Ein herzliches Hallo, Ihr Lieben!
Diese kleine Geschichte öffnet das 7. Türchen in Riley Mcforest wunderschönem Adventskalender 2022. Vielen Dank, dass ich dabei sein darf, ich freue mich so sehr! Das Stichwort lautet 'Winterurlaub'
Es gibt noch so viele weitere Weihnachtsgeschichten in dem Kalender zu entdecken. Ihr findet sie hier: https://belletristica.com/de/books/49939-linksammlung-fur-den-adventskalender-2022?bookmarked=true&chapter=275524
Die Protagonist*innen der Geschichte stammen aus meinem letzten Winterspecial 'Wichtelreigen'. Habt viel Spaß und frohe Weihnachten!
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4. Dezember
Unaufhaltsam fielen die eisigen Tropfen hinab. Reflektierten die bunten Lichter der weihnachtlich geschmückten Balkone.
Der graue Rauch bildete einen harten Kontrast, wie er sich so in die kalte Abendluft davonstahl.
Missmutig verzog Joost den Mund, als ein Tropfen direkt auf seiner Nasenspitze landete. Das nasskalte Wetter ging ihm zunehmend auf den Keks. Zum aktuellen Anlass - auf den Weihnachtskeks. Dresden konnte sich noch so viel Mühe geben. Da half auch das urige Flair der Altstadt kein bisschen. Bei lächerlichen acht Grad über dem Gefrierpunkt, kam bei dem Norweger sicher keine Festtagsstimmung auf. Nur Frust. Und davon hatte er seit einem Jahr schon genug an der Backe. Schnaufend stieß er eine weitere Rauchwolke hinaus in die triste Welt.
Scheiß Weihnachten! Blödes Deutschland! Bescheidene Freundschaft! Er hätte doch nach seinem Auslandssemester vor drei Jahren zurück in seine alte Heimat verschwinden sollen. Aber nein. Joost musste sich ja Hals über Kopf in seinen Mitbewohner verknallen. Also - nicht wörtlich. Leon war sein bester Freund. Einen besseren würde er niemals finden. Verschossen hatte er sich folglich in seinen Humor. Die kindische Art. Und die Einfachheit. Denn er genoss es, wie leicht es war mit Leon zusammen zu sein. Das war keine Verknalltheit. Schon nicht, weil es Tammy gab.
Der Regen nahm zu. Verärgert zog Joost sich näher unter das schmale Vordach zurück. Auf ihrem Balkon türmten sich in diesem Jahr die Überreste der Weihnachtsdekoration, die ihre befreundeten Nachbarn gebastelt hatten. Missmutig rupfte Joost eine der filigran gearbeiteten Eiskristalle aus der Balkontür. Ein letzter Zug von seiner Zigarette. Vor sich hin nuschelnd trat er zurück in die Wärme der Wohnung.
"Hava en dritt!" Rabiat wischte er die von der Decke baumelnden Glitzersternchen beiseite. Liebevoll dekoriert schmückten sie den gesamten Wohnbereich. Erfreut hatte er festgestellt, wie sehr Leons Augen beim gemeinsamen Aufhängen gestrahlt hatten. Jetzt empfand Joost die Dinger einfach nur als nervig.
"Na, du hast ja gute Laune", kam es amüsiert aus Richtung der Kochnische.
Joost fuhr erschrocken zusammen. Wie er es hasste, wenn Leute sich an ihn heranschlichen. Die Lippen mürrisch zusammengekniffen, wirbelte er herum. Leon lehnte grinsend an der Kücheninsel. Einen dampfenden Becher in der Hand. Die Wangen rot, sodass seine himmelblauen Augen noch funkelnder wirkten. Nachlässig zog sein bester Freund und Mitbewohner die feuchte Zipfelmütze von seinem blonden Haarschopf. "Wer hat dir in die Suppe gespuckt?" Joost schnaubte. Anklagend deutete er mit dem Daumen hinter sich. Ließ dann seine Finger eine tanzende Regentropfenbewegung vollführen und machte dabei ein betretenes Gesicht. Fragend zog Joost die Augenbrauen in die Höhe, zeigte auf die Kulisse vor der Fensterfront. Malte einen Tannenbaum in die Luft und bohrte mit dem Zeigefinger nachdrücklich noch einmal in Richtung des tristen Wetters. "Joa, na ja ...", beantwortete Leon seine Frage achselzuckend. "Weihnachten hat's meist so mistig Wetter. Das kennst du doch inzwischen. Seit wann zieht das deine Laune noch mehr in den Keller, als sowieso schon?" Vielleicht seit ihm bewusst geworden war, dass man zu Weihnachten nicht unbedingt allein war, sich aber trotzdem verflucht einsam fühlen konnte.
