So habe ich mir den Tag eigentlich nicht vorgestellt. Kortis schaute zu seiner Freundin auf, während sie anscheinend leichten Schrittes auf dem Pfad wanderte, der sich zwischen den Bergen vor ihnen erstreckte.
„Wie weit ist es denn noch?“
Isana dreht sich um und lächelte verschmitzt. „Was, bist du schon außer Puste?“
„Natürlich nicht“, antwortete er sofort und hoffte dabei, dass Isana das Schnaufen nicht auffallen würde. „Du meintest, du müsstest mir unbedingt kurz was zeigen. Kurz heißt aber nicht, dass wir einen Ausflug in die Berge machen, weißt du?“
Isana blieb stehen und ließ Kortis aufschließen, das Lächeln war nicht aus ihrem Gesicht verschwunden. „Stell dich nicht so an. Du wirst schon sehen, es wird sich lohnen!“
Kortis bemerkte, wie aufgeregt Isana war. Sie blieb keine Sekunde still stehen, und in ihren grünen Augen funkelte es unaufhörlich.
Er kannte Isana schon von Kindesbein an. Früher waren sie oft zusammen von Zuhause weggelaufen und hatten sich in den Wäldern rund um ihr Heimatdorf versteckt, um ihre Eltern in den Wahnsinn zu treiben. Wenn er so daran zurückdachte, tat es ihm heute schon irgendwie Leid, aber früher hatte er das alles für einen großen Spaß gehalten und war seiner Freundin überall hin gefolgt. Schon als Kind hatte sie den Schalk im Nacken sitzen, hatte ihm oft Streiche gespielt oder ihn als Sündenbock für Missetaten hingestellt. Aber er hatte nie aufgehört sie zu mögen, oder war ihr böse gewesen.
Während sie ihren zwanzigsten Sommer erlebte, hatte er heute seinen achtzehnten erreicht. Vor ein paar Monaten hatte er seine Ausbildung zum Soldaten begonnen, um einen Platz in der Stadtmiliz zu ergattern. Und genau dafür sollte ich eigentlich gerade trainieren.
Früher hatte er sich vorgenommen, Soldat in der Armee zu werden und dort in den Rängen aufzusteigen und Karriere zu machen, wie sein Vater vor ihm. Aber je mehr Jahre ins Land gingen, bemerkte er, dass er sich nicht von Isana lösen konnte. Oder besser gesagt; er wollte sich nicht von ihr lösen. Er spürte das Verlangen, in ihrer Nähe zu sein, doch dass es Liebe war, stritt er in Gedanken weiterhin ab. Auch in der Miliz ist es gefährlich, und ich will nicht, dass sie wegen mir in Gefahren mit hineingezogen wird.
Aber er wusste, dass er seiner Freundin keine Bitte abschlagen konnte.
So auch nicht heute Morgen, als sie plötzlich an seinem freien Tag bei ihm vor der Tür stand und aufgeregt meinte, dass er sie unbedingt begleiten müsste.
„Würdest du mir dann zumindest verraten, wohin du mich verschleppst?“, fragte er einige Zeit später und lehnte sich gegen einen der grauen Felsen. Er brauchte eine kurze Pause.
Isana lehnte sich neben ihn und nahm einen Schluck Wasser aus ihrer Flasche, bevor sie sprach. „Vor einigen Tagen habe ich während einer Wanderung einen See in den Bergen entdeckt.“
„Du bringst mich zu einem See?“ Er schaute sie etwas fassungslos an, doch sie hob den Finger und unterbrach ihn, bevor er weitersprechen konnte.
„Hör mir doch erst mal zu. Ja, ich bringe dich zu einem See, aber sicher nicht, um dir das Wasser zu zeigen.“ Sie machte eine kurze Pause, um die Worte wirken zu lassen. „In dem See lebt etwas. Und das will ich dir zeigen.“
„Da lebt etwas?“
„Genau.“
„Ja und was?“
Sie lachte und verstaute ihre Wasserflasche wieder an ihrem Gürtel. „Dummerchen. Wenn ich dir das verrate, wäre doch die Überraschung verdorben. Und außerdem würdest du mir das sowieso nicht glauben.“
„Lass es doch auf einen Versuch ankommen“, versuchte er sie zu locken. Doch sie schüttelte nur den Kopf, wobei ihre hellbraunen Haare ihr ins Gesicht fielen, die sie mit einem Pusten aus dem Sichtfeld verscheuchte.
