„Agent Hanna, mein Partner Agent Callen.“
Alec Hardison hob den Kopf, als er die Namen hörte, und sah neugierig zur Kasse des kleinen Supermarktes. Zwei Männer standen dort, mit dem Rücken zu ihm, und hielten der Ladenbesitzerin ihre Marken entgegen.
„Wir haben ein paar Fragen, wenn es Sie nicht stört?“
„Nein, nein“, sagte die Frau. „Geht es um den Überfall gegenüber?“
„Genau“, sagte Agent Hanna. „Waren Sie gestern auch hier?“
Hardison legte ein paar Äpfel in seinen Korb und entfernte sich langsam von der Kasse. Er hatte kein gesteigertes Interesse daran, mit den Ermittlern zu sprechen.
„Natürlich“, sagte die Frau. „Ich bin jeden Tag hier. Aber die Leute von gegenüber kenn ich nicht, die haben sich nie vorgestellt.“ Sie klang empört und Hardison unterdrückte ein Grinsen.
Er bog in eine andere Regalreihe ein und überflog die Pralinenschachteln. Die Stimmen wurden leiser. Hardison fing die Wörter „Überwachungsvideos“ und „hilfreich für die Ermittlungen“ auf. Er wusste nicht genau, was gegenüber passiert war. Eliot, Parker und Hardison selbst waren für einen anderen Fall in Los Angeles und er hatte eigentlich nur etwas Proviant holen wollen.
„Entschuldigen Sie, Sir?“
Hardison zuckte zusammen, als einer der beiden Agents vor ihm auftauchte. Blaue Augen musterten ihn, bis Hardison vorsichtig nickte.
„Ich kann Ihnen helfen?“, fragte er mit namibischen Akzent, passend zu dem Ausweis, der in seiner Tasche steckte.
Der Mann nickte. „Sind Sie öfter hier, Mister …?“
„Mutima“, sagte Hardison und schüttelte den Kopf. „Bahee Mutima. Ich bin nur heute in die Geschäft. Wie heißen Sie?“
„Agent Callen.“
Hardison sah ihn abwartend an, doch der Mann nannte ihm keinen Vornamen. War das etwa wirklich der Callen, den er schon seit vielen Jahren suchte? Bis eben hatte er es für einen Zufall gehalten. So selten war der Nachname nicht. „Kann ich sehen die Ausweis?“
Der Mann runzelte die Stirn, doch er zog seine Marke aus der Tasche und klappte das Mäppchen auf.
Hardison suchte nach der Zeile mit dem Namen und erstarrte. Tatsächlich. Statt einem Vornamen befand sich auf dem Ausweis nur ein Buchstabe: G. Erneut musterte er den Mann, aufmerksamer diesmal. „Cal?“
Die blauen Augen weiteten sich überrascht.
***
Callen steckte seine Hände in seine Hosentaschen und schaute stur auf den Boden, bis der Jugendfürsorgearbeiter sich endlich verabschiedet hatte. Er wollte das Gesicht seiner neuen Pflegemutter nicht sehen, wenn der Kerl ihr von seiner Vorgeschichte berichtete.
„Benimm dich, Bursche.“
Schwer landete die Hand des Mannes auf seiner Schulter und Callen unterdrückte einen Schmerzlaut. Sein vorheriger Pflegevater war … nicht sehr behutsam mit ihm umgegangen.
„Ich will deine Akte nicht morgen gleich wieder auf dem Tisch haben.“ Der Mann lachte dröhnend. „Viel Glück mit dem, Ma’m.“
Callen lauschte auf seine Schritte, den Knall der Autotür und das leiser werdende Geräusch des Motors. Erst dann hob er den Kopf und sah die runde, schwarze Frau mit geübt neutraler Miene an. „Bekomm ich ein eigenes Zimmer oder muss ich mir eins teilen?“
„Komm doch erstmal rein“, sagte die Frau freundlich lächelnd.
Callen runzelte misstrauisch die Stirn. Das hier war seine 37. Pflegestelle und freundlich angelächelt hatte ihn seit Jahren niemand mehr. Nicht, seitdem in seiner Akte vermerkt war, dass er gerne weglief, sich prügelte und stahl. Alles etwas, das er nicht gerne tat, aber bei der ein oder anderen Familie nötig geworden war.
