Chris stieg aus dem Transporter, drückte sein Kreuz durch und streckte dann die Arme hoch in die Luft. Erstmal tief einatmen, der Tag war geschafft. Endlich. Jetzt konnte der Weihnachtsstress endlich der Ruhe und Vorfreude auf die kommenden Festtage weichen.
Stunde um Stunde hatte er Pakete, Päckchen ausgeteilt, war von einem Haus zum anderen gehetzt, hatte winzige Einblicke in Weihnachtsvorbereitungen der Menschen bekommen, die die Türen geöffnet hatten, wenn er klingelte. Einige waren freudig überrascht, herzlich und fröhlich,
andere total genervt. Die genervten Kunden vergaß Chris immer sehr schnell wieder, die freudigen Augen der anderen behielt er sich jedoch im Herzen. Aus vielen Wohnungen duftete es nach Weihnachtsleckereien und von allen Seiten ertönte Weihnachtsmusik. All das zusammen machte diese Zeit so besonders, trotz Arbeit.
Chris streckte sich noch einmal durch, die Fahrzeit war doch recht lang gewesen und er merkte seinen Rücken. Dann schloss er den Transporter ab und machte sich auf den Weg nach Hause. Chris war froh, dass er ziemlich nah bei seiner Arbeitsstätte wohnte und nicht nochmal in ein Auto steigen musste. Die Straßen waren inzwischen dick verschneit, Weihnachten konnte kommen. Hilde würde Augen machen, diesmal hatte er es geschafft. Er war pünktlich fertig geworden, würde rechtzeitig zum Abendessen am Tisch sitzen und hatte damit die Wette gewonnen. Voller Vorfreude griff er in die Hosentasche, um ihr per Smartphone anzukündigen, dass sie den Sekt kaltstellen sollte, und erschrak. Die Tasche war leer. Chris fasste in alle Taschen, auch wenn er das Handy eigentlich immer in der Hosentasche verstaute. Nichts. Er blieb stehen und dachte nach. Wo hatte er das Teil zuletzt genutzt? Es dauerte einen Moment, dann fiel es ihm ein. Bei der alten Frau Müller, er hatte mit ihr zusammen ihren Sohn angerufen, damit sie sich bei ihm für das Weihnachtspäckchen bedanken konnte. Das war für Chris, egal wie sehr er unter Zeitdruck kam, wichtig und auch Tradition, seitdem Frau Müller ihn das erste Mal darum gebeten hatte, vor ungefähr zehn Jahren. Sie konnte schon damals nichts mehr sehen, und für ihn war es ein leichtes, ihr bei dem Telefonat zu helfen. Ihr strahlendes Lächeln war ihm Dank und Freude genug. Wenn er danach dann etwas schneller fahren musste, war es eben so. Oder wenn er dann eben auch mal zu spät zum Weihnachtsessen kam. Weihnachtsessen - Chris klatschte sich mit der Hand an die Stirn. Verdammt, jetzt war es fraglich, ob er es noch schaffte. Mit großen Schritten eilte Chris zurück zu seinem Dienstwagen. Mit viel Glück würde das Smartphone da drin liegen, mit viel Pech müsste er nochmals zu Frau Müller.
Das Auto war schon unter einer Schneedecke verschwunden. Chris seufzte und wischte dann mit seinen Ärmeln das weiße Nass von der Autotür, sodass er diese öffnen konnte, ohne dass das Auto von drinnen feucht wurde. Wenn er das Handy jetzt schnell finden würde, könnte er es noch immer schaffen und Hilde überraschen. Chris beugte sich vor und suchte die Fahrerkabine ab. Nichts. Eventuell hinten, auch wenn er sich sicher war, dass er es hätte hören müssen, wenn sein Handy auf die Ladefläche gefallen wäre. Mit einem verzweifelten Blick auf die Uhr kletterte Chris in das Auto und ging dann in den hinteren Teil des Kleintransporters. Da, unter dem rechten Regal lag etwas. Er bückte sich und stockte mitten in der Bewegung. Neben seinem Smartphone lag ein winziges Paket. Wie konnte das angehen? Chris war sich sicher gewesen, wirklich alles ausgeliefert zu haben. Er nahm beides hoch. Noch während er sein Handy in die Tasche steckte, schaute er auf den Empfänger. Alexandra Birchel, Kinderkrankenhaus Sternenschweif, Brunnenstraße 25, der Rest war unleserlich, die Tinte zerlaufen, da das Päckchen offensichtlich nass geworden war. Chris drehte das Päckchen um. Absender war Oma Adlea Birchel. Für den Bruchteil einer Sekunde kam Chris Versuchung, das Päckchen wieder unter das Regal zu schieben, dann holte er tief Luft. Kinderkrankenhaus Sternenschweif. Chris kannte die Straßen seiner Stadt auswendig, sodass er wusste, dass dieses Krankenhaus nicht weit weg von ihm war. Ihm war auch bewusst, dass Alexandra eventuell nie wieder ein Päckchen erhalten würde, deshalb schämte er sich für seine Gedanken und darüber, kurz in Versuchung gekommen zu sein.
Sicher, er hatte jetzt eigentlich Feierabend. Es würde ihm auch niemand Vorwürfe machen, wenn mal ein Päckchen nicht ankäme, außer er sich selbst. Nein, sein Weg lag klar vor ihm.
Chris ging wieder in die Fahrerkabine, legte das Päckchen auf den Beifahrersitz, stieg aus und befreite den Transporter vom Schnee. Dann rief er Hilde an: »Schatz, es tut mir leid. … Ja, du hast gewonnen, ich schaffe es wiedermal nicht, aber ich bin sicher, dass du mich verstehst. Ich erzähle es dir nachher. Ach, das Essen ist sowieso erst in einer Stunde fertig? Was soll ich sagen, du kennst mich eben doch recht gut. Ich liebe dich auch, bis später.«
Eine Stunde, das schaffte er locker, trotz des Schnees. Chris fuhr los und freute sich schon auf die strahlenden Kinderaugen.
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Wer mag, kann sich diese Geschichte auch anhören oder jemanden vorspielen.
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Ich wünsche viel Freude daran und eine schöne Vorweihnachtszeit.