„Guter Versuch, aber du wirst dich gedulden müssen.“ Sie ging an ihm vorbei und streifte dabei mit ihrer Hand über seinen Arm.
Ein wohliger Schauer überkam ihn und ließ Kortis innehalten, bevor er sich in Bewegung setzte und ihr weiter folgte. Wohl war ihm dabei trotzdem nicht.
Natürlich vertraute er ihr. Sie kannte sich besser als sonst jemand mit der Natur aus. Immer wieder klärte sie ihn über Tiere und Pflanzen auf, von denen er nie etwas in seinem Leben gehört oder gesehen hatte. Und während er für seine Ausbildung trainierte, arbeitete sie in den Gärten und half auf den Feldern mit, vor allem während der Erntezeit.
Auf der anderen Seite wusste er, dass sie es auch gerne mal übertrieb. Sie liebte das Abenteuer, und mehr als ein Mal war er ihr schon zur Hilfe geeilt, wenn sie sich mal wieder in Gefahr gebracht hatte.
Doch immer, während im das Herz in die Hose zu rutschen schien und er sich Sorgen um sie machte, lachte sie ihn an, dankte ihm für die Hilfe und bereitete im Kopf schon das nächste Abenteuer vor.
Und irgendwie wusste er, dass er wieder da sein würde, um ihr zu helfen, wenn sie ihn brauchte.
Nach knapp einer halben Stunde kamen Kortis und Isana an dem See an, den sie während ihrer Wanderung entdeckt hatte.
Bei dem See handelte es sich im eine tiefe Senke im Gestein, welche mit Massen an klarem Wasser gefüllt war, das dem Wasserfall weiter oben im Gebirge entsprang und als kleiner Sturzbach hier her verlief.
Isana schaute in den Himmel und prüfte den Stand der Sonne. „Gleich müsste es soweit sein. Komm her!“
Kortis sah, wie Isana sich hinter einen hohen Felsen kauerte und tat es ihr gleich.
„Warum verstecken wir uns?“, fragte er, etwas stutzig über ihr plötzlich so vorsichtiges Verhalten.
Sie zögerte kurz und kaute verlegen auf ihrer Unterlippe, dann sah sie ihn mit ihren grünen Augen direkt an. „Naja, es könnte sein, dass das Wesen vielleicht nicht ganz ungefährlich ist, und-“
„Ich wusste es!“, unterbrach er sie aufgebracht und stand dabei aus seiner Hocke auf. „Also worauf habe ich mich da jetzt wieder eingelassen? Was soll das heißen, nicht ganz ungefährlich? Worum handelt es sich denn jetzt?“
Er zeterte weiter, obwohl er den leicht panischen Ausdruck in den Augen seiner Freundin sah, die ihn immer wieder versuchte zu unterbrechen.
Als Isana nicht mehr wusste, wie sie Kortis zum Schweigen bringen sollte, zog sie ihn an seinem Arm herunter und küsste ihn auf die Lippen.
Kortis Körper war wie versteinert, während seine Gedankenwelt zu explodieren schien. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt, ein wohliger, aber ungewohnter Schauer lief über seinen Rücken.
Isana löse den Kuss langsam und hielt ihm den Zeigefinger vor die Lippen. „Du musst jetzt ruhig sein. Versprich mir das, Kortis. Du wirst es auch nicht bereuen“, bat sie ihn eindringlich, und Kortis nickte stumm, noch immer überrascht von dem plötzlichen Kuss.
