Das Drama passierte an einem Frühsommermorgen. Keine dunklen Wolken, die unheilvoll über den Himmel zogen, keine grellen Blitze, die bedrohlich die nächtliche Schwärze durchzuckten. Nein. Das Sonnenlicht und seine Wärme krochen durch die Gassen der kleine Stadt Epistola, legten sich auf Häuser und Geschäfte aus rotem Backstein. Vögel zwitscherten in den Zweigen der Bäume, die kunstvoll arrangiert die Straßen säumten. Drachen saßen in ihren Gärten, tranken Kaffee und lasen die Morgenzeitung. Drachenkinder eilten in Scharen zur Schule, deren Glocke hell erklang. Und an diesem unscheinbaren, sonnig schönen Morgen, da schlüpfte Mortimer aus seinem Ei. Ein kleines, zartes Bündel aus hellbraunen Schuppen mit großen, neugierigen Augen und winzigen, kaum zu erahnenden Hörnern und Stacheln. Aber ohne Flügel. Ganz und gar nicht, wie die anderen Drachen in der Nachbarschaft. Oder sonst wo.
„Womit haben wir das verdient?“ fragte der Vater.
„Bei den GÖTTERN! Was für ein Unglück!“ seufzte seine Mutter.
„Das liegt daran, dass du immer Eidechsen gefressen hast, während du mit dem Ei schwanger warst!” rief die Oma.
„Das liegt ganz klar in der Familie des Vaters!” brummte der Opa.
„Was soll aus ihm denn werden?“ kreischte die Tante.
„Ein gesunder junger Drache“ sagte der Onkel und kratzte sich mit der Kralle hinter den Ohren, wo seine Postmütze und die Fliegerbrille drückten „Klug, hoffe ich. Und fleißig.“
Die anderen Familienmitglieder runzelten die schuppige Stirn, doch die Diskussion war beendet.
Mortimer, kurz Mo genannt, wuchs heran und wie sein Onkel erhofft hatte, war er ein fleißiger Drache, neugierig und klug. Er war gut in der Schule und unternahm Nachmittags oft lange Wanderungen in und um sein Heimatstädtchen. Er erkundete gerne die Wälder, lief an Flüssen entlang und rannte Vögeln hinterher, die hoch am Himmel ihre Bahnen zogen. Doch er tat dies stets allein. Kein anderer junger Drache wollte ihm Gesellschaft leisten. Vor der Schule warteten sie auf ihn, klauten ihm die Schultasche und hängten sie an den höchsten Baum. Nach der Schule führten sie allerlei Flug-Kunstückchen vor und wenn sie ihn erblickten, dann spotteten sie und lachten über seinen flügellosen Rücken. Mo kümmerte es wenig. Wenn er nicht umherstreifte, dann ging er zur Poststation, einem imposanten Gebäude aus weißem Stein, mit Säulen aus Marmor und einem Dach aus goldenen Schindeln, übereinandergelegt wie Schuppen. Ein gigantischer Turm schmiegte sich an das massive Haupthaus. Er hatte keine Treppen, nur ganz oben offene Fenster, so groß, dass ein Drache mit ausgebreiteten Flügeln bequem landen konnte. Mo hätte ihn gerne genauer betrachtet, doch ihm blieb nur der Blick von unten. Mit zugekniffenen Augen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden, beobachtete er die Post-Drachen, die mit Säcken voller Briefe beladen abhoben und durch die Lüfte segelten und Diejenigen, die müde und stolz von ihrem Dienst zurückkehrten.
„Träumst du wieder?“ fragte eine altbekannte Stimme, voller Wärme.
„Onkel Thomas!“ rief Mo erfreut, als sich eine große, schwere Pranke auf seine Schultern legte.
„Du solltet nicht nur träumen. Wenn es das ist, was du wirklich willst, dann musst du nächstes Jahr zur Post-Akademie gehen.“
„Ich würde gern …“ gestand Mo „Ich habe schon oft darüber nachgedacht, aber … naja …“ Er deutete auf seinen Rücken. Nicht einmal der Ansatz von Flügeln war erkennbar.
„Du bist doch gut zu Fuß. Ich seh dich manchmal laufen, wenn ich die Post austrage“ sagte sein Onkel mit einem freundlichen Lächeln.
„Du trägst noch Post aus? Bist du nicht hoher Beamter und …“ staunte Mo.