„Komm“, wiederholte die Frau und deutete einladend nach drinnen.
„Nana?!“ Ein kleiner Junge tauchte in der Tür auf. Seine Haut war nur minimal heller als ihre und Callen spürte, wie er nervös wurde. Er war bisher nur in wenigen nicht-weißen Familien gelandet und hatte dort nie mehr als ein paar Tage verbringen können, bevor die ihn wieder weggeschickt hatten. Vermutlich hatte er Glück, wenn er zumindest zwei Nächte bleiben durfte.
„Nana, ich hab Durst.“ Der Junge schlang seine dünnen Arme um die Oberschenkel der Frau und setzte einen bettelnden Blick auf.
„Gleich, Mahlik. Ich begrüße grade deinen neuen Bruder.“ Sie legte dem Kind eine Hand auf den Kopf.
„Wie heißt der?“
„Er“, verbesserte sie. „Frag ihn doch. Und stell dich selbst auch vor.“
„Ich heiße Mahlik Miller.“ Der Junge sah Callen aus großen, braunen Augen an. „Und du?“
„G. Callen“, antwortete er.
„Das war also kein Fehler in der Akte?“ Die Frau musterte Callen.
Er schüttelte den Kopf.
„Nun, ich halte nichts davon, wenn ihr Kinder eure Namen vergesst. Aber ich werde dich weder mit deinem Nachnamen noch mit einem Buchstaben ansprechen“, verkündete sie. „Was hältst du von Cal?“
Callen zögerte. So hatte ihn noch nie jemand genannt. Vorsichtig nickte er.
„Sehr schön.“ Ihr Lächeln wurde noch strahlender. „Du kannst mich Nana nennen, das tun all meine Kinder. Mahlik, zeigst du Cal sein Zimmer? Dann kann er seine Sachen ablegen. Und ich richte euch in der Zeit eine schöne, kalte Limonade.“
Callen zuckte zusammen, als sich die Hand des Jungen um seinen Arm schloss. Körperkontakt abseits von Schlägen war er nicht mehr gewohnt. Langsam zog er seine Hand aus der Hosentasche, damit Mahlik sie nehmen konnte. „Wie lang darf ich bleiben?“, fragte er.
Nanas Lächeln wurde traurig. „Solange du willst“, sagte sie und Callen entspannte sich etwas. „Außer natürlich du stellst etwas an, das dieser Familie schadet. Hast du das vor?“
Sofort schüttelte Callen den Kopf. „Nein, Ma’m.“
„Nana“, korrigierte sie. „Und jetzt rein mit dir. Mahlik wird immer so quengelig, wenn er zu lang auf seine Limonade warten muss.“ Ihr leises Lachen nahm den Worten ihre Schärfe und Callen entspannte sich etwas.
Er ließ sich von Mahlik ins Haus ziehen. Noch wusste er nicht, ob er sich hier wohlfühlen könnte, aber Mahlik mit seinen vielleicht fünf Jahren stellte auf jeden Fall keine Gefahr für ihn dar.
Seine Sachen würde Callen trotzdem nicht aus den Augen lassen.
***
„Wie haben Sie mich genannt?“, fragte Callen.
„Cal“, wiederholte der Mann. „Sie sind es wirklich, oder?“ Mit einem Mal war der Akzent verschwunden und Callen starrte Bahee Mutima überrascht an.
„Wie heißen Sie wirklich?“, fragte er. „Und woher kennen Sie diesen Namen?“
Der Mann grinste. „Du kannst mich Alec nennen, Cal“, sagte er. „Und dein Foto hängt an Nanas Wand.“
Callen spürte, wie sein Herz raste. Nur eine einzige Frau hatte ihn je ‚Cal‘ gerufen, und das war viele Jahre her. Seit er ihr Haus am Tag nach seinem 18. Geburtstag verlassen hatte, hatte er nicht mehr an sie gedacht. Er hatte versucht, all seine Erinnerungen an die ganzen Pflegestellen zu verdrängen, und es war ihm auch ganz passabel gelungen. Bis jetzt.
