Diese Geschichte ist Teil des Adventskalenders von Riley Mcforest und Vampire's Lair.
Hier findet ihr die anderen Geschichten:
https://belletristica.com/de/books/39315-adventskalender-2021/
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Sehnsüchtig schaute Amelie aus dem Fenster. Würde ihr Weihnachtswunsch dieses Jahr endlich erfüllt werden?
Seufzend wandte sie sich ab und blickte in den festlich geschmückten Raum. Sie hatte sich so große Mühe gegeben, um für ihn alles perfekt zu machen. Die Frage war nur, ob sie es wieder einmal vergeblich getan hatte.
Langsam ging sie zum Kamin und strich sacht über den Rahmen ihres letzten gemeinsamen Fotos. Sie stand Arm in Arm mit einem lachenden jungen Mann da und trug nicht nur ein hübsches Sommerkleid, sondern auch ein glückliches Lächeln.
O Gott! Ist es wirklich schon so lange her?, dachte sie traurig und wischte sich eine Träne fort.
Drei Jahre waren mittlerweile vergangen, seitdem sie ihren Bruder Mark das letzte Mal gesehen hatte. Danach war er zu einer Weltreise aufgebrochen. Anfangs war der Kontakt noch rege und neben vielen Postkarten tauschten sie sich auch digital oft aus. Doch irgendwann wurden die Nachrichten weniger, bis sie vor zwei Jahren schließlich ganz versiegten.
Die meisten dachten, Mark wäre verunglückt oder hatte sich abgesetzt, um irgendwo ein neues Leben zu beginnen. Amelie konnte und wollte keine der beiden Möglichkeiten in Betracht ziehen. Sie war der festen Überzeugung, dass Mark irgendwo da draußen war und zu ihr zurückkommen würde. Er war die einzige Familie, die sie noch hatte, und die junge Frau wusste nicht, warum ihr Bruder ihr so plötzlich den Rücken hätte kehren sollen. Sie standen einander sehr nah und redeten über alles.
*
Als der Abend langsam in die Nacht überging, war Amelie der Verzweiflung nahe.
Er kommt nicht, dachte sie resigniert und unterdrückte ein Schluchzen.
Vielleicht sollte ich der Tatsache ins Auge sehen, dass Mark nicht zurückkommt … Bei diesem Gedanken zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. Dann bin ich ganz alleine …
Amelie löschte das Licht, bis auf die alte hölzerne Pyramide mit den kleinen Schneemännern, und ließ sich am Fenster nieder. Überrascht sah sie auf die dicken weißen Flocken, die sanft vom Himmel schwebten. Mark hatte den Schnee geliebt, sodass sie vor allem als Kinder oft draußen unterwegs gewesen waren.
„Ach, was würde ich nicht alles geben, um dich endlich wiederzusehen“, murmelte sie.
*
Ein Klingeln ließ sie hochschrecken. Verwirrt blinzelte sie und strich sich die dunklen Haare aus dem Gesicht.
„Bin ich eingeschlafen?“
Sie erschrak, als sie ihr blasses Abbild mit den deutlichen Augenringen in der dunklen Fensterscheibe sah.
„Ich muss dringend ist Bett“, murmelte sie und stand auf. Plötzlich klingelte es erneut. Amelies Herzschlag beschleunigte sich.
Könnte mein Wunsch doch in Erfüllung gehen?
Auf leicht wackeligen Beinen lief sie zur Tür. Kurz überlegte sie, durch den Türspion zu schauen, doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Wer, wenn nicht Mark, sollte denn sonst mitten in der Nacht vor ihrer Wohnung stehen?
Voller Hoffnung öffnete sie die Tür, den Namen ihres Bruders schon auf den Lippen. Als sie jedoch aufblickte, stand ein unbekannter Mann vor ihr.
„Oh“, sagte sie enttäuscht und schluckte.
„Bitte entschuldigen Sie die späte Störung. Sind Sie Amelie Bernad?“, fragte dieser.