„Ach ja, manchmal möchte ich raus aus der Verwaltung, einfach nur mal wieder ein paar Briefe zustellen“ antworte Thomas und zupfte seine schwarze Uniform mit den goldenen Knöpfen zurecht. Schwarz war der höchste Rang, den ein Post-Drache erreichen konnte. Nur der Direktor stand noch über ihm.
„Glaubst du wirklich, ich habe eine Chance?“ Die Augen des jungen Drachen leuchteten vor Hoffnung auf die Zukunft.
„Natürlich“ sagte sein Onkel „Komm mit, wir drehen eine Runde. Ich zeige dir, wie man Adressen liest und die richtige Straße findet. Das wird schon werden.“
„Das kommt gar nicht in Frage. Nein!“ Die Stimme der Ausbilderin in ihrer gelben Uniform donnerte über den Hof, auf dem sich hunderte junge Drachen versammelt hatten. Alle mit dem Ziel, in diesem Jahr bei der Akademie aufgenommen zu werden und Post-Drachen zu werden. Aber nur fünf von ihnen würden einen Platz erhalten.
„Ich kann das genauso gut, wie jeder andere Drache hier!“ rief Mo, das Gesicht ein wenig rot angelaufen. Gelächter erscholl, mancher junge Drache mussten sich bissige Zwischenrufe verkneifen.
„So?“ schnarrte die Ausbilderin „dann flieg doch mal da hoch zur Übungs-Plattform und schnapp dir den Sack voll Papier. Bring ihn hierher.“ Sie funkelte ihn lauernd an. Mo holte tief Luft.
„Wenn ich es schaffe, bekomme ich dann einen Platz an der Akademie?“
Die Ausbilderin zuckte ungeduldig mit dem Schwanz und prüfte ihre Liste. Der junge Drache hatte alle anderen Tests mit Bravour bestanden. Briefe sortieren, zählen, Adressen schreiben und lesen, angemessene Konversation mit Kunden. Was wenn er auch diesen letzten Test schaffte? Dann musste sie ihn aufnehmen oder etwa nicht? Was für ein lächerliches Bild das wäre, ein Post-Drache ohne Flügel in ihren Reihen. Bah! Sie seufzte tief. Es ging kein Weg dran vorbei, die Regeln waren eben die Regeln und an die musste auch sie sich halten.
„Also gut. Ja. Wenn du es schaffst, dann bekommst du einen Platz.“
Mo jubilierte und sprang an dem Holzgerüst empor, auf dem die Plattform thronte. Das Holz war schon etwas morsch und weich genug, so das seine Krallen Halt fanden. Mit einigen geschickten Kletterzügen war er oben und griff nach dem Sack voller Papier. Er hielt ihn mit den Zähnen fest und sprang nach unten. Mo landete auf einem kleinen Holzbalken unterhalb der Plattform, machte eine Rolle, sprang erneut und landete vor den Füßen der Ausbilderin, mitsamt dem Sack voller Papier.
„Middehöhn (Bitteschön)!“ rief er mit vollem Mund. Ein kleiner Moment des Triumphs in einem Leben voller Missgeschicke. Die Miene der Ausbilderin wurde finster wie ein Gewitterhimmel.
„Bestanden“ knurrte sie.
Die Zeit der Ausbildung war hart für den jungen Drachen. Er war hervorragend in allen Fächern, doch die Auslieferungen, die zur Probe angesetzt wurden, waren kein Vergnügen gewesen. Im Gegensatz zu seinem Onkel, der ihn geduldig zu Fuß begleitet hatte, schwebte die Ausbilderin höchstpersönlich wie ein Raubvogel über ihm, der „Schneller Schneller!“ rief. Mo war viel langsamer als seine Mitschüler, machte dafür aber auch weniger Fehler. Nie kam ein Drache in die Post-Stelle um sich über eine fehlerhafte Zustellung zu beschweren. Mo gab zwei seiner Mitschüler sogar Nachhilfe in Sachen Adress-Entzifferung und Kartenkunde. Während die Zwillinge Lilli und Lukas die Hilfe gerne annahmen, spotteten Hans und Karl, die Söhne des Post-Direktors. Sie waren deutlich älter als die anderen Rekruten, Halbstarke, die zwar geschickte Flieger, aber ziemlich langsame Denker waren und es trotzdem irgendwie durch die Akademie schafften.
