Es ist still als Frau Irsinger aus ihrer Haustür tritt, den altmodischen Schlüssel in das ebenso altmodische Schloss steckt und abschließt. Ein wenig zittern ihre Finger, während sie die Schlüssel in ihre Tasche steckt. Wie an jedem Tag seit vierzig Jahren hebt sie nun die Gießkanne hoch und gießt die beiden Büsche, die in Töpfen neben der Haustür stehen. Dass die echten Büsche dank des Smogs der Großstadt schon lange durch Plastikbäume ersetzt worden sind, stört sie dabei nicht. Der Tag mag wie jeder andere beginnen, doch er wird nicht wie jeder anderer ändern. Dieser Gedanke hält die alte Frau gefangen und verursacht das winzige, kaum sichtbare Zittern ihrer Hände. Sie weiß es. Weiß, was geschehen wird und spürt die Angst, die sich in ihrem Herzen breit macht. Frau Irsinger gestattet sich einen winzigen Moment der Ruhe, um tief durchzuatmen, dann fährt sie fort. Nur weil sich am Abend ihr Leben ändern wird, ist dies noch lange kein Grund, dem Morgen seine Tradition zu nehmen. Mit den Zehenspitzen fährt sie zuletzt das große Herz über dem „Willkommen“ der Fußmatte nach.
Erst jetzt ist sie bereit, sich dem Unvermeidlichen zu stellen. Sie tritt über die Grenze, jene winzige unsichtbare Linie, die ihr Grundstück von dem öffentlichen Besitz trennt. Nun hat sie sie verlassen, jene winzige, heile Welt, die sie sich selbst mit dem Mörtel der Erinnerung auf dem Erbe ihrer Vorväter erbaut hat und ist eingetreten in die Welt, die ihr fremd und für die sie fremd ist. Sie mögen sich gegenseitig nicht. Die Welt ist unnachgiebig gegenüber jenen, die anders sind und nicht bereit sind, den Fortschritt mit dem Preis der Vergangenheit zu bezahlen. Dennoch geht sie weiter. Einen Schritt nach dem anderen.
Die Straßen sind jetzt leer, doch hinter den Fenstern flackern immer mehr bunte Lichter und Monitore auf. Dort versammeln sich die Menschen jetzt, anstatt auf den Straßen, die heute nur noch ein Relikt sind. Geschwindigkeit läuft nicht mehr länger über Motoren, sondern über irgendwelchen Wellen in der Luft und in seltenen Fällen durch Kabel. Schon lange laufen Diskussionen in der Stadtverwaltung, die Straßen doch mal durch neue Häuserzeilen zu ersetzen. Immerhin daran hat sich in all den Jahren nichts geändert: Die politischen Entscheidungen werden unverändert langsam getroffen.
Frau Irsinger blickt auf ihre Uhr. Zufrieden nickt sie. Fünf Minuten vor halbacht. Sie wird ihren Zielort genau um halb erreichen, dann wann sie es immer tut.
Hier gibt es keine Schlüssel, stattdessen diese Chipkarten, die die meisten Gebäude besitzen. Wie jedes Jahr hat man ihr eine gegeben und wie jeden Tag hat sie die ihre vergessen – sicherlich nicht unbeabsichtigt.
„Guten Tag“, piepst der Roboter mit seiner schrecklich, schrillen Stimme. „Ihre Identitätsnummer bitte.“
Jeden Tag ist es dasselbe Spiel, das sie spielen, nur dass hin und wieder ein Wort ausgetauscht wird.
Sie schweigt, mustert nur seinen metallenden Körper, der sich kontrastreich gegen die rostrote, abblätternde Farbe der Wand abhebt. Er passt nicht hierher. Nicht zu dem alten Ziegelsteingebäude, den notdürftig verklebten Fenstern, den mit allen möglichen Krempel zugestellten Räumlichkeiten und am Wenigsten zu ihr, der Frau, die verzweifelt an dem festhält, was einst war.
„Können Sie sich ausweisen?“, wiederholt er.
„Vierzig Jahre Erfahrung sind mein Ausweis“, erklärt Frau Irsinger leise und drängt sich ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei.