"Keine Ahnung", brummelte Joost. "Mir geht die Scheiße einfach auf den Keks. Das ist doch nicht besinnlich! Warst du mal in Norge? Ganz andere Atmosphäre, sag ich dir. Hier gibt's nicht mal Schnee, verdammt." Schmunzelnd nippte Leon an seinem Becher. Es war ihm schleierhaft, was sein bester Freund so lustig an seinem emotionalen Ausbruch fand. Er litt hier ernsthaft! Beleidigt verschränkte Joost die Arme vor der Brust.
"... den anderen?" Seufzend kühlte Joost seine Wangen mit den Handinnenflächen. Vielleicht sollte er sich über die Feiertage einfach in seinem Labor verkriechen. Schon einmal die neuen Programmierungen vornehmen. Sein Chef würde sich sicherlich darüber freuen.
Die Vibration der Holzdielen erregte seine Aufmerksamkeit. Leon stampfte auffordernd mit dem Fuß auf. Die Augenbrauen streng zusammengezogen, drehte er sich zu ihm herum. Noch immer breit grinsend, lehnte der Blondschopf wieder an der Kochinsel. Fröhlich winkte er ihm zu.
"Was?", grummelte Joost den Dauergrinser entnervt an. Seine Laune konnte nicht mehr weiter sinken. Er wollte nur noch in sein Zimmer. Die Welt für einige Stunden abschalten ... vielleicht auch Tage ... und erst wieder hervorkriechen, wenn Weihnachten den Zahn der Zeit gesegnet hatte.
"Legst du gesteigerten Wert auf eine Wiederholung des letzten Fests?", fragte Leon geduldig. "Denn dann sollten wir uns langsam Gedanken machen, was wir kochen. Sollen wir die anderen wieder zum Wichteln einladen?" Erneut entwich die Luft leise Joosts Lippen. Betrübt zuckte er die Schultern. Es war ihm egal. Letztes Jahr war es ganz nett gewesen. Okay, sozusagen. Im Chaos um die Pandemie und das damit verbundene Gefühl der Machtlosigkeit, hatte es eine gewisse Art der Gemeinschaft erschaffen. Die Nachbarn waren zu Freunden geworden. Trotzdem war inzwischen viel passiert. Die anderen hatten vermutlich längst eigene Pläne.
Und Tammy? Auf die Konnte Joost gern verzichten. Das sagte er Leon aber nicht. Aus Angst, sein bester Freund ließe ihn über die Feiertage allein in ihrer Wohnung sitzen. Schnappte sich lieber diese modellmäßige Rothaarige mit den zwei Meter langen Beinen und turtelte sich bis ins neue Jahr.
"Ist mir gleich", murrte Joost. Umständlich pfriemelte er doch noch ein weiteres Mal seine Zigaretten hervor und verschwand grummelnd auf den Balkon. Knipste den Projektor ein und fläzte sich in die Kissenberge. An manchen Tagen vermisste er Norwegen ganz besonders.
Besorgt sah Leon seinem besten Freund hinterher. Wie lange kannten sie sich jetzt schon? Seit Joost ein Auslandssemester hier begonnen hatte. Und beschloss, nicht mehr in die alte Heimat zurückzukehren. Woran genau das gelegen hatte, wusste er nicht. Hatte es nie erfahren. Nie genau gefragt. Sich aber unbändig gefreut. Einen loyaleren, großzügigeren und ehrlicheren Freund und Mitbewohner gab es nicht.
Jahre waren vergangen. Joost stand seither treu an Leons Seite. Weihnachten war immer ein heikles Thema für ihn gewesen. Joost eine Konstante. Irgendwie hatte er das Fest weniger bitter für ihn gemacht. Die Erinnerungen an geplatzte Familienzusammenkünfte und unerfüllte Wünsche fortgewischt. Nur, indem er ihnen in ihrer winzigen Kochnische ein veganes Drei-Gänge-Menü geköchelt hatte.