Nach drei Jahren kam dann schließlich der Tag der Entscheidung. Es war früh am Morgen. Der Wind roch nach reifen Äpfeln und Herbstblättern. Die fünf Rekruten fanden sich auf dem Hof der Postakademie ein, bereit für die letzte Prüfung. Mo hatte alle anderen Fächer bestanden, aber nun galt es, ganz alleine einen Brief von höchster Wichtigkeit zuzustellen. Nicht etwa in der Stadt, deren Straßen und Häuser ihm so vertraut waren wie sein eigenes Zimmer. Nein, es sollte ein Fernbrief sein. Einer, der in weit entfernte Winkel des Landes getragen werden musste. Karl erhielt einen Brief für die Stadtverwalterin, die gerade in Urlaub auf einer kleinen Insel vor der Küste weilte, Hans bekam ein Schreiben und ein Paket für einen kleinen Landbesitzer im Norden, der ein Buch mit Kuchenrezepten bestellt hatte. Lilli und Lukas bekamen den Auftrag jeweils einen Brief an zwei verfeindete Gutsbesitzer zu liefern, die über den Gartenzaun miteinander in Streit lagen. Die Briefe enthielten, zumindest der bisherigen Erfahrung der Post-Drachen nach, eine nicht unbeachtliche Menge an Schimpfworten und Beleidigungen gegenüber dem jeweils anderen. Den Zwillingen wurde geraten, nach Zustellung möglichst schnell in Deckung zu gehen. Jeder junge Drache bekam drei Tage Zeit, seinen Auftrag zu erfüllen. Die Ausbilderin wandte sich zuletzt an Mo.
„Das hier ist ein Brief der Herzogin von Sonnengrund. Er geht an den Herzog von Schneegipfel, oben im Norden. Das ist nicht allzu weit von hier, aber du musst dich trotzdem beeilen. Du hast zwei Tage Zeit.
„Wieso nur zwei? Die anderen Rekruten haben drei …“ wandte Mo ein, doch die Ausbilderin wiegelte ungeduldig ab.
„Der Brief ist von höchster Wichtigkeit und Dringlichkeit! Solltest du versagen, so müssen wir einen richtigen Post-Drachen schicken, um den Auftrag fristgerecht zu beenden.“
Mo sagte nichts dazu. Die Ausbilderin hatte ihn damals nur widerwillig an der Akademie aufgenommen und sie legte keinen Wert auf sein Bestehen. Er setzte sein freundlichstes Lächeln auf, nahm den Brief, prüfte die Adresse, steckte ihn die Tasche, die über seinem Rücken hing und marschierte los. Hans zog mit schlagenden Schwingen über ihn hinweg und grinste schäbig.
Kaum raus aus der Stadt sputete sich Mo und rannte, so schnell wie er nur konnte. Er war ganz gut in Form, aber der Weg war dennoch nicht ohne Herausforderungen. Hoch und runter ging es, um steile Kurven und über kaum ausgebaute Schotterwege. Nach etwas mehr als einem Tag und einer Nacht erreichte er müde, aber zufrieden, das Schneegebirge. Das war ein karger Landstrich, der seinem Namen alle Ehre machte und dessen kalte Winde so manche Nacht auch bis durch seine Heimatstadt wehten. Mo fröstelte und er zog seine Rekruten-Uniform fester um die Schultern. Er trug einen weiße, schlabberige Mütze mit Fliegerbrille, ein weißes Hemd und eine graue Hose. Sie schützten ihn nicht ansatzweise vor der Kälte. Seine Zähne begannen zu klappern. Er nahm den Brief aus der Tasche und schaute nochmal auf die Adresse. Gipfelweg 1. Er sah sich aufmerksam um. Ein hölzerner, halb verwitterter Wegweiser zeigte verschiedene Möglichkeiten, diesen Ort schnellstmöglich wieder zu verlassen, aber das kam ja gar nicht in Frage. Mo hatte schließlich einen Auftrag zu erfüllen und er würde nicht ruhen, bis er ihn erfolgreich ausgeführt hatte. Er spähte nach oben. Auf dem höchsten Gipfel, halb hinter den Wolken verborgen, sah er ein kleines Licht schimmern. Das Herz rutschte ihm bis runter in die Pfoten. War das die Adresse des Herzogs von Schneegipfel? Er atmete tief durch und begann zu klettern. Das Gestein war rau und bot seinen Krallen ein wenig Halt, aber je höher er kam, desto kälter wurde es. Stunden waren vergangen. Seine Klauen wurden langsam steif und der Felsen wurde glatter, immer wieder rutschte er ab und fing sich erst ein paar Meter weiter unten. Er war so kurz vor dem Ziel, ein Post-Drache zu werden, er wollte auf keinen Fall aufgeben. Mühevoll stemmte er sich erneut hoch, griff nach einem kleinen Felsvorsprung und sah noch, wie der Stein unter seinen Krallen bröckelte. Seine Pfoten schienen ins Leere zu greifen und er bemerkte, wie durch einen Nebel hindurch, dass er nach hinten gekippt war und fiel. Instinktiv rollte sich Mo wie ein Igel zusammen und erwartete einen dumpfen, endgültigen Aufprall. Doch statt auf dem kargen Grund aufzuschlagen, landete er unerwartet weich. Er brauchte einen Moment um wirklich zu verstehen, was passiert war. Er war durch ein Loch im Felsen gefallen, dass jemand mit Holz und Stoff abgedeckt hatte. Vermutlich damit Schnee und Kälte draußen blieben. Darunter befand sich ein großer Berg aus Papier, in dem er nun bis zur Nase versunken war. Er hörte zudem ein ungewöhnliches Geräusch, etwas das nach „Grnz Grnz“ klang.
