, doch er war selbst damals nicht einmal erwachsen. Hatte er etwas falsch gemacht? War der ganze Aufwand umsonst? Sie warteten eine ganze Minute, doch nichts passierte. Enttäuscht sprach er: „Kommt, Jungs, wir gehen.“
Doch die rührten sich nicht. Mischa hob intuitiv seine Hand und legte sie auf die Brust seines Freundes und Ali tat das gleiche bei Mischa. Unter ihren Handflächen fing etwas an zu leuchten. Es wurde warm zwischen ihnen, beinahe heiß. Nur ein paar Sekunden später hielt Ali es nicht mehr aus, er spürte, wie seine Brust brannte, auf der Mischas Hand ruhte, und Mischa ging es nicht anders. Beide schrien sie auf, doch es war erst der Anfang. Um sie herum konnten sie Gestalten wahrnehmen, die ganz vernebelt da standen. Was war hier los? Die Gestalten nahmen Formen an, es waren Krieger. Der größte von Ihnen trat auf sie zu: „Ihr seid euch sicher, ihr wollt die Verbindung lösen?“ Und in ihrem Schrei und Schmerz nickten sie. Er holte aus und durchfuhr sie in der Mitte mit seiner Axt. Die Geisteraxt fuhr durch beide hindurch und sie merkten, dass sie voneinander gelöst wurden.
Der Schmerz ließ nach und sie hörten auf zu schreien. Aus Alis und aus Mischas Herzen schien immer noch Licht, ein nicht enden wollender Energiestrom, Alis Herz leuchtete weiß, Mischas Herz leuchtete Rot. Beide sprachen sie gleichzeitig: „Du bist mein und ich bin dein. Für immerdar und ewiglich.“ Wie in Trance umarmten sie sich und ein greller Lichtschein flutete den ganzen Energieort. Sie verschmolzen zu einem Teil, jedoch ein Teil, der jetzt zwei Teile beinhaltete und nicht nur einen.
Der Moment schien ewig zu dauern. Doch etwas klopfte auf ihre Schultern. Ein enttäuschter Akula sprach: „Jungs, kommt schon. Hört auf, euch zu küssen, es hat nicht geklappt.“ Er drehte sich um und ging zum Auto.
Konnte es sein, dass er nichts von all dem, was eben geschah, wahrgenommen hatte?