Lediglich letztes Jahr war die Tradition ins Wanken geraten. Auch schön. Festlicher. Mit ihren Nachbarn, die längst zu Freunden geworden waren. Und jeder Menge Weihnachtsschmuck, gegen den Leon sich so lange gewehrt hatte. Joost hatte sich gefügt. Für ihn. Obwohl er sich in größeren Ansammlungen nicht wohlfühlte. In Gesprächen zu oft den Faden verlor und dann brummig wurde.
Und wegen Tammy. Seit es Tammy gab, war Joost verschlossener geworden. Kaum noch verbrachten sie Zeit miteinander. Vor allem jetzt im Dezember. Dabei hätte Leon sich gefreut, wie früher zu zweit über den Weihnachtsmarkt zu flanieren. Nur er und Joost. Wie es Tradition war. Er sah ja auch, dass es seinem besten Freund nicht gut ging. Die sauertöpfische Miene war längst zu Gram geworden. Aber Joost schwieg. Vergrub was auch immer ihn quälte in sich, anstatt zu reden. Wie sie es sonst getan hätten. Vor Tammy.
Seufzend griff sich Leon die Tasse mit dem letzten Rest heißen Apfelsaft. Die leichte Zimtnote stieg ihm in die Nase.
"Besinnliche Vorweihnachtszeit", murmelte er bitter. Es war nicht leicht zwischen den Stühlen zu sitzen. Und in seiner Beziehung lief es seit einigen Monaten nicht mehr rund. Er distanzierte sich. Kam nicht an den Grund heran. Tammy klammerte im Zuge dessen umso fester.
Nachdenklich schlenderte er hinüber zum Weihnachtsbaum. Das Gebilde aus recycelten Materialien hatte seine Freundin in akribischer Kleinstarbeit zusammengeschustert. Ihm wäre ein richtiger Baum lieber gewesen. Joost hatte darüber nur den Kopf geschüttelt. Immerhin war ihm nur eine spöttische Gebärde herausgerutscht. An manchen Tagen war Leon dankbar, dass keiner ihrer Freunde die Lautsprache unterstützenden Handbewegungen verstand, die sie beide häufig verwendeten.
Ein Blick hinaus zeigte ihm lediglich ein Schattenspiel der Bilder, die der Projektor gegen das Leinentuch warf. Leon wusste, es zeigte norwegische Winterlandschaften. Er runzelte die Stirn. Erinnerte sich an gemeinsame Gespräche über Heimweh und Vermissung. Joost hatte immer betont, wie anders Norwegen im Winter war - wie magisch. Trotzdem hatte er immer auf einen Heimatbesuch verzichtet. Angeblich, weil seine Familie ihm sowieso nur auf den Geist gehen würde. So wirklich kaufte Leon ihm das nicht ab. Seiner Vermutung nach, hatte er ihn schlicht nie allein in der damals noch dunklen Wohnung hocken lassen wollen. Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus.
06. Dezember
"Nun pack halt aus!"
"Warum?"
"Weil es sonst unlustig ist."
"Verstehe ich nicht. Zu Weihnachten gibt es Geschenke."
"Und?"
"Es ist nicht Weihnachten."
"Es ist Nikolaus."
"Da gibt es Süßigkeiten."
"Pack endlich aus, Jojo!" Schnaubend ergab Joost sich in sein Schicksal. Bevor Leon noch einen Herzanfall bekam. So rot, wie sein Kopf schillerte, konnte er mit den Weihnachtsbaumkugeln konkurrieren. Joost verdrehte die Augen. Vorsichtig drehte er den mit allerhand Glitter bestäubten Umschlag in den Händen. Nervös fasste er sich hinters Ohr. Ein dummer Tick, der immer dann zum Vorschein kam, wenn er sich unsicher war. Eine Rückkopplung fiepte durch seinen Gehörgang. Er zischte unleidlich. Selbst schuld. Ruhig atmete er durch. Schielte zu Leon hinüber. Die strahlend blauen Augen nahmen ihn gefangen. Warum nur musste der Mann so verflucht schöne Augen haben? Lebendig und fröhlich. Immer so beschissen sprühend vor Feuereifer. Das war doch nicht normal.
Beinahe zärtlich knibbelte Joost die Lasche vom Umschlag auf. Penibel darauf bedacht, das Papier nicht zu zerreißen. Leon summte gespannt. Wie ein kleiner Junge. Ganz aufgeregt. Es brachte ihn zum Schmunzeln.
Endlich nahm er den Inhalt heraus. Strich sich mit den Fingern der freien Hand durch das Haar. Seufzte. Irritation ließ seine Mundwinkel zucken.
