Beitrag zur Sixty-Minutes-Challenge zum Prompt "Glühwein"
Rostock 2006
„Warum haben Weihnachtsmärkte eigentlich nach dem Dezember geschlossen?“ Fabi stellte die Tasse vor ihr ab und setzte sich seiner Schwester gegenüber. „Jetzt ist es viel winterlicher.“
Anna lächelte. „Wegen dem entscheidenden Wörtchen Weihnachten.“ Mit den Händen umfasste sie das Getränk und genoss die wohltuende Wärme, die durch ihre Finger rann. Insgeheim war sie jedoch seiner Meinung. Über das Schneegestöber hätte sie sich schon im Dezember während der Weihnachtsferien gefreut und nicht während der Prüfungsphase, wo die Busse regelmäßig Verspätung hatten und ihre Lerngruppen krankheitsbedingt kaum mehr existent waren.
„Wenn du im Dezember da gewesen wärst, hätten wir zusammen auf den Weihnachtsmarkt gehen können. Es hätte dir gefallen.“
Fabi spürte den Vorwurf in ihrer Stimme und sein Gesicht nahm jenen abweisenden, verkniffenen Ausdruck an wie immer, wenn er sich unter Druck gesetzt fühlte und an unangenehme Verpflichtungen erinnert wurde.
Sie starrte ihre Tasse mit Glühwein an. „Aber du musst zugeben, dass der Glühwein hier herausragend ist.“
Fabi griff nach seiner Tasse und nahm einen Schluck, als hätte er es zuvor vergessen. „Wirklich lecker“, murmelte er und lächelte schwach. Es hätte auch Wasser sein können. Er hätte das gleiche gesagt.
Sie beugte sich über den Tisch des kleinen Cafes und berührte ihn sanft am Arm. „Wie geht es dir?“
„Sehr gut.“
Anna verdrehte die Augen. „Ich bin begeistert über deinen Mitteilungsdrang. Es ist selten genug, dass wir uns sehen, da kannst du ruhig etwas mehr erzählen. Wie geht es Nesrin? Und Avedis?“
Ein schwaches Lächeln zog über das Gesicht ihres fünf Jahre älteren Bruders. „Ihnen geht es sehr gut. Avedis hat in letzter Zeit einen gewaltigen Schuss gemacht und erkundet mit Freude die Welt. Er liebt alles, was sich bewegt. Bälle, umfallende Klötze und Tiere. Neulich hatten wir Freunde mit einem Hund da. Er konnte sich gar nicht an ihm sattsehen und ist immer wieder zu ihm hingekrabbelt.“
„Läuft er schon?“ Anna dachte an das letzte Mal, als sie ihren Neffen gesehen hatte. Ein so munteres und fröhliches Bürschlein! Es war schade, dass ihr Bruder in Bayern und damit so weit entfernt wohnte. Sie war enttäuscht gewesen, als er sich alleine und ohne seine Familie angekündigt hatte. Zwar mochte sie seine Ehefrau nicht, aber ihren Neffen vergötterte sie. Anna nahm noch einen Schluck von ihrem Glühwein und beobachtete wie Fabian weiter von seinem Sohn erzählte. Sie liebte es, wenn er begeistert von etwas war und seine Emotionen offen zeigte. Es geschah so selten, dass sie jeden Moment einsaugte.
„Ab und an geht er an der Hand, aber alleine noch nicht.“
„Das freut mich für dich“, meinte sie. „Es freut mich, dass du glücklich bist.“
Fabi runzelte die Stirn und stützte die Hände auf den Tisch. „Ja, ich bin glücklich.“
Anna musterte ihn. „Und dennoch ist doch etwas. Irgendetwas liegt dir auf dem Herzen.“
Ihr Bruder senkte den Blick und starrte auf seinen Ehering, den er in der Hand hin und her drehte.
„Nesrin ist schwanger“, murmelte er schließlich.
Sie schlug die Hände vor den Mund. „Fabian! Und das verheimlichst du den ganzen Tag vor mir? Herzlichen Glückwunsch!“
Sie schob den Stuhl zurück, stand auf und ging um den Tisch herum. Dann schloss sie ihren Bruder, der immer noch saß, von oben in die Arme. Als sie merkte, dass er ihre Umarmung nur passiv wahrnahm und sie nicht entgegnete, trat Anna einen Schritt zurück.
„Hast du es Mama und Papa bereits gesagt?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Wissen sie, dass du hier bist?“
Wieder schüttelte Fabian den Kopf.
Die fröhliche und unbeschwerte Atmosphäre schien vergangen zu sein. Der Gedanke an ihre Eltern hatte all das zurückgebracht, vor dem Fabi in den Süden und – in Annas Augen – in eine unüberlegte Ehe geflüchtet war.
Aber Anna würde ihn nicht bedrängen. Es war seine Entscheidung und sie akzeptierte sie, auch wenn sie diese schmerzte.
„Und Katha?“ Ihre jüngere Schwester wohnte noch bei ihren Eltern in der Nähe von Schwerin.
Anna ging an ihm vorbei und setzte sich wieder.