***
Callen hatte das Wohnzimmer schon halb durchquert, als er stehenblieb und seinen Blick ein letztes Mal durch den Raum schweifen ließ.
Die große Standuhr zeigte, beleuchtet von der Straßenlaterne draußen vorm Fenster, drei Uhr an. Im Haus war es still. Nana, Mahlik und die beiden anderen Kinder schliefen tief und fest.
Für einen winzigen Moment sah Callen zurück zur Treppe. Noch könnte er umdrehen. Er könnte zurück nach oben gehen, sich wieder in sein Bett legen und darauf warten, dass Nana ihn weckte. Aber er war jetzt achtzehn Jahre alt. Erwachsen. Für seine Anwesenheit hier würde das Amt nicht länger zahlen. Und wenn er ehrlich war, wollte er nicht, dass Nanas warmer Blick zu Eis wurde, wenn sie ihn rauswarf, so wie es all die anderen Pflegeeltern vor ihr getan hatten. Callen wollte mit guten Erinnerungen gehen, statt fortgejagt zu werden. Erinnerungen an Nanas Freundlichkeit und ihr Lachen.
Er machte einen weiteren Schritt Richtung Tür und blieb erneut stehen. Sein Herz wurde schwer, als er die Fotowand ansah. Obwohl der Raum nur spärlich beleuchtet war, fiel ihm sein eigenes Bild sofort ins Auge. Zwischen all den dunkelhäutigen Kindern, die dort zu sehen waren, wirkte er so exotisch wie ein bunter Hund.
Callens Hand zitterte, als er sie nach dem Foto ausstreckte. Nicht alle Familien hatten sein Bild an ihren Wänden behalten, das wusste er. Bei manchen war er nicht einmal lang genug gewesen, dass sie überhaupt eins von ihm gemacht hatten. Nana war auch hier anders. Sie hatte ihn noch am ersten Abend fotografiert, mit einer alten Polaroid-Kamera, und Mahlik hatte das Foto sofort neben sein eigenes geklebt.
Callen lächelte, als er daran dachte. Er ließ das Foto, wo es war, und griff stattdessen nach einem Stift, der auf der Kommode lag.
‚Vielen Dank für alles‘, schrieb er auf einen der vielen Schmierzettel, die Nana in einer Schublade lagerte. Er zögerte, bevor er seinen Namen unter den Satz setzte: ‚Cal‘.
Dann verließ er das Haus. Er blickte immer wieder zurück, bis er die Straßenecke erreichte. Danach kein einziges Mal.
***
„Darf ich ein Foto von dir machen?“ Alec sah ihn fragend an.
„Wieso?“ Callens Hand zuckte zu seiner Waffe, aber er hielt sich davon ab, sie zu ziehen. Noch. In seinem Job bedeutete diese Frage nie etwas Gutes.
„Nana hat mir von dir erzählt. Da waren so viele Fotos, aber dein Bild war das einzige von einem Weißen“, sagte Alec. „Ich will ihr nur zeigen, dass es dir gut geht. Sie hat sich Sorgen gemacht. Du warst der Einzige, der sich nach seinem Verschwinden nie wieder bei ihr gemeldet hat.“
„Ich hab mich bei niemandem gemeldet“, sagte Callen. Wieso sollte er das auch tun? Die meisten Pflegestellen waren froh gewesen, ihn loszuwerden.
„Warst du wirklich bei 37 Familien?“, fragte Alec.
Callen nickte langsam. Natürlich hatte Nana das gewusst, es erstaunte ihn allerdings, dass sie es den anderen Kindern erzählt hatte. Vor allem, da Alec und er nicht gleichzeitig bei ihr gewesen waren.
„Wow“, sagte Alec. „Ich hab ihr das nie geglaubt“, gab er zu. „Ich dachte immer, sie übertreibt.“ Er legte den Kopf zur Seite und grinste plötzlich. „Naja, es können ja nicht alle Pflegekinder so viel Glück haben wie ich.“
Callen hatte das dumpfe Gefühl, dass er diesen Satz nicht zu ihm sagte.