"Flug ... tickets?", haspelte Joost.
Das konnte nur ein schlechter Scherz sein.
"Mhm", machte Leon. Ganz unruhig hibbelte sein bester Freund auf dem Sofa hin und her. Das Strahlen überzog sein ganzes Gesicht. "Fröhliche Weihnachten, Jojo!" Bevor Joost noch reagieren konnte, fiel Leon ihm bereits um den Hals. Nicht ihre erste Umarmung. Sicher nicht die letzte. Trotzdem kam sie ihm so ungewohnt intensiv vor. Wie der Stoff ihrer Pullover aneinander rieb. Leons Aftershave in seiner Nase. Seine Haare, die ihm an der Wange kitzelten. Zögerlich erwiderte Joost den Druck der Umarmung. Löste sich eine Spur zu langsam. Leon verlor kein Wort darüber. Vielleicht hatte er auch nichts bemerkt.
"Das war doch sauteuer", beschwerte er sich bei seinem besten Freund. "Wie kannst du dir das leisten?" Leon winkte ab.
"Wir haben alle zusammengelegt. Die ganze Nachbarschaftsgang. Die Bedingung ist ein Videocall an Heiligabend und ein Haufen Beweisfotos, dass Norwegen wirklich so viel schöner ist als Deutschland." Lachend zwinkerte er Joost zu. Ungläubig schüttelte er nur immer und immer wieder den Kopf. Nicht zu fassen, was ihre Freunde getan hatten. Fest hielt er die Tickets in den Händen. Befühlte die unnachgiebigen Bögen zwischen seinen Fingern. Stutzte.
"Drei?", rutschte es ihm heraus.
"Ähm ... ja." Sein Kopf ruckte auf. Seine Augen fixierten Leons. Bedrückt blickte der ihn an. "Tammy hielt das für eine gute Idee. Du weißt schon ... du wirst sicher viel Zeit mit deiner Familie verbringen wollen. Da können wir die Zeit für einen romantischen Winterurlaub vor dem Kamin oder so nutzen. Hat doch was, oder?" Zum ersten Mal sah Leons Strahlelächeln traurig aus. Joost schluckte. Zwang sich, Zuversicht in seine Gesten zu legen. Nickte. Zeigte den Daumen nach oben. Führte ihn an die Schulter und machte kreisende Bewegungen. Ja, ganz super toll. Er hatte sich überhaupt nicht ausgemalt, wie er die Weihnachtszeit mit Leon in Norwegen verbringen wollte. Nur sie. Allein.
12. Dezember
Bibbernd stand Leon da. Weiß, dachte er. Es war einfach alles weiß.
Dicke Flocken fielen vom Himmel. Die Straßen waren nicht zu erkennen. Versteckten sich hinter einer gut und gerne einen Meter tiefen Schneeschicht. Menschen stapften plappernd und lachend durch knirschende Wehen. Dick eingepackt in flauschige Mäntel, Schals und Mützen. Lederne Handschuhe und Stiefel an den Füßen, die aussahen, als könnte man damit auch Eisfischen gehen.
Überfordert zitterte er vor sich hin. In seiner Skijacke, die er noch nie gebraucht hatte. Der Jeans, die immer als 'für den Winter geeignet' angepriesen worden war. Seine Hände hatten eine besorgniserregende rote Färbung angenommen.
"Velkommen til Lillehammer, venner", grummelte Joosts dunkle Stimme. Kräftig schlug sein bester Freund ihm auf den Rücken. Anders als sonst, schob der große Mann sich eine schlichte schwarze Wollmütze über den Lockenschopf. Eigentlich mochte er es nicht, wenn etwas seine Ohren bedeckte. Aber bei den Temperaturen schien selbst Joost einzuknicken.
"Oh wie bezaubernd!", rief Tammy aus. "Das sieht ja aus wie eine kleine Zuckerstadt. Richtig urig und so nostalgisch mit dem ganzen Schneegestöber. Hier bist du aufgewachsen?"
"Nein", sagte Joost trocken. Perplex fuhr sich Leons Freundin durch den erdbeerblonden Pferdeschwanz.
"Wie jetzt?"
"Meine Familie wohnt neunzig Kilometer da lang." Ein behandschuhter Zeigefinger deutete eine lange Straße entlang. Hinaus aus der Stadt. Fort vom Bahnhof, der Zivilisation. Hin zu einer aufragenden Gebirgskette. Düsteren Wäldern. Diabolisch grinste Joost sie an. "Ihr wolltet es ja authentisch." Irgendwie hatte Leon das Gefühl, doch besser das Spa-Hotel gewählt zu haben.