Sie nickte. „Ja, warum wollen Sie das wissen?“
Der Fremde wirkte erleichtert. „Endlich! Ich suche schon seit einer halben Ewigkeit nach Ihnen.“
Amelie runzelte die Stirn und fragte sich, was so wichtig sein konnte, dass jemand zu so später Stunde bei fremden Leuten klingelte.
„Das ist ja schön, aber weswegen?“
„Oh, Entschuldigung. Ich vergesse meine Manieren. Mein Name ist Erik Mikalson. Ich bin ein Freund ihres Bruders Mark.“ Mit diesen Worten zog er ein kleines Päckchen aus seiner Jackentasche und übergab es Amelie.
Ihr rutschte das Herz in die Hose. Mit zitternden Händen nahm sie das Paket an sich.
„D-danke! Aber wo ist mein Bruder? Geht es ihm gut?“
Der Fremde lächelte ihr aufmunternd zu und wandte sich zum Gehen. „Schauen Sie in Ihr Geschenk. Ich denke, es dürfte zumindest einige Ihrer Fragen beantworten. Gute Nacht!“
Völlig verdattert blickte sie ihm hinterher. „Gute Nacht …“
Die junge Frau schloss die Tür und ging zum Sofa. Dort betrachtete sie das Päckchen, das tatsächlich wie ein kleines Geschenk aussah.
„Was bedeutet das?“, murmelte sie. „Lebt Mark wirklich oder erlaubt sich jemand einen bösen Scherz mit mir?“
Vorsichtig öffnete sie das Paket und entdeckte als erstes einen Briefumschlag mit ihrem Namen darauf. Als sie die Schrift erkannte, beschleunigte sich ihr Puls.
Mark!
Schnell öffnete sie den Brief und beim Lesen liefen ihr Tränen über die Wangen.
Er lebt!
Offenbar hatte ihr Bruder beim Wandern einen schweren Unfall gehabt, von dem er sich nur sehr langsam erholte. Leider war er auch nicht in der Lage gewesen, Amelie zu kontaktieren. Nun war ihm das über Erik gelungen, doch ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als sie die nächsten Zeilen las.
Ich würde dich gern sehen, doch der Unfall hat mich sehr verändert. Gerade bin ich mir nicht sicher, ob du den, der ich jetzt bin, noch als deinen Bruder lieben könntest …
„Was für ein Unsinn! Natürlich bist und bleibst du mein Bruder, du Blödi!“, schimpfte Amelie leise. „Mir ist egal, ob du nur noch ein Bein hast oder vernarbt bist. Ich liebe dich, egal, wie du aussiehst oder welche Probleme du hast!“
Wenn du mich treffen möchtest, dann komm morgen nach Sonnenuntergang zu unserem Lieblingsplatz. Ich werde dort auf dich warten.
In Liebe, Mark
Fassungslos starrte sie auf diese kryptischen Zeilen. Warum kam Mark nicht einfach zu ihr? Was sollte diese ganze Heimlichtuerei?
Mit zitternden Händen griff sie nach dem anderen Gegenstand, der sich im Päckchen befand. Eine bunte Wollmütze mit Bommel lag darin, die ihre letzten Zweifel zerstreute. Als Teenie hatte Amelie Mark diese Mütze geschenkt. Obwohl sie wirklich keine Schönheit war, hatte ihr Bruder sie stets voller Stolz getragen.
Ihre Entscheidung war getroffen: Mark lebt! Ich muss ihn unbedingt sehen.
*
Nervös ging Amelie die letzten Schritte zum vereinbarten Treffpunkt, dem kleinen See neben der Klosterruine. Ihre Taschenlampe und der Vollmond spendeten genug Licht, um die Umgebung zu erhellen. Mauerreste ragten in die Höhe und die weißbemützten Bäume wiegten sich sacht im Wind. Der Schnee der vergangenen Nacht war geblieben und so schien alles sanft im Mondschein zu leuchten.
Erinnerungen stürmten auf sie ein und es war, als könnte sie sich selbst und ihren Bruder wie in einem Film direkt vor sich sehen. Sie wusste nicht mehr, wie oft sie diesen Ort aufgesucht hatten, den die meisten Dorfbewohner wegen der düsteren Geschichte mieden. Mark und sie hatte die Sage des schwarzen Ritters, der angeblich des Nachts durch die alte Klosteranlage spuken sollte, mehr fasziniert als abgeschreckt.