Ihre Nase vernimmt den Staub, der die Luft durchsetzt, ihre Augen die hinter Aktenschränken verborgenden dünnen Kreidestriche an den Wänden, ihre Ohren das Knarzen des aufgerissenen Plastikbodens, die Füße jede Unebenheit in dem Weg, über die zu früheren Zeiten Hunderte täglich gelaufen sind. Jetzt ist sie die Einzige. Und dieses alte Gebäude steht nicht etwa aufgrund eines Denkmalschutzes, sondern aufgrund irgendwelcher rechtlichen Hintergründe, nach denen eine Schule auch in der modernen Zeit einen Standort und Büro braucht. Der Altbau ist billiger zu unterhalten als eine moderne Wohnung und so nimmt Frau Irsinger seit vierzig Jahren immer noch denselben Weg zur Schule und sie ist dankbar für jeden Schritt, den sie ihn gehen konnte. Aber heute…Sie schickt den Gedanken fort, hält lieber fest an all den vergangenen Jahren und dem heutigen Tag, der immer noch ein Teil des Gestern ist.
Endlich erreicht sie ihren Raum, der mit Erinnerungen gesättigt ist. Sie hat noch das alte Holzpult, unter dem die Kaugummis von Schülern kleben, die diesen Raum schon lange nicht mehr betreten haben. Die Tasche stellt sie daneben, nimmt ihre Bücher heraus und legt sie auf den Tisch. Den heutigen Schultag hat sie ganz genau durchgeplant, denn er soll wirklich perfekt sein.
Frau Irsinger blickt auf ihre Armbanduhr. Zwanzig vor acht. Noch zehn Minuten hat sie. Nachdenklich sieht sie sich im Raum um. Das Tafelbild hat sie schon nach dem gestrigen Tag vorbereitet, die Bücher sind aufgestellt und der Klassenraum bereit. Nun hat sie keine Ausreden mehr.
Mit einem Seufzen erhebt sich die alte Dame von ihrem Stuhl und tritt durch den Raum, bis zu dem kleinen Apparat, der in die Wand eingelassen ist. Knöpfe und Lichter blinken in bunten Farben und erinnern sie daran, dass sie dieser Welt selbst in diesem Refugium, das sie gegen alle Widerstände erhalten hat, nicht entkommen kann. Sie drückt auf einige Knöpfe und im Raum beginnen verschiedenste Apparaturen an sich zu bewegen. Diese schrecklichen Drohnen lösen sich aus ihren Halterungen und schweben zum Pult, auf das sie nun ihre Kameras ausrichten. Frau Irsinger klappt den kleinen Kasten wieder zu und stellte sich auf ihren gewohnten Platz, etwas schräg vor dem Pult.
„Liebe Schüler“, begann sie, „in Gedenken an den heutigen Tag möchte ich mich mit einem ganz besonderen Thema beschäftigen.“ Die Worte flossen aus ihrem Mund, verselbstständigten sich und zeigten von ihrer jahrzehntelangen Erfahrung. Es war so einfach, zu erzählen, zu sprechen, wenn sie nur die Augen schloss. Sie schloss die Augen, um zu vergessen, dass sie vor einem leeren Klassenzimmer stand und dass es niemanden gab, der ihr zuhörte. Da waren nur die Roboter mit ihren blinkenden Lichtern und toten Linsen, die ihre Worte aufnahmen. Irgendwann würde sich vielleicht einer ihrer Schüler, deren Gesichter sie nur von Hologrammen kannte, sich in das Netzwerk einloggen und sie hier vor einem leeren Klassenzimmer stehen sehen. Vielleicht würde er sich fragen, was das für eine alte Frau war, die ihre Stunden noch selbst durchführte. Wohlmöglich würde es ihm auch egal sein.
Als sie die Augen öffnet, sitzt das Mädchen da. Es wirkt, als ob sie ein Teil der Inventur wäre, als ob sie hierhin gehört. Nur dass dem nicht so ist. Abrupt hält Frau Irsinger in ihrem Vortrag inne und sieht verblüfft auf das Mädchen hinab. Die Hände auf den Tisch gelegt sitzt sie am vierten Platz der dritten Reihe vom Mittelgang aus gesehen und starrt zu der Lehrerin hoch. Es ist ein etwas dickliches Mädchen mit aschbraunem, kurzem Haar. Sie hat ein breites Gesicht mit einer hohen Stirn, einem wenig ausgeprägtem Kinn und einer ziemlich kleinen Nase. Die grauen Augen blicken Frau Irsinger neugierig und erstaunt zugleich an.