Es half alles nichts. Er schnappte sich Tammys Hand und hielt den pinken Fäustling zwischen seinen steifgefrorenen Fingern. Einem irrationalen Impuls folgend, ergriff er auch die Hand seines besten Freundes. Fest ruhte die große Pranke in seiner eigenen zitternden Hand. Flüchtig streifte sein Blick Joosts dunkle Augen.
Ein Ruck ging durch seinen Körper. Joost zog ihn mit sich. Ruppig. Wie es seine Art war. Vielleicht hatte er den komischen Moment der Unsicherheit auch schlicht nicht bemerkt, der sich in Leons Brust festzusetzen drohte. Rutschig folgte er dem so viel standfesteren Norweger. Seine kalten Finger glitten aus der Umklammerung des pinken Fäustlings. Aber irgendwie - war ihm das nicht unliebsam.
Auf einem freigeräumten Parkplatz stand nicht ein einziges Auto parat. Nicht eines. Dafür reihten sich Schlitten aneinander. Stämmige Pferde spannten in Geschirren davor. Insgeheim fragte Leon sich, ob es sich hier um die berühmten Touristenfallen handelte. Er konnte sich nur schwer vorstellen, wie die Einheimischen tagtäglich ihre Einkäufe mit Pferdeschlitten heimbrachten. Sangen sie dann auch traditionell 'Jingle Bells'?
"Was grinst du so?", brummte Joost neben ihm. Unschuldig zuckte er die Schultern. Sogar einige Hundegespanne fanden sich an.
Auf eine Brünette steuerten sie zu, die mit einem wilden Haufen der Vierbeiner kämpfte. Sie wirkte dabei weniger streng als vielmehr rauflustig. "Som alltid klar for alt tull, illesøster." Bei Joosts spöttischem Kommentar, hielt die junge Frau inne. Sah zu ihnen auf. Weiterhin kraulte sie einem der Hunde hinter den Ohren. Ein breites Grinsen zog ihre Mundwinkel hinauf. Aufjauchzend kam sie auf die Füße. Stieg über die Verbindung, die die Hunde mit dem Schlitten verband, um die Arme um den Hünen zu werfen. Leon lachte auf. So, wie sein Freund schaute, hielt er von der Knuddelei nicht allzu viel. Die Frau löste sich und begann ihre Hände durch die Luft fliegen zu lassen. Obwohl Leon fleißig Lautsprache unterstützende Gebärden geübt hatte, verstand er nicht Ansatzweise etwas von der Unterhaltung, die sich hier gerade vollzog. Es zeigte sich, wie unterschiedlich auch hier die Sprachen waren.
Enttäuscht wandte er sich Tammy zu. Die hatte sich dem Mann zugewandt, der ebenfalls mit von der Partie gewesen war, als sie dazu gestoßen waren. Cool lehnte der schlanke Blonde an einem Schneemobile und zog an einer Zigarette. Nickte geduldig zum denglischen Geplapper, das Tammy über ihn herniedergehen ließ. Leon kannte das von seiner Freundin. Doch anders als er, schien der Fremde nicht von der manchmal recht schrillen Stimme der Powerfrau genervt zu sein. War er anfangs ja auch nicht. Erschöpft fuhr Leon sich mit der durch Kälte malträtierten Hand über das Gesicht. Hoffte auf schnelle Erlösung.
Nach einigen flinken, aber stillen Wortwechseln, dröhnte Joost der Kopf. Zu lange hatte er seine Muttersprache auf ein Minimum reduziert. War eingerostet. Deutsch in jeglicher Hinsicht sein Mittelpunkt der Kommunikation geworden. Schließlich schien seine Schwester zu bemerken, wie schwer es für ihn war, alles in seinem Kopf zusammenzubringen.
"Entschuldige", wechselte sie in die Lautsprache, unterstützte nur noch hier und dort mit wenigen Fingerzeigen. "Ich wollte dir nicht gleich einen umgekehrten Kulturschock verpassen." Er winkte ab. Zog sie stattdessen in eine erneute halbseitige Umarmung. Tea hatte ihm unheimlich gefehlt. Die Hunde hatten ihm gefehlt. Die Kälte und der Schnee. All das löste in ihm ein ungeahntes Gefühl der Behaglichkeit aus. "Ist er das?"