Er hob den Kopf und spähte aus dem Papierberg hinaus. Direkt vor ihm war ein großes, unheimlich dickes Hängebauch-Schwein, dessen dunkelgraue Nase in seine Richtung schnüffelte.
„Was ist denn da Pina? Was war das für ein Krach?“ fragte eine Stimme, die alt und kratzig klang. In Mos Blickfeld schoben sich vier schuppige, hellbraune Pfoten und ein dürrer langer Schwanz, der über den Boden schleifte.
„Eh“ machte die Stimme dann „du hast Recht, es ist Zeit wieder ein paar Briefe auszuliefern.“ Klauen griffen nach dem Papier, unter dem sich Mo versteckt hielt. Er streckte den Kopf heraus.
„Hallo“ sagte Mo, vorsichtig und leise. Aber offenbar nicht vorsichtig genug. Der fremde Drache reagierte, wie zu erwarten war. Er kreischte erschrocken auf und stolperte ein paar Schritte Rückwärts.
„Was um alles in der Welt??“ keuchte er.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken, tut mir leid!“ sagte Mo schnell und reichte dem anderen Drachen die Hand bzw. Klaue, der sie aber nicht ergriff sondern sich stattdessen mühevoll allein aufrappelte. Er war deutlich größer als Mo und sehr viel dünner. Er musste ungefähr so alt sein wie Mo’s Großvater und sein Gesichtsausdruck war ähnlich grimmig. Zu Mo’s großer Überraschung trug er eine Post-Drachen Uniform des gehobenen Dienstes, dunkelgrün mit silbernen Knöpfen.
„Wer bist du?“ fragte er schroff. Mo kroch aus dem Stapel voller Briefe hervor und schüttelte sich.
„Ich bin Mo, Rekrut der Postakademie, bei meiner Abschlussprüfung!“ antwortete er zackig und salutierte, was sein Gegenüber nicht unbedingt beeindruckte.
„Aha. Was machst du in meiner Höhle, Rekrut bei der Abschlussprüfung?“
„Ich soll einen Brief zustellen, an den Herzog von Schneegipfel. Ich habe nur noch ein paar Stunden Zeit.“
„Dann beeil dich mal besser“ sagte der alte Drache, ließ Mo links liegen und steckte dem Schwein ein paar Brief in die Schnauze. Dann hob er es mit Mühe hoch und bugsierte es aus der Höhle heraus, dort wo Mo hineingefallen war. Das Schwein grunze leise und verschwand.
„Wohin geht das Schwein?“ fragte Mo verwirrt, als er den Ringelschwanz im Dunkeln verschwinden sah.
„Na zum Gipfel, Post für den Herzog zustellen“ sagte der alte Drache, als sei das eine ausgesprochen dumme Frage gewesen. Mo sprang auf und kletterte hinaus. Kannte das Schwein etwa einen geheimen Weg hinauf zum Gipfel? Fliegen konnte es ja nun mal auch auch nicht. Doch aus dem leisen Funken Hoffnung wurde ein lautes Feuerwerk der Enttäuschung. Das Schwein ging nicht zum Gipfel. Natürlich nicht. Es fraß die Briefe, sobald es aus der Höhle raus war. Kaum hatte es den letzten Schnipsel Papier gekaut, kehrte es nach Hause zurück. Mo folgte ihn geknickt.
„Oh, Pina, du warst aber heute besonders schnell. Gut gemacht!“
„Eh … das Schwein hat die Briefe gefressen“ sagte Mo.