Dieses Mal nickte Fabi. „Ich habe ihr geschrieben. Wir treffen uns am Wochenende in Schwerin.“
Müde griff er nach seiner Tasse und nahm einen Schluck. Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen.
„Aber reden wir nicht länger davon. Wie geht es dir?“ Er lächelte um den Mund, nicht um die Augen. Dort herrschte eine Traurigkeit, die selten verschwand. „Ich sollte für dich da sein und du nicht für mich. Du bist genug für alle da gewesen, kleine Schwester.“
Du bist genug für alle da gewesen. Dieser Satz hallte in ihren Gedanken nach. Vielleicht musste ich es, weil du nie für uns da gewesen bist, Fabi, dache sie, Du warst nie der ältere Bruder, den ich gebraucht hätte. Es war kein anderer da, der für die anderen da gewesen wäre. Nur ich. Ihr Glühwein wurde kalt. Sie trank trotzdem davon. Zugleich wusste sie, dass es unfair war, ihm die Schuld zu geben. Er hatte nur versucht, sich zu schützen. Und dennoch sprach sie es aus. Sie hatte es ihm nie vergeben können.
„Ich bin da, Fabi“, entgegnete sie und sah ihn an, „Und nicht weggelaufen.“
Seine Hand langte über den Tisch und umfasste die ihre. Überrascht musterte sie ihn. „Ja und es hat dich zerstört.“
Abrupt zog sie die Hand zurück. Dabei prallte ihr Ellenbogen gegen ihre Tasse und warf sie um. Kalter Glühwein ergoss sich über die Tischdecke. Rot auf Weiß.
„Seit wann interessierst du dich für mein Leben?“, zischte Anna. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten. Eilig griff sie nach Servierten, beugte sich über die Pfütze und wischte den Glühwein auf. „Du hast es seit deiner Flucht nicht getan, also musst du jetzt nicht damit anfangen.“
„Anna!“ Erneut griff er nach ihrem Handgelenk und zwang sie in ihrer Tätigkeit innezuhalten. Sie sah nicht auf. „Das ist nicht fair. Und das weißt du. Ich…“ Sie konnte die heftigen und schnellen Atemzüge ihres Bruders über all die Gespräche an den Nachtbartischen hören. „Ich…hatte meine Gründe. Und mir ist es wichtig, wie es dir geht. Ich interessiere mich für dich. Weißt du, wie stolz ich war, als du mit deinem Studium begonnen hast?“ Fabian war mit jedem Wort schneller geworden. Und endlich hob sie den Blick und sah ihn an. Ihren Bruder.
„Ich weiß“, flüsterte sie leise. Sie seufzte. „Deshalb wollte ich mit dir sprechen.“
„Weshalb?“ Er runzelte die Stirn und ließ ihr Handgelenk los.
Anna schüttelte den Kopf. „Nicht hier.“ Sie war dankbar dafür, dass Fabi sofort verstand und nach der Bedienung winkte.
Sie bekam kaum mit, wie er zahlte und die Bedienung um Entschuldigung für den verschütteten Glühwein bat. In ihrem Mantel stand sie an der Tür und wartete auf ihren Bruder.
Wenig später schritten sie durch die Stadt. Ein leichtes Schneetreiben herrschte und Anna steckte ihre Hände in ihre Jackentaschen, weil sie die Handschuhe wieder einmal vergessen hatte. Hier draußen fühlte sie sich weniger bedrängt und beobachtet als in dem engen Cafe.
„Also, was ist los?“, griff Fabi ihr Gespräch wieder auf.
Anna biss sich auf die Unterlippe. „Ich breche mein Studium ab.“ Es war hinaus. Nun, wo sie ihn ausgesprochen hatte, wurde ihr bisher nur im Geheimen getroffener Entschluss plötzlich real.
Für einen Augenblick waren nur ihre Schritte und das Rauschen der Autos zu hören.
„Sehr gut.“
„Was?“ Verblüfft blickte sie ihren älteren Bruder an. Mit der Antwort hatte sie nicht gerechnet. „Ich dache, du wärst froh, über meine Entscheidung zu studieren.“
„Ich bin froh darüber, dass du studiert hast, ausgezogen bist und Erfahrungen fern von zuhause gesammelt hast. Dass das Studium nichts für dich ist, wusste ich schon immer.“ Er lachte. „Architektur, Anna. Ich weiß noch, wie stolz Papa es verkündet hat und wie du daneben standest. Du hast gezweifelt, ich habe es gesehen.“
„Bist du nicht enttäuscht, Fabi?“
Er legte den Arm um sie. „Wieso sollte ich das? Du bist meine kleine Schwester und ich möchte, dass du deinen eigenen Weg gehst. Nicht den, den Papa, Mama oder andere am liebsten sehen würden.“ Er sah auf sie hinab. „Deinen Weg, Anna. Du musst nicht die Verantwortung für die Leben anderer übernehmen, aber ich möchte, dass du Verantwortung für dein eigenes übernimmst. Versprich mir das, Anna.“
Mit einem Lächeln lehnte Anna ihren Kopf gegen seine starke Schulter. „Ich versprech’s.“
Trotz all der Differenzen und der Entfernung war Fabi eben immer noch ihr Bruder.
Und sie liebte ihn.