Diese Geschichte entstand im Rahmen des Adventskalenderprojekts 2021, das von Riley Mcforest geleitet wird. Vielen Dank, dass ich etwas dazu beitragen durfte.
Zum Projekt: https://belletristica.com/de/books/39315-adventskalender-2021/chapter/203330-e
Und nun, viel Spaß beim Lesen dieser kleinen, vielleicht etwas ungewöhnlichen Wintergeschichte!
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Es war schon lange her, dass es geschneit hatte. Hatte es in der Nacht noch einen regelrechten Schneesturm gegeben, rieselte es nun leise und fast schon bedächtig vom wolkenverhangenen Himmel, als wollte sich das Wetter für die zischenden Winde zuvor entschuldigen. Die Welt war ganz in Weiß gekleidet und alles stand still an diesem ersten richtigen Wintertag seit Jahren.
Wie viele Kinder saß Noah auf der Fensterbank und beobachtete die Flocken beim Fallen, als würde ihm jede einzelne davon irgendetwas bedeuten. Wann immer seine Mutter ins Wohnzimmer schaute, wo ihr vierjähriger Sohn sich schon seit dem Aufstehen befand, hatte er sich keinen Millimeter gerührt. Es war das erste Mal, dass es in Noahs Leben schneite. Da konnte seine Mutter verstehen, dass er sich das Treiben vor der Tür nicht entgehen lassen wollte.
Erst als Lynn den Jungen nach einiger Zeit fragte, ob er nicht eine Tasse Kakao trinken wollte, zeigte Noah das erste Lebenszeichen an diesem Tag.
»Können wir mal wieder einen Winterspaziergang machen? Es ist so lange her, dass es richtig geschneit hat.«
Im ersten Moment dachte sich die junge Frau nichts dabei. Ein wenig Zeit an der frischen Luft zu verbringen, klang nach keiner schlechten Idee. An einem Samstag wie diesem hatte niemand im Haus etwas anderes zu tun und es wäre sicher schön, Zeit gemeinsam als Familie zu verbringen.
Lynn plante schon verträumt, wie sie den Schlitten mitnehmen würde, den sie bereits im letzten Jahr gekauft hatten, den endlich einweihen und wie sie ihrem Sohn zeigen würde, wie man einen Schneemann baute. Aus diesem Grund sagte sie dem Vorschlag zu und wollte gleich alle Vorbereitungen treffen, die nötig wären, um diesen Familientag in die Tat umzusetzen.
Dann erst fiel der Mutter auf, dass Noah das Wort wieder benutzt hatte. Dabei konnte sie sich nicht erinnern, dass sie jemals einen Winterspaziergang gemacht hatten, seit Lynn aus ihrem Elternhaus ausgezogen war. Wie auch, wenn es die letzten Jahre über nicht wirklich geschneit hatte? Doch Lynn dachte sich nicht wirklich etwas dabei. Vielleicht hatte sie sich auch nur verhört und Noah hatte gar nicht dieses Wort benutzt, das sie so verwirrte.
Für einen Moment blieb die junge Frau stehen und beobachtete ihren Sohn dabei, wie er sich wieder dem Beobachten des Schneetreibens zuwandte. Wenn sie es sich recht überlegte, war der Gesichtsausdruck des Jungen nicht der eines Kindes, das gerade zum ersten Mal in echt sah, was er sonst nur aus Cartoons kannte. Eher einer, der Sehnsucht und Wiedersehensfreude zeigte, die Noah gar nicht kennen sollte. Doch wieder machte Lynn sich nicht wirklich Gedanken darüber. Warum auch? Vielleicht bildete sie sich das alles nur ein.
Um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, wandte sie sich nun ab und suchte nach ihrem Mann, um ihn ebenfalls vom Winterspaziergang zu überzeugen.