Herausgerissen aus dem schönen Schwelgen, folgte Joost dem Zucken des Kinns Teas in die angegebene Richtung. Leon stand gemeinsam mit seiner Freundin etwas abseits. Wider seiner Natur, sah der dauergrinsende Blondschopf einfach nur missmutig aus der Wäsche. Tammy hingegen hatte einen guten Draht zu Emil gefunden. Ihr Nachbar und langjähriger Freund aus Kindheitstagen nickte mit roten Wangen zu jedem neuen Satz. Dabei hing sie an Leons Arm wie Industriekleber. Schnaubend stieß Joost die Luft aus.
"Ja, das ist er", gab er zu. Nur seine große Schwester wusste um seine verzwickte Lage, wenn es um Leon ging. Ein Knuff in die Seite ließ ihn grummeln.
"Es wird schon gut kommen", meinte sie aufmunternd. "Vielleicht gibt es ja auch ein Weihnachtswunder." Wenig begeistert rollte er mit den Augen.
"Indem meine dummen Gefühle einfach verpuffen?"
"Mann ey, Joost! Du siehst immer nur die negativen Möglichkeiten. Ich dachte eher daran, eine neue Liebe zu entdecken. Oder sowas." Bei ihm würde es dann wohl auf das 'oder sowas' hinauslaufen. Mit viel Weihnachtswunder und Lametta. Eventuell dem einen oder anderen Eierpunsch zu viel und einem Mistelzweig - dann wäre irgendwer zumindest der Tradition wegen genötigt seine Lippen mal auf die seinen zu pressen.
Mit schlechter Laune stapfte er zu seinen Miturlaubenden hinüber.
"Wir wollen los", nörgelte er sie an. Leon wirkte immerhin entsprechend erleichtert. Schob Tammy von sich, um forschen Schrittes zurück zu Tea zu ... rutschen. Fast schon süß, dass es dem Deutschen nicht gelang, einen festen Stand auf den vereisten Wegen zu finden.
"Ich würde lieber nicht mit den Hunden da fahren." Perplex starrte Joost die Freundin seines besten Freundes an.
"Doch", schmetterte er zurück.
"Woher willst du denn besser wissen, was ich will?", giftete sie ihn an. Trotz funkelt aus ihren Augen.
Beide fuhren zu Leon herum. Warteten. Lauernd. Forschend. Stumme Aufforderungen, sich ja nicht auf die falsche Seite zu schlagen. Wenn es nach Joost ging, dann war da schlicht auch viel Angst. Angst, hier und jetzt die endgültige Antwort auf eine nie gestellte Frage zu erhalten.
"Dann fahr halt bei Emil mit." So still. Weiße Flocken stäubten vom Himmel hinab. Weiße Wölkchen standen vor ihren Gesichtern. Heiß vom Atmen. Kalt von den nadelspitzen Worten, die gefallen waren. Joost war für einen Herzschlag lang unsicher, ob seine Hörgeräte den Geist aufgegeben hatten. Erst Tammys Auflachen überzeugte ihn vom Gegenteil.
"Mache ich auch", kam es ruhig von ihr. Beherrscht. Emil wechselte einen Blick mit Joost. Bat stumm um Hilfe. Wozu? Es brauchte keine Übersetzung, um die geladene Stimmung zu begreifen. Das hier ging nur das Paar etwas an. Richtig? Und doch hatte Leon sich gerade für eine neunzig Kilometer lange Schlittenfahrt mit ihm entschieden. Gegen Tammy. Hart schluckte Joost.
"Kommst du?", bat Leon leise. Fast zu leise. Aber die rotgefrorenen Finger lagen wieder in seiner behandschuhten Hand. Hielten ganz fest. Verdammt ja, er würde sich das nicht nehmen lassen.
15. Dezember
Wenn du glaubst, es geht nicht mehr weiter hinauf, dann stürz dich in die Tiefe. Meist findet sich beim erneuten Anstieg ein Weg rauf, der dir beim ersten Versuch entgangen ist.
Das zumindest hatte sein Vater immer gesagt als er noch klein war. Auch nach seinem Schulabschluss hatte Joost nach dem Prinzip gelebt. Vor der Reise nach Deutschland. Später, bei der Entscheidung in Dresden zu bleiben. Immer dann, wenn er sich sicher war, keinen Ausweg mehr zu sehen. Die bewusste Entscheidung, sich in die Tiefe zu stürzen erschien wie ein Versagen. Aufgeben oder sogar Abstürzen in ein dunkles Loch der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. So war es nicht. Es war etwas Kontrolliertes. Riskant und kalkuliert zugleich.