„Ach was, Unsinn! Pina ist ein ausgesprochen zuverlässiges Post-Schwein. Sie bringt die Briefe so schnell auf den Gipfel, wie niemand sonst es könnte.“
„Sind die Briefe alle für den Herzog?“ fragte Mo und sah sich die Umschläge genauer an. Allesamt von der gleichen Handschrift adressiert und manche davon verströmten einen leichten Hauch von Parfüm, blumig und warm.
„Er hat unheimlich viel Post bekommen, ja. Aber nun schon länger nicht mehr. Wenn du einen Brief für ihn hast, dann ist es der Einzige aus den letzten Wochen. Ich bin etwas im … Verzug, wenn ich ehrlich sein soll“ murmelte der alte Drache und deutete auf den Stapel an Papier „Aber das hole ich noch auf.“
„Warum stellen Sie die Briefe nicht selbst zu?“ fragte Mo und bereute es direkt wieder. Der alte Drache zog Stirn und Schnauze kraus und blaffte: „Das geht dich nichts an, Rekrut! Sieh zu, dass du deine Prüfung beendest!“
„Würde ich gerne, aber ich fürchte, ich kann nicht …“ antwortete Mo zerknirscht.
„Warum nicht? Ein kräftiger junger Bursche wie du sollte doch ganz einfach zum Gipfel fliegen können. Klopf dann oben ans Fenster, habe ich früher auch so gemacht. Dann lässt dich der Herzog rein.“
Mo neigte irritiert den Kopf zur Seite und betrachtete den alten Drachen genauer.
„Entschuldigen Sie, wenn ich so direkt spreche, aber … kann es sein, dass Sie nicht mehr gut sehen können?“ fragte Mo.
„Was? Ich? Ich kann ganz hervorsagend sehen, danke.“
„Und Ihnen fällt nichts an mir auf?“
„Nein. Ich sehe, dass du die weiße Uniform der Rekruten trägst. Und du klingst … ich meine, du siehst jung aus. Passt alles zusammen. Jetzt sieh zu, dass du hinauskommst.“
„Ich habe keine Flügel“ sagte Mo knapp und drehte dem alten Drachen den Rücken zu.
„Eh, wie?“ fragte der und tastete vorsichtig mit den Klauen nach dem Postbeutel auf Mos Rücken. Da war nichts, keine lederne Haut, keine eingeklappten Schwingen „Ach du lieber Himmel!“ stöhnte er „das tut mir aber leid für dich!“
„Muss es nicht“ wiegelte Mo ab „Aber zum Gipfel fliegen kann ich trotzdem nicht. Haben Sie vielleicht noch eine andere eine Idee?“
„Pina! Wir schicken sie nochmal los und …“
„Nicht das Schwein. Es frisst die Briefe“ sagte Mo und kraulte das Tier unter dem schlabberigen Kinn „Nichts für ungut.“
„Ist das … wahr?“ Der alte Drache sackte in sich zusammen und setzte sich mit ausgestreckten Hinterläufen auf den Boden.
„Tut mir leid“ sagte Mo „Wie hießen Sie?“
„Hektor“
„Freut mich Sie kennen zu lernen, Hektor.“
Und wie sie nun beide da saßen, berichtete Mo von seiner Zeit auf der Akademie und Hektor schließlich davon, dass er lange Zeit als Post-Drache gearbeitet hatte. Insbesondere hatte er Briefe von der Herzogin von Sonnengrund zum Herzog von Schneegipfel getragen, die eine leidenschaftliche Brieffreundschaft pflegten und wenn Hektor den Herzog so seufzen hörte, so musste es doch auch Liebe sein. Aber dann wurden Hektors Augen immer schlechter, es fiel ihm schwer den Weg zu finden und er war ein ums andere Mal an die Felsen gestoßen, bis er schließlich aufgeben musste. Zurück zur Postverwaltung habe er sich nicht getraut, nachdem er so viele Briefe nicht hatte zustellen können. Er sammelte sie alle in dieser Höhle. Nur Pina kannte sein Geheimnis. Bisher jedenfalls.
„Aber Sie können noch fliegen?“ fragte Mo hoffnungsvoll.
„Und ob. Ich war einer der Besten meines Jahrgangs!“
„Wäre es vielleicht möglich, dass wir zusammen …“ fragte Mo zaghaft.
„Das ich dich auf dem Rücken trage und du mir die Richtung vorgibst. Hm … das hat noch nie ein Post-Drache versucht. Aber ich wüsste nicht, was gegen einen Versuch sprechen würde“ sagte Hektor und beide verließen die Höhle.