Vielleicht lag es auch daran, dass sie genauso einsam und verlassen waren wie der Ritter, der angeblich auch nach Jahrhunderten noch den Tod seiner heimlichen Geliebten betrauerte und nach Rache strebte.
Unzählige Male hatten sie hier im Tageslicht, aber auch in so mancher warmen Sommernacht verbracht, waren in dem kleinen See geschwommen oder hatten einfach nur in trauter Zweisamkeit über Gott und die Welt geredet. Nie hatte ein Geheimnis zwischen Amelie und ihrem Bruder gestanden, weshalb sie der plötzliche Kontaktabbruch und diese merkwürdige Nachricht verwunderten.
„Was ist nur mit dir passiert, Mark?“, flüsterte sie.
„Das ist schwierig zu erklären“, antwortete eine wohlbekannte Stimme.
Erschrocken wirbelte Amelie herum und sah eine Gestalt, die ihr vertraut und gleichzeitig seltsam fremd vorkam.
„Mark!“, rief sie und rannte auf ihren Bruder zu, um ihn zu umarmen. Glücklich vergrub sie ihr Gesicht an seiner Brust, die von einer dicken Jacke bedeckt war, und wagte nicht, ihn loszulassen, aus Angst, er würde sich in Luft auflösen.
Ihr Bruder zögerte einen Herzschlag, bevor er die Arme hob und sie ebenfalls umarmte. Amelie hörte, wie er zitternd einatmete.
„Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“, fragte sie und konnte nicht verhindern, dass ein leichter Vorwurf in ihrer Stimme mitschwang.
Mark ließ sie los und schob sie sanft ein Stück von sich. Amelie schaute ihn das erste Mal wirklich an. Selbst in dem wenigen Licht, dass der Mond spendete, konnte sie erkennen, dass ihr Bruder sich verändert hatte. Sein Gesicht war schmaler geworden, ein leichter Bartschatten lag auf seinen Wangen und seine grünen Augen schienen seltsam zu leuchten.
„Das lässt sich schwer erklären“, begann er. „Ich bin beim Gletscherwandern in eine Felsspalte gerutscht. Mein Bein war gebrochen und ich klemmte tagelang fest. Es war unglaublich kalt und irgendwann war ich zu schwach, um nach Hilfe zu rufen.“
„O mein Gott!“
Entsetzt schlug Amelie die Hände vor den Mund. Schon viel zu oft hatte sie davon gehört, dass Wanderer in Bergen und Gletschern ums Leben kamen. Jedes Mal, wenn Mark zu einer seiner Touren aufgebrochen war, hatte sie gebetet, dass er heil zu ihr zurückkommen würde.
„Wie hast du das überlebt? Hat dieser Erik dich gerettet?“
Ihr Bruder senkte den Blick und murmelte: „Ich habe es nicht überlebt, Amelie. Ich bin tot.“
Sie glaubte, sich verhört zu haben. „Quatsch! Du stehst doch hier vor mir! Ich kann dich berühren.“ Wie um ihre Worte zu bestätigen, ging sie zu ihm und umfasste seine Hände. „Du bist kein Geist, also kannst du nicht gestorben sein!“
„Ich wünschte, das wäre wahr, Schwesterherz. Wobei, ein Geist bin ich tatsächlich nicht.“
Als Mark aufschaute, stolperte Amelie entsetzt zurück. Seine sonst moosgrünen Augen waren plötzlich blutrot und unter seiner Oberlippe blitzte etwas Spitzes hervor, was dort definitiv nicht hingehörte. Der Griff um ihre Hände war nicht mehr sanft, sondern so fest, dass sie sich unmöglich losreißen konnte.
„Bitte, lass mich los!“, flehte sie und spürte Panik in sich aufsteigen. War das noch ihr Bruder oder ein Monster, dass sich seiner Gestalt bemächtigt hatte?
Vielleicht träume ich das alles nur und wache gleich auf.