„Also, darf ich ein Foto machen?“
Callen schüttelte den Kopf. „Sorry, aber ich mag es nicht, fotografiert zu werden“, sagte er.
„Okay“, sagte Alec schulterzuckend. Er zog einen Stift aus seiner Tasche und riss ein Stück von dem Einkaufszettel ab, der in seinem Korb lag. Auf diesen kritzelte er eine Nummer und eine Adresse, bevor er ihn Callen entgegenhielt. „Nana würde sich bestimmt freuen, wenn du sie anrufst“, sagte er. „Oder eine Karte schickst. Ich schreib ihr jedes Jahr zu ihrem Geburtstag.“
Callen starrte auf den Zettel. Er hatte bisher nie versucht, noch einmal Kontakt zu einer der Pflegefamilien zu suchen. Allerdings lebte er inzwischen seit ein paar Monaten in dem Haus, das einer dieser Familien gehört hatte. Vielleicht war es an der Zeit, die Erinnerungen an die Vergangenheit zuzulassen. Und Nana war eine der besten Pflegemütter gewesen, die er gehabt hatte. Langsam streckte er eine Hand aus und nahm den Zettel. „Ich werde darüber nachdenken“, sagte er. „Und wie kann ich dich erreichen?“
„Ich hab wirklich nichts gesehen“, sagte Alec. „Ich bin nur auf der Durchreise. Und ich mag Cops nicht besonders. Oder gar Bundesagenten. Egal, ob die meine Brüder sind oder nicht.“
„Brüder?“, wiederholte Callen.
„Natürlich. Alle von Nanas Kindern sind meine Geschwister“, sagte Alec, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. „Ruf sie an. Vielleicht sehen wir uns dann mal an Thanksgiving.“ Er schaute an Callen vorbei. „Ich glaub, dein Partner wartet auf dich“, stellte er fest, bückte sich und hob seinen Einkaufskorb wieder auf. „Und ich muss dann auch weiter.“
Callen nickte. „Danke“, sagte er und steckte den Zettel sorgfältig in seinen Geldbeutel. „Ich weiß nicht, ob ich sie anrufen werde. Aber ich bin mir sicher, dass du ihr sagen wirst, dass du mich getroffen hast.“
„Natürlich“, sagte Alec. „Sie wird sich freuen, dass du so einen guten Job hast.“
Callen runzelte die Stirn und Alec lachte.
„Keine Sorge, ich werd nicht genauer werden. Ich sag ihr einfach, dass du ein Cop bist.“
„Okay“, sagte Callen. „Und bitte sag ihr danke von mir. Sie hat mich damals gerettet.“ Er lächelte traurig. „Sie war die erste Pflegemutter seit längerem, die nett zu mir war.“
Alecs Lächeln verblasste. „Das tut mir leid, Mann“, sagte er. Er streckte eine Hand aus, sah aber davon ab, Callen zu berühren. „Komm an Thanksgiving, Cal. Ich sag Nana, dass sie dir einen Platz freihalten soll.“
Callen zögerte. Dann, beinahe von sich selbst überrascht, nickte er. „Ich werd’s versuchen.“
Alec grinste. „Das reicht schon.“ Seine Hand schwebte noch immer zwischen ihnen und Callen griff danach. Alec erwiderte den Händedruck fest. „Wir sehen uns, Bruder“, sagte er.
„Wir sehen uns, Bruder“, wiederholte Callen. Das Wort fühlte sich merkwürdig an und er wusste, dass er sich an diesen Gedanken erst gewöhnen musste. Nana hatte ihm mal gesagt, dass sie all die Pflegekinder wirklich als ihre Kinder ansah. Dass es soweit ging, dass die Pflegekinder ihn auch Jahre später noch als Bruder vorgestellt bekommen hatten, war unerwartet. Und gleichzeitig fühlte sich dieses Wissen absolut fantastisch an. Callen lächelte, als er sich umdrehte und zu Sam zurückging. Er hatte Geschwister.
Anmerkung:
Hardisons Tarnidentität „Bahee Mutima“ ist aus der Geschichte „Hummeldumm“ von Tommy Jaud.