Philipp war niemand, der gern hinausging. Vor allem nicht bei extremem Wetter wie diesem, wo einem die ganze Zeit über kalt war und sich die Anstrengung des Wanderns nicht lohnte, wenn doch alles unter der weißen Schicht gleich aussah. Doch Lynn wusste genau, wie sie ihren Mann überzeugen konnte. Nach ein paar Einwürfen, dass Noah wohl wirklich enttäuscht wäre, wenn sein Vorhaben nur wegen der Bequemlichkeit seines Vaters ins Wasser fallen würde, gab sich Philipp endlich geschlagen. Wie hatte er auch für eine andere Wahl, wenn sowohl seine Frau als auch sein Sohn sich gegen ihn stellten?
Damit schien alles geregelt. Noah löste sich endlich von der Fensterscheibe und ließ sich von seiner Mutter in die dicken Wintersachen helfen, gegen die er sich unter anderen Umständen gewehrt hätte. So zapplig der Junge sonst auch war, heute war er so ruhig, dass Lynn ihn kaum wiedererkannte. Vermutlich freute er sich einfach auf seinen ersten Winterspaziergang. Da riss er sich sicher zusammen, damit sich seine Eltern es am Ende nicht noch anders überlegten und er seine erste Gelegenheit zum Spielen im Schnee verpasste.
Doch auch als die drei Spaziergänger endlich vor die Haustür traten, änderte sich Noahs ungewohnte Ruhe nicht. Lynn hätte erwartet, dass er sofort herumtollen und alles erkunden würde, was in seiner Reichweite war, aber dem war nicht so. Stattdessen schaute sich der Junge interessiert um, doch hatte wieder diesen Gesichtsausdruck der Wiedersehensfreude aufgesetzt, dem sich nun so etwas wie blasse Melancholie beimischte.
Eine Weile lang ging das so, bis beide Eltern genug von der angespannten Stille hatten, die sie gerade jetzt nicht gebrauchen konnten.
Auf einem Feld angekommen, das nun nicht mehr war als ein überdimensionales leeres Blatt Papier, bückte Lynn sich spontan, um etwas Schnee zusammen zu klauben. Sorgfältig darauf achtend, dass der kleine Schneeball auch nur daraus bestand, richtete sich die junge Frau wieder auf und hielt ihr Werk heimlichtuerisch hinter dem Rücken, während sie zu ihren beiden Männern aufschloss, die schon weitergegangen waren.
»Schneeballschlacht!«
Mit diesem Schlachtruf startete Lynn ihren Angriff auf Noah. So sanft sie nur konnte, warf sie dem Jungen den kleinen Schneeball entgegen, der noch im Flug langsam zerfiel und dessen Reste schließlich an der roten Winterjacke des Jungen hängen blieben.
Doch anstatt dadurch die Stimmung aufzulockern und den Jungen wieder zu seinem alten Selbst finden zu lassen, wischte er sich nur den Schnee von der Brust und schüttelte mit dem Kopf.
»Ich mag keine Schneeballschlachten«, sprach Noah in einem Ton, als wäre es das Offensichtlichste auf der Welt. »Seit damals, als in einem der Schneebälle ein Stein steckte, der mich mit voller Wucht am Kopf traf. Es hat noch Stunden danach geblutet. Da hättet ihr bestimmt auch keine Lust mehr auf den Unsinn.«
Nun machten sich beide Eltern Sorgen um ihren Sohn. Nicht nur, weil er sich nicht weniger wie ein Vierjähriger verhalten könnte, sondern auch, weil er von Dingen redete, die gar nicht sein konnten. Niemand antwortete Noah. Stattdessen versuchten die Erwachsenen zu verarbeiten, was soeben passiert war. Sie wussten sich nicht anders zu helfen, als weiterzugehen und über das nachzudenken, was der Junge in ihrer Mitte gerade gesagt hatte. Das Paar warf sich zwischendurch Blicke zu, die von Hilflosigkeit und Verwirrung sprachen und die sich nur spiegelten, ohne dass dem jeweils anderen geholfen wurde.