"Im Leben jagen mich da keine zehn Pferde runter." Schmunzelnd verlagerte Joost sein Gewicht etwas weiter, damit er parallel zum Hang stand und sein Brett nicht fortrutschte. Am ganzen Körper zitternd stand Leon nun schon seit guten zehn Minuten oben auf der Piste. Wie versteinert. Noch nie hatte er jemanden gesehen, der sich so vor einer kleinen Bewegung gefürchtet hatte.
"Es kann dir gar nichts passieren", beschwor er seinen besten Freund. "Ich sichere dich doch."
"Für'n Hintern, Jojo", keifte Leon inbrünstig. "Sicher ist hier gar nichts. Wo ist der versprochene Idiotenhügel?"
"So lernt man das nicht." Sein Vater hatte ihm und seinen Geschwistern das Fahren auch beigebracht, indem er sie in die Berge geschleppt und die Hänge hinuntergejagt hatte. Wer nicht wagte ...
Leon zeigte ihm einen Vogel. Joost zuckte die Schultern. Stellte seinen zweiten Fuß in die Halterung und schnallte sich fest. Dann eben nicht. Eigentlich hatte er Leon ablenken wollen. Seit Tagen hockte der sonst schon nervtötend gut gelaunte Mann in der Blockhütte von Joosts Eltern. Sah dem Schnee beim Fallen zu. Tammy wohnte im Spa-Hotel. Was genau nach dem So-was-wie-Streit passiert war - darüber schwieg sein bester Freund. Langsam aber ging es Joost an die Substanz. Einen schmollenden, Trübsal blasenden Leon konnte er nicht verkraften. Daher die Sache heute. Wer konnte einem das Snowboarden schon besser beibringen als jemand aus Lillehammer?
Fuhr der gerade einfach ohne ihn diese verdammte Piste runter? Geschockt sah Leon dem breiten Rücken hinterher, der da locker flockig einen Turn nach dem nächsten vollführte.
Hilfesuchend sah er sich um. Überall stoben Skifahrende an ihm vorbei. Am gemeinsten waren die Kinder auf ihren Miniskiern und mit ihren kleinen Stöckchen. Quietschend vor Freude sausten die im Schuss den steilen Abhang hinunter. Stöhnend legte Leon den Kopf in den Nacken. Weihnachtsmann, hilf!
Mit mehr Elan als er verspürte, zog er die Skibrille nachdrücklich fester. Dann überprüfte er die Füße in seinen Halterungen. Drehte sich und das Board. Und schrie. Lange und hingebungsvoll.
"Jojo!" Mit den Armen zu wedeln war eine bescheidene Idee. Ließ sich aber nicht verhindern. Es irritierte ihn außerdem, dass er die Füße nicht voneinander weg bewegen konnte. Wer hatte sich das bloß ausgedacht?
"... eon?" War die grüne Jacke eben sein bester Freund gewesen? Den Kopf würde er sicher nicht drehen. Wie bekam man das Brett bloß wieder horizontal? Leon verrenkte sich in dem Versuch, wenigstens so etwas Ähnliches wie einen Turn zu fahren, das linke Knie. Schmerz schoss durch sein Bein. Hektisch fuchtelte er noch mehr mit den Armen. Was hieß 'Haltet mich auf' auf Norwegisch?
Eine mächtige Tanne donnerte an ihm vorbei. Wann war er denn von der Piste abgekommen und in einen Wald gefahren? Na super, dann konnte er sich direkt gehackt legen. Im Kopf verabschiedete Leon sich von all den Menschen, die ihm jemals etwas bedeutet hatten. Bereute kurz, wie die Trennung von Tammy abgelaufen war. Es hätte früher sein müssen. Er hätte ehrlicher zu sich selbst sein müssen. Vielleicht - nur vielleicht hätte er dann noch die Chance gehabt ... Der Aufprall war hart.
Weiß, dachte er. Alles weiß. Und bitterkalt. Stille umgab ihn. Nein, nicht gänzlich. Im linken Ohr fiepte es penetrant. Mist!
Er hatte die Hoffnung gehegt, Ohrenschützer und der Helm würden ausreichen, um die Feuchtigkeit von den Hörgeräten fernzuhalten. Aber der Aufprall und das Eintauchen in den Tiefschnee waren dann doch eine Nummer zu groß für die Hightechgeräte gewesen.