„Bin bald zurück Pina“ sagte der alte Drache und ließ sich auf den Boden sinken. Mo kletterte auf seinen Rücken und hielt sich an seinem Hals fest. Über ihnen funkelten unzählige Sterne und vor ihren Schnauzen bildete sich weißer Nebel.
„Kann es losgehen, Rekrut?“
„Ich bin bereit.“
Hektor streckte die Flügel aus und begann Anlauf zu nehmen.
„Ein bisschen mehr nach links laufen!“ rief Mo „Jetzt hochziehen!“
Der alte Drache streckte die Flügel und gemeinsam schwebten sie nach oben, dem Ziel immer weiter entgegen.
„Etwas nach rechts neigen. Jetzt gerade halten“ sagte Mo und genoss den eiskalten Wind, der ihm um die Ohren wehte. Das letzte Mal war er mit seinem Onkel geflogen und das war schon viele Jahre her. Auch er hatte ihn damals auf den Rücken genommen und Mo hatte sich so fest geklammert, wie nie zuvor in seinem Leben und alles war gut gegangen. Seine Mutter hatte ihrem Bruder danach trotzdem jegliche Flugstunden mit ihrem Sohn untersagt. Für immer und ewig.
„Eh? Ist ja nicht wahr!!“ hörten Mo und Hektor eine Stimme hinter sich. Jung und kräftig, ein bisschen plump. Das war Hans. Er hatte seinen Auftrag natürlich schon erledigt und in der Stube des Landbesitzers roch es sicherlich längst nach Kuchen. Es sei denn, er war zur falschen Adresse geflogen. Hans hielt aber noch einen Brief in der Hand. Mo kniff die Augen zusammen und erkannte die Klauenschrift der Ausbilderin auf dem Umschlag.
„Was willst du hier?“ fragte Mo schroff und hab Hektor ein Zeichen, noch höher zu fliegen.
„Ich stell sicher, dass dein flügelloser Hintern in Schimpf und Schande zur Akademie zurück kehrt. Gib mir den Brief für den Herzog, ich stelle ihn zu.“
„Du bist der „richtige Post-Drache“ den sie schicken wollten, falls ich es nicht schaffe? Ich muss dich enttäuschen. Die Frist endet erst bei Sonnenaufgang“ Mo ließ den Blick über die Wolken streifen. Am Horizont zeichnet sich langsam ein zarter heller Streifen ab. Noch ungefähr eine Stunde Zeit.
„Das schaffst du nie. Gib mir den Brief!“ rief Hans und schoss auf Mo und Hektor zu.
„Drehung nach links!“ rief Mo und klammerte sich fest an Hektors Hals, als dieser die Flügel einklappte und sich drehte.
„Was soll das denn? Gib einfach auf!“ rief Hans und schlug mit dem Schwanz nach Mos Post-Tasche. Der Gurt lockerte sich bedenklich. Mo ließ mit einer Hand Hektors Hals los und griff nach der Tasche. Er nahm den Brief heraus umklammerte ihn fest. Das war gut, denn nur ein paar Augenblicke später löste sich die Tasche von seinem Rücken und segelte den Berg hinab.
„Was war das?“ fragte Hektor.
„Alles gut. Fliegen Sie etwas mehr nach rechts und dann immer höher. Wir sind schon fast da. Sehen Sie das kleine Licht?“
„Verschwommen, ja“
„Fliegen Sie darauf zu!“ rief Mo.
„Das könnt ihr vergessen!“ brüllte Hans und schoss erneut auf sie zu. Er war ein guter Flieger, sie würden ihn nicht einfach abschütteln können. Mo richtete sich auf, nahm den Brief vorsichtig zwischen die Zähne und sprang. Hans konnte nicht mehr bremsen und Mo landete mit Wucht auf seinem Rücken und hielt sich so fest er konnte. Sein Widersacher strampelte mit den Beinen, klappte die Flügel ein, versuchte sich zu drehen um ihn abzuschütteln doch Mo war hartnäckig. Es ging jetzt nicht nur um seinen Auftrag sondern auch um sein Leben und an diesem hing er doch sehr, genauso wie an Hans Hals.
„Lass los du Eidechse!“
„Flieg eine Kurve, schnell!“ rief Mo erschrocken, als die Schlosswand auf sie zuschoss. Oder eher umgekehrt.
„Eh wa…?“ fragte Hans noch, als er mit dem Schädel gegen die steinerne Wand knallte, sie glatt durchbrach und auf dem Schlosshof liegen blieb. Hans Kopf dröhnte und der Himmel drehte sich. Mo schüttelte sich, sprang ab und kletterte durch das Loch zurück.
