Xanni warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen schneite es schon seit den frühen Morgenstunden dieses 25. Dezembers und inzwischen war der Waldweg, der zu ihrem Haus führte unter einer mindestens zwanzig Zentimeter dicken Schneedecke verschwunden. Gut, dass sie ihre Hexenschwestern zum „Gänseessen“ erwartete. Sie grinste bei dem Gedanken daran, denn es würde etwas völlig anderes auf den Tisch kommen. Ertel, Gisberta und Xanni nannten ihre alljährlichen Weihnachtsschmause nur so, weil sie sich eben wie drei Schnattergänse aufführten. Und außerdem benutzten die Mädels nie den Weg, sondern den Schornstein. Sogar Ertel wäre nach ihrem Verjüngungszauber vom Sommer wieder in der Lage, die Einflugschneise zwischen den Tannenwipfeln auch ohne Brille genauer auszumachen und würde wohl in diesem Jahr nicht wieder volles Mett vor den Schlot knallen. Für den Fall, dass es doch so wäre, hatte Xanni unlängst einen Trank aus energetisiertem Nachtschatten, Birkenrinde-Sirup und Whiskey bereitgestellt, der die Wetterhexe zumindest in ihrem alten Zustand wiederherstellen sollte. Seit Kelpie, Xannis meist knackiger und zuweilen flüssiger Wasserdämon regelmäßig bei ihr herumlungerte, waren auch immer genügend Eiswürfel im Kühlfach. Xanni wusste definitiv, dass diese allein sein Werk waren, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wofür er so viele davon brauchte, wenn er nachts heimlich in die Küche floss. Sie könnte ihn fragen, aber dann wiederum stand sie auf Bad Boys mit Geheimnissen.
Apropos Geheimnisse, wanderten ihre Gedanken weiter, während sie den Zauberspruch murmelte, der ihre Küchengeräte und die Zutaten für einen veganen Krustenbraten bereitstellte. Irgendetwas veranstaltete ihr Süßer drüben in der Werkstatt des Geräteschuppens. Sollte er tatsächlich den Mähroboter reparieren, den die Elstern zuletzt so übel zugerichtet hatten? Kelpies Spuren im Schnee führten in den Schuppen hinein, aber nicht wieder hinaus. Er musste schon eine ganze Weile darin beschäftigt sein. Und jeden Tag der letzten Woche war es nicht anders. Kopfschüttelnd bestrich Xanni die Kruste mit Eigelb und schob alles in die Bratröhre. Sie war nicht die Art Hexe, die ihrem Freund vor den Feiertagen mit der Kristallkugel hinterherspionierte. Und Apropos Feiertage: Kelpie war ein Dämon. Galten die für ihn überhaupt? Vielleicht sollte sie doch für ein Beziehungsgespräch rüber gehen zur Werkstatt? Sie warf einen Blick zur Fensterbank, wo ihr Kater Klabautermann döste.
„Jetzt sag mal was dazu“, raunte sie ihn an. „Hat er dir etwas verraten?“
Klabautermann streckte sich der länge nach zu einem gotischen S, rülpste und rollte sich wieder zusammen.
„Na toll. Ihr Jungs haltet aber auch immer zusammen.“
Etwas verstimmt, weil sie sich von ihrem Kater mehr Solidarität erhofft hatte, hexte Xanni noch die Bratkartoffeln zurecht, dann beschloss sie, ihrem Dämonen auf den Zahn zu fühlen.
So stapfte sie durch den Schnee hinüber zum Schuppen, wo sie zuerst versuchte, einen Blick durch das Fenster zu erhaschen. Doch die Scheiben waren seit Jahren nicht geputzt und obendrein vereist. Ein spontaner Fluch machte zwar ihrer Laune Luft, am Durchblick aber änderte er nichts.
„Xanni, bist du das Zuckerschnecke?“, rief es von drinnen.
Kelpie hatte sie also gehört, wenn auch ganz sicher nicht erblickt. Na, und wenn schon, dachte sie sich. Sie konnte ja immer noch so tun, als bräuchte sie irgendein Werkzeug.