„Geht es weiter?“, fragt sie.
„W-Weiter?“ Die Lehrerin weiß nicht mehr, was sie sagen soll. Vor ihr sitzt ein Kind, ein echtes, lebendiges Kind und fordert von ihr, dass sie unterrichtet. Hat sie sich nicht eben das all die Jahre lang gewünscht? Und nun weiß sie nicht mehr, was sie sagen soll.
„Ja. Dieses Fest, von dem Sie erzählt haben, klang sehr interessant.“
Frau Irsinger stützt die Hände auf das Pult hinter sich und atmet einmal tief ein.
„Ohne jeden Zweifel“, entgegnet sie, „Aber wer bist du? Du bist keine von meinen Schülerinnen.“ Sie kennt ihre Gesichter. Manchmal ruft sie sich des Nachts die glänzenden Bilder auf, um sich eben an jene zu erinnern und sich ihre eigenen Wünsche wieder vor Augen zu rufen.
„Oh.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Ich bin Natalia. Wir sind erst vor wenigen Tagen hierher gekommen.“ Natalia. Sie kann nicht verhindern, dass sie den Namen mit den Lippen formt. Dadurch erhält dieses namenlose Kind einen Namen, eine Identität und eine Geschichte. Eine Geschichte, die sie nicht ablehnen kann, denn Frau Irsinger liebt Geschichten.
„Gut, Natalia. Aber was machst du hier?“ Es ist nicht die erste Frage, die ihr in den Sinn kommt. Ihrer Meinung nach ist diese keine gute Frage, um eine Geschichte zu beginnen. Aber es ist die Einzige, die ihr als sinnvoll erschien.
„Ich hatte keine Lust zu warten, bis Papa mit dem ganzen Dokumentenquatsch fertig ist, deshalb bin ich einfach hier.“ Einfach und kindlich. Authentisch. Kinder. Erinnerungen an ihr Lachen, ihre lauten Streitereien. Eine Spur der Vergangenheit hat soeben einen Weg in die Gegenwart gefunden. Nur dass sie es nicht ausspricht. Sie spricht es nicht aus, weil auch ihre Vergangenheit von der Gegenwart überlagert worden ist. Eine Gegenwart der Vorschriften, Regeln und Ängste. Sie hat diese Gesellschaft aus ihrem Haus aussperren können, aber nicht aus ihrem Verstand.
„Aber Natalia. Es gibt so etwas wie Vorschriften. Ich bekomme großen Ärger, wenn hier ein unautorisiertes Kind gefunden wird.“ Sie hält inne. „Wie bist du überhaupt hier rein gekommen?“ Dies wäre ein guter Ansatz für eine Abenteuergeschichte. Wohlmöglich über die Entdeckung einer Leiche in einer alten Schule. Fast wünscht Frau Irsinger es sich. Sie wünscht sich, dass eines Tages jemand ihr Skelett in diesem Raum finden und sich darüber Gedanken machen würde, wie sie hierher gelangt war. Aber so würde es nicht sein. Schon bald würde auch dieser Teil ihres Lebens nicht mehr als eine verstaubte Reliquie der Erinnerung sein. Was würde denn bleiben? Vielleicht ein paar Bücher oder Tafelbilder. Tote Dinge, die nichts von ihrer Leidenschaft erzählen konnten.
Aber da ist das Mädchen. Das Mädchen, das vor ihr sitzt und sie angrinst. Sie kann sich diesem Blick nicht entziehen, will die Geschichte anhören, die er bedeutet.
„Auf dem Dach war ein Fenster offen.“
Mit schnellen Schritten überwindet Frau Irsinger die Distanz bis zu dem Mädchen.
„Du bist eingebrochen?“ Eine Geschichte mochte es sein, aber was war, wenn niemand sie mehr erzählen konnte? Ihre Hände zittern. Sowie man sie hier entdeckte, würde sie großen Ärger bekommen. Sicherlich würde man sie für den Einbruch verantwortlich machen und sie susp- Frau Irsinger hält inne und starrt nur auf das Mädchen hinab. Ein heiseres Lachen entsteigt ihren Lippen und bewegt sich durch die stehende, kalte Luft. Sie ist doch bereits suspendiert. Was soll denn schon geschehen? Wer soll diese Geschichte unterbrechen? Es gibt nichts, was man ihr noch antun könnte. Man hat ihr bereits das Einzige genommen, was ihr geblieben war: Hoffnung. Die Hoffnung darauf, dass sich eines Tages doch noch etwas verändern würde, das ihre Beharrlichkeit ein Zeichen für andere setzte. Sie war an jenem Tag gestorben, als sie die Nachricht ihrer Suspendierung erhalten hatte. Vorbei.