Mark schüttelte bedauernd den Kopf. „Das kann ich nicht und es ist die Wirklichkeit, Amelie.“
„Willst du mich töten?“, fragte sie und begann zu zittern.
„Nein. Ich wollte einfach die Ungewissheit beenden, die dich seit zwei Jahren gequält hat.“ Er lachte freudlos. „In meiner Verzweiflung hatte ich gehofft, dass du ebenso wie alle anderen davon ausgehen würdest, dass ich tot bin.“ Er ließ eine ihrer Hände los und strich ihr sanft über die eiskalte Wange.
Eine Träne entfloh ihrem Auge. Wie sehr hatte Amelie sich gewünscht, dass Mark endlich zu ihr zurückkommen würde, aber nicht so! Ihr Bruder stand vor ihr, war ihr so nahe wie seit einer Ewigkeit nicht mehr und doch trübte die Furcht vor dem, was er war, nun die Freude, wieder mit ihm reden zu können.
„Ich konnte dich einfach nicht aufgeben“, gestand sie. „Ein Leben ohne dich an meiner Seite wollte ich mir nicht vorstellen. Du bist doch alles, was ich noch habe …“
Mit einem unglücklichen Seufzer zog Mark sie an sich und bettete ihren Kopf an seiner Brust. „Ich weiß. Nur deswegen verstoße ich gegen die Regeln, die meine neue Existenz bestimmen.“
Amelie vergaß ihre Angst. Das hier fühlte sich so gut an, wie früher. Wenigstens für diesen Moment wollte sie ihre Einsamkeit vergessen, das Loch in ihrem Herzen stopfen, dass Marks Verschwinden hineingerissen hatte.
„Und nun?“, flüsterte sie nach einer Weile, die sie schweigend verbracht hatten, ohne ihre Umarmung zu lösen.
„Ist das hier ein Abschied?“ Zögerlich sah sie zu ihm hoch und war froh, dass er wieder menschlich wirkte.
„Das sollte es sein“, antwortete er betrübt. „Die Welt, in der ich lebe, duldet keine Vermischung zwischen Menschen und uns. Aber ich bringe es einfach nicht übers Herz, dich endgültig zu verlassen.“
„Können wir uns nicht wenigstens ab und zu sehen? Es muss doch niemand erfahren.“ Amelie holte tief Luft. „Du bist immer noch mein Bruder, Mark. Mir egal, ob du ein Mensch bist oder nicht. Wichtig ist doch, wie es hier drin aussieht.“ Bei diesen Worten legte sie eine Hand auf seine Brust, dort, wo sich sein Herz befand.
Gerührt bedeckte Mark ihre Hand mit seiner. „Ich habe dich vermisst, Schwesterchen. Du ahnst nicht, wie sehr.“
Sie streckte ihm die Zunge heraus. „Ich habe da so eine leise Ahnung, du Scheintoter.“
Gemeinsam lachten sie, was Amelie unglaublich gut tat. Nach der langen Zeit der Trauer und Ungewissheit, fühlte sie endlich wieder diese Unbeschwertheit, die das Zusammensein mit Mark immer in ihr auslöste.
„Komm mit nach Hause. Wenigstens für diese eine Nacht im Jahr.“
„Du meinst, wir begründen eine neue Tradition?“ Mark ließ sie los und gemeinsam schlenderten sie durch den Schnee.
„Klar. Wer kann schon behaupten, mit einem Vampir um den Weihnachtsbaum zu sitzen?“
„Wohl die wenigstens.“ Mark lachte. „Solange du nicht damit hausieren gehst, sollte es in Ordnung sein.“
„Aber eine Extrawurst bekommst du nicht, mein Lieber“, witzelte sie. „Blut musst du dir außerhalb besorgen. Soweit geht meine Gastfreundschaft dann doch nicht.“
„Damit kann ich leben.“ Ihr Bruder legte ihr einen Arm um die Schultern. „Es ist schön, wieder zu Hause zu sein.“
Amelie lächelte ihn glücklich an. „Ich bin froh, dass du da bist.“
„Ich auch. Frohe Weihnachten, Schwesterherz.“