„Wer denn sonst? Wenn Ertel und Gissi schon hier wären, hättest du einen lauten Bums und ein ordentliches Sausen gehört.“
„Schon klar. Was ist denn, kann ich was für dich tun?“
So wie Kelpie den letzten Teil seiner Antwort betonte, nämlich eindeutig zweideutig, musste er glatt davon ausgehen, sie sei auf der Suche nach einem Quickie. Genau genommen war dafür tatsächlich noch Zeit. Die anderen Hexen kamen frühestens in … Nein!
Xanni riss sich zusammen. Sie wollte herausfinden, was er trieb. Wie er es tat, das wusste sie.
„Ich komme jetzt rein mein Großer, wenn das für dich okay ist …“
„Seit wann brauchst du meine Erlaubnis für irgendwas?“, gab Kelpie zurück.
Seine Zuckerschnecke zögerte nun nicht länger und trat zur Tür herein. Und fand …
„Was ist das?“
Mit weit aufgerissenen Augen erblickte Xanni ihren Süßen inmitten eines halbwegs anständigen Chaos, selbst für seine Verhältnisse. Überall lagen leere Kartons von diesem Online-Versandhandel, den Xanni neulich erst verhext hatte. Dazwischen diverse Schläuche, Bretter und Werkzeuge. Kelpie, in einer blauen Arbeiter-Latzhose sah zum Anbeißen aus und lächelte, offenbar weil er glaubte, der Groschen würde gleich fallen.
„Was ist das hier? Was wird das?“
„Na, guck doch richtig hin. Ich baue was für dich und mich.“
Jetzt erkannte Xanni in all dem Tohuwabohu eine Art riesigen hölzernen Bottich, an dessen einer Seite eine kleine Treppe mit vier Stufen hinaufführte, auf der anderen Seite hatte Kelpie den alten Bullerofen, den er kürzlich im Keller entdeckt hatte, aufgestellt.
Augenblicklich kamen ihr die Worte wieder in den Sinn, die Kelpie gebrummt hatte, als er ihr bei der Bescherung am 24. einen knappen Bikini geschenkt hatte: „Wart’s nur ab. Den wirst du noch vor dem Sommer brauchen.“
„Kelpie, Süßer, ist das etwa …?“
„Ja, genau: ein Hot Pot!“, platzte es jetzt voller Stolz aus ihm heraus.
„Nein!“
„Doch!“
„Toll!“
„Komm her und schau ihn dir an, Schnecke.“
Das musste er nicht zweimal sagen. Begeistert lief Xanni um das Teil herum. Ja, da war ein Einstieg, in dem Holzbottich ein großer Kupferkessel, ein Wasserablauf und offenbar wurde alles mit Holz befeuert.
„Und woher kommt das Wasser?“, fragte sie, weil sie das auf Anhieb nicht erkannte.
„Schnecke, ich bin ein Wasserdämon. Egal wo wir das Ding aufstellen, fülle ich dir den aus dem Nichts mit Wasser.“
„Donnerwetter, du bist ja richtig praktisch. Und praktisch begabt.“
Kelpie lachte schnaubend.
„Was ist jetzt? Wollen wir ihn gleich ausprobieren?“
Im selben Moment ertönte durch die Luft ein lautes Platschen und der Kessel war voll. Xanni grinste. Mit einem Fingerschnippen entzündete sie den Holzofen.
„Jetzt fehlt nur noch mein Bikini“, gab sie zu bedenken.
„Ach, wer braucht denn den schon?“, fand Kelpie und deutete mit einem vielsagenden Blick auf die Träger seiner Latzhose, an der sich die Hexe sogleich zu schaffen machte.
Als endlich ein lautes Bums und ein ordentliches Sausen die Ankunft der Hexenschwestern verkündeten, lagen die beiden bereits völlig weltvergessen in ihrem selbstgebauten Hot Pot. So blieb es in diesem Jahr am Klabautermann hängen, die hungrigen Damen willkommen zu heißen und ihnen den Braten zu servieren. Xanni und Kelpie kamen erst viel später dazu.
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https://belletristica.com/de/books/39315-adventskalender-2021/