Ein tiefer Seufzer entkommt ihren Lippen. Ansonsten ist es still. Es gibt nur das Mädchen und sie in einem Raum, wo noch eine mechanische Uhr tickt und zugleich die surrenden Drohnen sie beobachten. Die alte Lehrerin ignoriert diese und zieht sich einen Stuhl aus der zweiten Reihe heran. Eine Staubwolke wirbelt auf, als sei sich setzt. Mit den Fingerspitzen massiert sie ihre Schläfen, um die Müdigkeit zu vertreiben, die sie so langsam denken lässt.
„Es tut mir Leid“, murmelt sie, „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass so etwas geschehen würde.“ Es ist eine Wendung ihrer Geschichte, die sie trotz so vieler Hoffnungen, nicht vorhergesehen hat. Eine Wendung, die sie zwar mit Freude aber auch mit Misstrauen bemerkt. Die meisten Wendungen in klassischen Dramen erweisen sich als retardierende Momente, die ihre Protagonisten nur noch unausweichlicher in die Katastrophe führen. Frau Irsinger will nicht, dass sich die wieder aufkeimende Hoffnung als tiefer Sturz erweist.
„Wo sind die anderen Kinder?“, fragt Natalia. Ihre schmalen Finger fahren ein paar alte und vergessene Bleistiftzeichnungen nach.
„Ach, weißt du.“ Frau Irsinger lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, sodass es knarzt. „Seit der Abschaffung der Anwesenheitspflicht müssen Schüler nicht mehr in die Schule kommen. Es gibt nur einen Abschlusstest, den ich stelle. Wie sie sich darauf vorbereiten, ist ihnen überlassen.“ Sie schließt die Augen, atmet einmal tief ein und öffnet sie wieder. Es ist eine Geschichte, die Natalia fordert. Und eine Geschichte würde sie bekommen – sobald die Fragen geklärt sind.
„Aber weshalb seid Ihr denn da, Madame? Ich habe keinen anderen Erwachsenen gesehen.“ Dieses Mädchen kam nicht aus dem Neuen nordischen Hansebund, das ist ihr klar. Das Mädchen hat keine Ahnung von den Begebenheiten dieses Staatenbundes und den Dingen, die die Digitalisierung mit Frau Irsingers Heimat gemacht hat. Woher mochte sie kommen? Vermutlich aus irgendeinem der Länder des alten Osteuropas, die sich momentan wieder einmal bekriegten. Dieses Kind brauchte keine komplizierten Erklärungen, entscheidet sie, sondern nur die Wahrheit.
„Ich bin die letzte“, erklärt sie also schlicht. „Die letzte Lehrerin. Ich werde geduldet, weil ich keine Gesetze breche, aber man mag mich nicht.“
Natalia zwirbelt eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern hin und her. „Ich verstehe das nicht“, murmelt sie verwirrt, „Bei uns gibt es keine Schule und hier wollen die Kinder nicht hingehen.“
„Ich verstehe die Welt auch nicht mehr“, gibt die alte Frau zu. In diesem Moment fühlt sie sich jenem Kind seltsam verbunden und hat das Gefühl es zu verstehen. Wie sie gleicht Natalia einer Flamme, die auf der Suche nach Wärme und Gemeinschaft ist, weil sie ohne diese nicht wachsen und aus dem Schatten ihrer selbst hervorkommen kann. Nun, wo die beiden einsamen Seelen die Fühler nacheinander ausgestreckt haben und die Gegenwart des Anderen spüren, sprühen die Funken und der Raum wird von einer Wärme erfüllt, die ein Außenstehender nicht zu fühlen vermögen würde.
„Hast du Lust auf eine Geschichte?“, fragt Frau Irsinger.