Vermutlich sollte Noah mehr erzählen, dachte Lynn insgeheim. Einfach, um zu klären, ob er vielleicht eine Geschichte erfand, wie er es manchmal schon beim Spielen getan hatte, oder ob mehr hinter den wirren Erinnerungsfetzen steckte als bloße kindliche Fantasie.
Einige stille Minuten vergingen, bis Noah begann, so etwas wie ein Selbstgespräch zu führen. Zumindest sprach er niemanden konkret an und schien in eine Welt abzutauchen, die nur in seinem Kopf existierte.
»Dieser Winter fühlt sich wie ein einziges Minenfeld der Erinnerungen an. Dabei ist er gar nicht so wie die, aus denen diese Erinnerungen stammen. Die Welt hat sich wirklich gewandelt. Ich erkenne nichts mehr wieder. Selbst die Kälte fühlt sich viel wärmer an als damals. Es scheint alles ganz anders und wie hundert Jahre her.«
»Was genau?«, rutschte Philipp eine Frage heraus, die ihm schon im nächsten Moment so unpassend vorkam, dass er sie am liebsten zurückgenommen hätte. Doch das konnte er nicht mehr – sie hing nun in der Luft und wartete darauf, beantwortet zu werden.
Jedoch weigerte sich Noah auf eine seltsam verdrehte Art, genau das zu tun. »Kommen wir auf unserem Weg an einem See vorbei?«
So einfach diese Gegenfrage auch war, die Erwachsenen brauchten eine Weile, um zu begreifen, was diese überhaupt bedeuten sollte. Selbst, als das geschehen war, kam die Antwort darauf nur stockend, so kalt wie es die beiden erwischt hatte.
»Ein See? Warum gerade ein See?«, fragte Lynn langsam, während sie angestrengt überlegte, ob sie überhaupt einen in der Nähe kannte. Doch etwas in ihrem Hirn war blockiert. Als wollte das ungute Gefühl, das sie bei der Bitte ihres Sohnes hatte, nicht das herausrücken, was der jungen Frau eigentlich auf der Zunge lag.
Noah schaute zu seiner Mutter auf mit einem Blick, der ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Es schienen nicht mehr die Augen ihres Sohnen zu sein, in die sie da schaute. Sie waren blau wie immer, doch etwas war anders. Sie wirkten so viel älter. Sogar so alt, dass Lynn das Gefühl hatte, einen Greis statt eines Vierjährigen vor sich zu haben.
»Früher bin ich gerne im See geschwommen. Also in dem hinter dem Haus meiner Eltern, andere Seen kannte ich nicht. Egal ob Sommer oder Winter, ich bin immer geschwommen. Bis etwas passiert ist, an das ich mich nicht erinnern möchte. Deswegen will ich nochmal einen See sehen. Um die Erinnerungen zu überschreiben, die so wehtun, dass ich sie wirklich nur noch vergessen möchte.«
Nun reichte es den Erwachsenen. Egal ob Fantasie oder doch etwas anderes, was das Paar erst sehr viel später am Tag verstehen würde, beiden war diese ganze Situation unheimlich.
»Es ist wohl besser, wenn wir jetzt zurückgehen«, sprach Philipp das aus, was auch Lynn im Kopf herumspukte. »Morgen ist der Schnee bestimmt immer noch da und dann können wir den See besuchen. Vielleicht ist er dann sogar schon zugefroren. Das wäre sicher schöner als nur ein bisschen kaltes, dunkles Wasser.«
Damit schien sich Noah abzufinden. Das Gespräch schien jedenfalls beendet zu sein. Auch wenn Lynn eigentlich gern mehr von dem gehört hätte, was ihr Sohn, oder das, was in seinem Körper wohnte, zu sagen hatte, war sie doch froh, dass der Heimweg vollkommen still vonstattenging und sie endlich darüber nachdenken konnte, was überhaupt gerade passiert war.