In diesem Moment erkannte er, dass es sinnlos war, gegen seine Gefühle anzukämpfen. Er wusste, dass er eine Gefahr für sie darstellen könnte, sobald er bei der Miliz einen Platz bekam. Gleichwohl war er sich seiner Gefühle Isana gegenüber bewusster als je zuvor. Aber wie sage ich ihr das am besten? Was, wenn sie gar ein Interesse an einer richtigen Beziehung mit mir hat?
Doch bevor die Zweifel ihn übermannen konnten, spürte er, wie ihre Hand sich sanft auf seine legte.
Er schaute erst auf ihre Hand, dann in ihr Gesicht, und in ihrem Blick meinte er die gleichen Gefühle sehen zu können, zusammen mit der Bitte, das auf später zu verlegen.
Kortis atmete tief durch und versuchte sich zu entspannen. Sinnlos, sich jetzt diese Gedanken zu machen.
„Schau. Es ist soweit“ sagte Isana leise. Die Aufregung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Kortis schaute auf den See und entdeckte, dass das Wasser in Bewegung geriet. Erst waren es leichte Wellen, die von der Mitte des Sees ausgingen, dann geriet das Wasser immer mehr in Wallung, bis plötzlich etwas Gewaltiges daraus empor in Richtung Himmel schoss.
Sie gingen hinter dem Felsen in Deckung, als das Wasser gegen die andere Seite schlug. Dann spähte Kortis über den Rand ihres Verstecks. Sein Atem stockte, als er erkannte, was sich dort am Himmel über ihnen entfaltete.
Weit über ihnen breitete ein Drache seine Flügel aus. Wasser floss über seinen Schuppenpanzer, der in den verschiedensten Blautönen im Licht der Sonne schillerte. Nur sein Bauch schien in einem Weiß, welches die beiden Menschen am Boden blendete. Sein gewaltiger Kopf bewegte sich langsam, während seine Augen, die wie Saphire funkelten, ihren Blick über das Land unter ihm schweifen ließen.
Ein Drache. Es ist ein Drache. Kortis war unfähig, klar zu denken, während er die Hand seiner Freundin drückte und mit ihr zusammen dem majestätischen Wesen zuschaute, wie es mit den Flügeln schlug und einen lauten Schrei ausstieß. In dem herabfallenden Wasser bildete sich ein kleiner Regenbogen, der im See zu versinken schien.
Für einen erschreckenden Moment befürchtete Kortis, der Drache könnte sie doch noch bemerkt haben, und hielt den Atem an. Doch dem war nicht so, der Drache hatte sie nicht bemerkt. Und falls doch, so interessierte er sich nicht für die zwei Menschen. Erleichtert atmete Kortis aus.
Der Drache gewann immer mehr an Höhe, und als sie meinten, dass er nun weit genug entfernt wäre und sie nicht mehr entdecken könnte, trauten sie sich aus ihrem Versteck heraus. Hand in Hand standen sie vor dem See, dessen Oberfläche sich nun langsam wieder beruhigt hatten, und beobachteten den Drachen, der immer kleiner wurde und sich bald als schwarzer Fleck von der Sonne abhob, die auf Kortis und Isana herab schien.
„Ein Drache“, flüsterte Kortis leise. Noch immer konnte er nicht so recht begreifen, was er gerade gesehen hatte.
„Wunderschön, oder?“ Isana drehte sich zu ihm und lächelte ihn an.
Kortis schaute ihr seinerseits direkt in die Augen ohne zu wissen, was er sagen sollte. Stattdessen schloss er Isana in seine Arme und küsste sie sanft. Sie wehrte sich nicht.
Niemand darf je von diesem Drachen erfahren. Die Menschen würden Angst bekommen und ihn jagen. Vor allem die Milizen hier, dachte er, während er langsam den Kuss löste und sah, dass Isanas Wangen gerötet waren. Und er scheint ihr auch etwas zu bedeuten.
Ihr schelmisches Grinsen hatte sich in ein schüchternes Lächeln verwandelt. Erwartungsvoll blickte sie ihn an.
Er beschloss, dass der Drache und dieser See ihr ewiges Geheimnis bleiben würden und genoss den Moment mit seiner Freundin in vollen Zügen.