„Hektor??“ rief er besorgt.
„Hier!“ hörte er den alten Drachen über sich. Er hatte den Landepunkt nicht ganz erwischt und sich an der Fensterbank festgeklammert.
„Ich komm zu Ihnen, schön festhalten!“ Mo kletterte raus und grub die Krallen tief in die Schlosswand. Er zitterte und musste sehr viel Kraft aufwenden, doch er kam Stück für Stück voran.
Der junge Drache streckte sich so weit er konnte und klopfte mit einer Klaue an das Fenster des Schlosses. Eilige Schritte erklangen und nur ein paar Augenblicke später wurde es geöffnet. Mo zog sich hoch, kletterte hinein und bat den Herzog inständig um Hilfe, der nicht zögerte und den alten Post-Drachen mit einem kräftigen Ruck ebenfalls hinein zog. Hektor japste nach Luft und fing an vor Erleichterung zu lachen. Mo fiel mit in das Lachen ein, räusperte sich dann und verneigte sich von dem Schlossherren, der ein wenig die Stirn runzelte und nach dem Krach in seinem Schlosshof fragte. Der Herzog war ein stattlicher, wenn auch sehr in Gedanken versunkener Drache mit dunkelblauen Schuppen und ebenso dunkler Kleidung. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, als würde er schon länger sehr schlecht schlafen. Seine Miene hellte sich schlagartig auf, als Mo ihm den Brief reichte. Mit zitternden Klauen nahm er ihn entgegen und las leise, so dass niemand außer ihm es hören konnte:
„Mein liebster Freund,
lange habe ich nichts von euch gehört. Ihr fehlt mir sehr und ich wünschte, ich würde noch einmal Nachricht von euch erhalten. Meine Briefe der letzten Monate blieben unbeantwortet und ich hoffe, euch ist nichts zugestoßen! Ich mache mir fürchterliche Sorgen, doch bin ich auch ein wenig verängstigt, denn, wenn ich so ehrlich sein darf, ich erhoffte mir doch ein wenig mehr. Verzeiht, nun ist es raus. Ich wollte euch nur sagen, ich halte unsere Freundschaft in Ehren, doch ich liebe euch auch. Bitte lasst mich wissen, wie es euch geht. Wenn ihr meiner Worte überdrüssig seid, so will ich euch nicht länger belästigen. Dann soll dies mein letzter Brief gewesen sein.“
Der Herzog ließ den Brief sinken, Tränen in den dunklen Augen. Er zog Hektor und Mo fest an sich und klopfte ihnen voller Dankbarkeit schließlich auf die Schultern.
„Bitte bestätigt den Erhalt des Briefes hier“ sagte Mo und hielt ihm ein Kärtchen hin, auf dem der Herzog unterschrieb, während die Sonne sich über die Wolken erhob und ihr sanftes, warmes Licht durch das Fenster schickte.
„Wartet kurz noch hier!“ sagte der Herzog und zog ein blütenweißes Papier aus einem Schreibtisch, nahm eine Feder, setzte zu einem Wort an und schüttelte dann den Kopf. Er ließ die Feder sinken und zerknüllte das Papier.
„Ach, vergesst die Förmlichkeiten! Ich fliege selbst zu ihr!“ Der Herzog zupfte an seinem weißen Kragen, zog das Halstuch zurecht und öffnete die Fensterläden so weit er konnte. Dann breitete er die Flügel aus und flog mit einem leisen Jubelschrei davon. Mo und Hektor sahen ihm eine Weile nach und gingen dann zum Schlosshof. Hans war bereits verschwunden.
„Dann lassen Sie uns auch zurück zur Akademie gehen, ja?“ fragte Mo schließlich „Ich habe hier ein Schreiben mit Datum und Uhrzeit, zu dem der Brief zugestellt wurde. Das muss ich noch meiner Ausbilderin vorzeigen.“
„Eh, ich denke, ich gehe zu Pina zurück und …“
„Bitte nicht Hektor! Lassen Sie uns zusammen arbeiten! Als Post-Team! Sie fliegen, ich gebe die Richtung vor. Gemeinsam können wir noch lange Briefe zustellen und andere Drachen glücklich machen!“
„Nun … bringen wir dich erst mal zurück zur Akademie. Klettere auf meinen Rücken.“
Ein paar Flugstunden später erreichten sie gemeinsam das Städtchen Epistola. Auf dem Hof der Post-Akademie warteten bereits die Ausbilderin, Mos Onkel Thomas, die Zwillinge Lilli und Luke, beide mit einem Pflaster auf der Schnauze und einem Verband am Arm, Karl mit vollem Mund und einer ordentlichen Ladung Backfisch in der Tasche und Hans, mit einem dicken Verband am Kopf und einem grimmigen Ausdruck im Gesicht. Sie alle waren schneller gewesen als Mo.