„Ich liebe Geschichten.“ Natalias Augen glänzen und sie beugt sich ein Stückchen vor, um besser sehen zu können.
Frau Irsinger erhebt sich von dem Stuhl und geht mit einer Eleganz, die ihre Schritte schon lange nicht mehr geprägt hat, zu ihrer Tasche. Aus den Tiefen des guten Stücks kramt sie ein Buch hervor, das dieses Klassenzimmer schon seit Jahren nicht mehr erblickt hat.
Mit dem Buch in der Hand setzt sie sich wieder vor Natalia. Sie schlägt es auf und ihre Finger ertasten die hauchdünnen Seiten. Der wahrlich wohlige Duft von alter Druckerschwärze steigt ihr in die Nase. Es ist ein so viel besserer Duft, als der dieser Fakebücher, Hologramme, die nur wie Bücher aussehen, aber ganz anders sind.
Sie wirft einen Blick auf Natalia, die den Kopf in die Hände stützt und aufmerksam zu ihr sieht.
Mit einem Lächeln auf den Lippen beugt sich Frau Irsinger über die Seiten. Was macht es, dass dieses Buch schon lange aus den Lehrplänen gestrichen war? Wahrheit. Sie ist so viel wichtiger als Gehorsam gegenüber Gesetzen, die das wahrlich Wesentlich nicht beachten. Ein Lächeln so wie wertvoller als Erinnerungen.
Für einen Moment hält sie inne.
„Ich heiße Tonja.“ Sie kennt dieses Mädchen erst seit wenigen Minuten, doch es war die richtige Entscheidung. Es ist nicht gut, wenn der Erzähler oder Autor einer Geschichte, namenlos blieb.
„Das freut mich“, erklärt Natalia mit einem breiten Lächeln. In diesem Moment ist es für Frau Irsinger das schönste auf der Welt. Es ist dieses Lächeln, wegen dem Tonja Irsinger diese lange vergessene Geschichte in den Mund nimmt. Jede Geschichte braucht einen Autor. Aber es braucht auch die Erzähler, jene Personen, die eine Botschaft weitertragen und von ihr berichten.
„ Es begab sich aber zur der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt.“
Zwischendurch hält sie inne, mustert jenes Mädchen, das vor ihr sitzt und diese Geschichte fordert. Und in diesem Moment versteht sie, dass es nicht um die Bücher, historische Daten und mathematischen Gleichungen geht. Es geht um das Mädchen, das vor ihr sitzt und das Herz weit geöffnet hat. Es geht um die Worte, die sie in die Leben anderer Menschen schreibt und die Identität, die sie ihren Schülern ermöglicht. Es geht um Liebe, Hoffnung, Freude und Lachen. Und diese Geschichte…In einer Gesellschaft, die ihre wahren Hintergründe vergessen hat, spricht sie mehr als alles anderen von bedingungsloser Liebe. Eine Liebe, die diese Welt benötigt. Liebe, die sich im Lächeln dieses Mädchens zeigt, das sich entgegen aller Traditionen und Regeln diese Geschichte anhört. Liebe, die sich in der akribischen Unterrichtsplanung einer alten Dame offenbart, die selbst über lange Zeit vergessen hat, was es bedeutet, geliebt zu sein. Aber jetzt, jetzt versteht sie. Diese Geschichte, deren Erzählerin sie geworden ist, wird ein Teil von ihrer eigenen, weil sie die Liebe, von der sie spricht, für sich in Anspruch nimmt.
Tonja hebt den Blick und sieht hinaus. Während sie hier saßen, ist es dunkel geworden. Auf der Straße ist die automatische Beleuchtung angegangen. Irgendwo da oben über dem Smog der Großstadt funkeln weiße Sterne am Himmel. Vielleicht ist dort sogar eine Sternschnuppe, deren elegantes Glühen sich durch die Nacht zieht. Es macht nichts, dass sie es nicht sieht. Sie weiß, dass sie da sind. Ihr Strahlen spiegelt sich in ihrem freudigen Lächeln, dem Selbstbewusstsein, mit dem sie sich aufrichtet und Natalias Blick. Es ist Liebe. Nicht sichtbar und doch offenbar in dem Leben der Menschen, die sich entscheiden, sie zum Ausdruck zu bringen.
Und Tonja hat sich entschieden.
Sie lächelt.
Es ist eine geweihte Nacht.