Mühsam setzte Joost sich auf. Rieb sich über den Brustkorb und den Bauch. Das Fiepen begann in seinem Ohr zu schmerzen. Fahrig zog er die dicken Protektionshandschuhe von den Fingern. Setzte Helm und Ohrwärmer ab. Nahm vorsichtig seine Hörhilfen heraus. Die Batterien waren hin. Hoffentlich bekam er das Gehäuse wieder trocken. Er steckte die Geräte in eine der Taschen seiner Skijacke.
Besorgt sah er sich um. Weiß. Überall weiß. Er rief. Hörte sich nicht. Nicht wirklich jedenfalls. Wie Joost das hasste. Es schien, als laste ein stetig anschwellender Druck auf seinen Ohren. Würde den Großteil aller Töne einfach - geschluckt.
Desorientiert stand er auf. Kämpfte sich aus dem knietiefen Schnee. Wo war Leon? Angst machte sich in ihm breit. Schuld. Er hatte ihn doch abgebremst. Wieder rieb er sich über den Bauch. Sie hatten sich gedreht. Aber Joost war sich sicher, er hatte sie beide niedergerissen. So weit konnte der andere nicht gerutscht sein.
Wenn Leon etwas passiert war, konnte er sich das niemals verzeihen. Viel schlimmer - dann wusste er nicht, was er noch tun sollte.
Sein Leben hatte sich in den letzten drei Jahren um den Dauergrinser herum aufgebaut. Sie waren so gut wie jeden Tag zusammen gewesen. Er hatte für ihn gelernt vegan zu kochen. Hatte alles daran gesetzt, um ihn von den düsteren Stimmungen abzuhalten, die ihn an Weihnachten befielen. Einfach - weil.
Verzweifelt verzog Joost das Gesicht. So hatte es eigentlich nie laufen sollen. Das war nie der Plan gewesen. Fair war es schon dreimal nicht.
Plötzlich zog etwas an seiner Jacke. Erschrocken fuhr er herum. Sein Kopf prallte hart auf. Schmerz durchzuckte ihn. Verwirrt lehnte er sich zurück. Kam nicht weit. Etwas hing an ihm.
Panik! Nein, keine Panik.
Der Geruch kam ihm bekannt vor. Das Aftershave, das immer zu sehr 'Weihnachten' für ihn gewesen war. Weil es diese ganz besondere Wärme an sich hatte. Sein Blick traf auf Himmelblau. Dann auf Rot. Einen roten Fleck auf blasser Haut. Dieselbe Beule prangte jetzt vermutlich an seiner Stirn. Weiter zu rissigen Lippen. Die nicht stillstanden. Schimpften sie? Waren sie erleichtert?
Eine Hand traf seinen Hinterkopf. Überfordert schreckte Joost zusammen. Zwei kräftige Hände stießen ihn zurück. Nicht zu fest. Weit genug, um Leon zur Gänze zu sehen. Er hielt sich leicht schief. Schonte sein eines Bein.
Leons Zeigefinger fuhr an seine Stirn, machte eine halbe Drehung.
"Idiot." Das Grinsen strafte ihn Lügen. Ein zittriges Lächeln ließ Joosts Mundwinkel beben. Er zeigte auf sich. Tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und ließ ihn von sich weg in die Luft schnellen.
"Ich weiß ..." Hilflos hob er die Schultern. Wollte die Augen niederschlagen. Traute sich doch nicht. Eine verlorene Sekunde ohne Augenkontakt und er könnte ein Wort von Leon verpassen.
Der preschte einfach auf ihn zu. Wieder lag er ihm im Arm. Einfach so. Beinahe wagte Joost es nicht, den Moment zu genießen. Nur zögerlich wurde seine Köperhaltung weicher.
Es schien, als hätte Leon nur darauf gewartet. Auf dieses kleine Zeichen. Ehe Joost wusste, wie ihm geschah, lagen Leons in dicke Handschuhe verpackte Hände an seinen Wangen. Dann um seinen Hals. Zogen ihn hinunter. Nur ein kurzer Blick. Bebende Lippen. Kälte? Gespanntes Abwarten? Wer wusste das schon. Dann legten sich Leons Lippen auf die seinen. Rau. Kalt. Köstlich. Und so, wie Joost es sich irgendwie immer vorgestellt hatte.
The End