„WAS IST DAS?“ schimpfte die Ausbilderin, als sie die beiden Neuankömmlinge erblickte. Hektor landete ein paar Schritte entfernt und Mo lief zu ihr hinüber und überreichte ihr die Zustellbestätigung des Herzogs von Schneegipfel. Pünktlich, zwei Minuten vor Sonnenaufgang.
„Hans hat mir berichtet, dass du auf dem Rücken dieses Drachen … ist das Hektor der Zuverlässige?“ fragte die Ausbilderin mit großen Augen und verneigte sich vor dem Status der grünen Uniform. Schließlich fing sie sich wieder.
„Ehrm, ja. Das ist dennoch gegen die Regeln! Ein Post-Drache darf nicht auf dem Rücken eines anderen Post-Drachen die Post zustellen. Das ist verboten“ sagte die Ausbilderin.
„Steht wo?“ fragte Onkel Thomas.
„In §38a Absatz 4.“
„Der Kragen der Uniform muss frei von Flecken sein?“
„Nein, dann war es §47b Absatz 3“ erwiderte die Ausbilderin mit leichter Panik.
„Der Weg zu Fuß wird bei Kostenerstattung nur nach Fluglinie vergütet?“
„Was? Nein, ich meine …“ Sie wollte es nicht. So einfach war das.
„Es gibt kein Gesetz, dass es Post-Drachen verbietet, als Team zusammen zu arbeiten“ sagte Lilli und Lukas nickte „Wir haben sie alle gelesen.“
„Aber eh …“ warf die Ausbilderin noch ein, wusste aber bereits, das sie verloren hatte.
„Die beiden haben recht. Und sie wollen doch nicht gegen die Regeln verstoßen, oder?“ fragte Thomas und legte ein eisiges kleines Lächeln auf. Die Ausbilderin nickte schroff und verkündete: „Lilli und Lukas, bestanden. Karl, bestanden. Hans … bestanden.“ Dabei warf sie dem Halbstarken einen finsteren Seitenblick zu, und flüsterte, ganz leise, so dass nur Hans es hören konnte: „Wehe, du verlierst auch nur ein Wort darüber.“ Dann wandte sie sich an Mo.
„Was dich betrifft ….“ Sie knurrte leise „Mortimer … bestanden.“
Mo jubelte, wie auch die anderen Rekruten, die nun richtige Post-Drachen waren. Ein Jahr hatten sie nun, um sich zu beweisen und vielleicht sogar einen Rang aufzusteigen. Rote Uniformen wurden ihnen überreicht, Mo war der glücklichste Drache der Stadt. Sein Onkel legte ihm voller Stolz einen Arm um die Schultern.
„Gut gemacht. Ich habe immer gewusst, dass du es schaffen kannst.“ Er schaute verstohlen zu dem alten Drachen hinüber, der grimmig zur Ausbilderin starrte.
„Wo hast du ihn gefunden? Hektor galt schon seit Monaten als verschollen.“
„Er hat Briefe zugestellt. Der Herzog von Schneegipfel hat unheimlich viel Post bekommen.“
„Aha? Und wie geht es nun weiter?“
„Ich werde mit Hektor zusammen arbeiten, denke ich. Wenn er das auch will. Wir bringen die restlichen Briefe zum Schloss und danach sehen wir weiter.“
„Ich wünsche dir viel Erfolg“ sagte sein Onkel mit einem Lächeln, nickte und ging seiner Wege, genau wie Mo, der sich schließlich an Hektor wandte.
„Sind Sie bereit, die restlichen Briefe an den Herzog zuzustellen?“ fragte Mo.
„Er ist doch fort“ antwortete Hektor mit einem Schulterzucken „Er braucht die Briefe nicht mehr.“
„Aber sie gehören ihm. Wir sollten sie trotzdem zustellen“ sagte Mo und lächelte „Lassen Sie uns als Team arbeiten! Und wir sollten uns vielleicht ein bisschen beeilen, bevor Pina auch den Rest der Briefe aufgefressen hat.“
Der alte Drache verzog die Schnauze zu einem Lächeln.
„Nun gut, ich wollte eh noch nicht in Rente gehen. Auf geht’s Junge.“
Ende