Der Ball rollt, rollt, rollt durch die Luft, nein er fliegt, fliegt, fliegt. Und mit ihm der Junge, der ihm hinterherspringt, den Blick nur auf den Ball gerichtet, als würde er am liebsten sämtlichen Naturgesetzen trotzen.
Das beobachtet der Mann aus weiter Ferne. Ganz klein in seinem Sichtfeld erstreckt sich der Fußballplatz, und alles darum herum ist aus des Mannes Wahrnehmung verschwunden. Ein kleiner Bolzplatz, umgeben von weißer Fläche. Darauf ein Junge und sein Ball.
Der Mann ist viel zu weit weg, um das Gesicht des Jungen erkennen zu können, darum geht er näher heran. Dabei hat er nicht das Gefühl, in dem weißen Nichts von der Stelle zu kommen, nur der Sportplatz wird größer, als zoome jemand weiter in das Bild hinein.
Nun befindet sich der Mann nur noch wenige Meter hinter dem metallenen Fußballtor. Der Junge steht mit dem Rücken zu ihm, und der Mann überlegt gerade noch, ob er ihn kennt, da holt der Kleine plötzlich mit dem Fuß aus und lässt den Ball quer über den Platz zischen. Drüben beim gegenüberliegenden Tor bemerkt der Mann eine Bewegung – ein Zusammenzucken. Zwischen den Torpfosten sitzt dort ein zweiter etwas kleinerer Junge.
Der kleine Junge
(mit zusammengekniffenen Augen)
Du hast gesagt, du bleibst drüben in deiner Hälfte!
Der Große
(grinsend, die Augen aber nicht richtig deutbar)
Ach komm, spinn nicht rum. Du kannst ja wo anders Stöckchen spielen.
Erst da sieht der Mann, dass der Kleine mit einem Taschenmesser an einem Stock herumschnitzt.
Kaum hat er das bemerkt, da beginnt sich mit einem Mal der gesamte Bolzplatz vor des Mannes Augen um die eigene Achse zu drehen. Er kommt erst wieder zum Halt als das Tor mit dem schnitzenden Jungen direkt vor ihm steht. Der sitzt nun mit dem Rücken zu ihm und hat sich wieder seinem Stock zugewandt. Scheinbar hat er von der Drehung keine Notiz genommen. Genauso wenig der Große. Er hat sich wieder seinen Ball geschnappt und kickt aufs Neue vor sich hin, nun auf der dem Mann abgewandten Seite des Platzes.
Aber das ist für den Mann gar nicht mehr von Bedeutung. Er hat nur noch Augen für den mit dem Messer, der selbst wiederum nur Augen für seinen Stock hat. Der Junge dreht und wendet den Stock beim Schnitzen, als sähe er etwas Besonderes darin, das niemand sonst sehen kann und er müsse es aus dem Holz befreien.
Der Mann geht einen Schritt zur Seite, damit er dem Jungen besser über die Schulter schauen kann. Das Werk nimmt immer mehr Form an, und der Mann beugt sich weiter vor bis er mit der Stirn die kalten Gitterstäbe des Tores berührt und sie mit den Händen umfasst.
Er kann nun erkennen, was der Junge schnitzt, und seine Hände umklammern die Stäbe noch fester. Das Kunstwerk ist objektiv gesehen nicht besonders gut gelungen, aber der Junge hat sich viel Mühe gegeben, und man kann erkennen, dass es sich um den Kopf eines Elefanten handeln soll. Der Rüssel ist jedoch viel zu dick für den Rest des Kopfes und die Ohren zu klein. Trotzdem blickt der Junge sein Werk mit einer unendlichen Liebe an.
Die Knöchel an den Händen des Mannes treten weiß hervor, so fest umklammern sie mittlerweile die Stäbe. Seine Augen brennen. Er kann sich noch daran erinnern, wie sein Bruder Benni Elefanten liebte, sein totkranker Bruder. Sie waren damals plötzlich überall in ihrem Haus. Anfangs gemalt, dann fotografiert und später gebastelt. Von der Bettwäsche, über die Bücher bis hin zur Wandtapete – überall in Bennis Leben ging es um Elefanten.
Viele Jahre vor dem Tag auf dem Bolzplatz saß die Familie beim Abendessen beisammen. Vater, Mutter und Benni redeten miteinander, doch John war eher schweigsam, er dachte an das Fußballspiel, das er am nächsten Tag haben würde. Bis:
Benni
(begeistert)
Hey Johnny, wie fändest du es eigentlich, wenn ich dich Elefanti nennen würde? Ich könnte es morgen bei deinem Spiel rufen, um dich anzufeuern.
Es schwang keinerlei Ironie in der Stimme des Kleinen mit.
Der große Bruder, John, der Mann von später, blickte auf, die Gabel mit Reis auf halbem Weg zum Mund. Er starrte seinen kleinen Bruder entgeistert an, in Gedanken bei dem Horror, den er würde durchleben müssen, wenn sein Bruder das morgen durchziehen würde.
Benni
(weiterhin grinsend)
Es würde zu dir passen, John. Du bist groß und du vergisst nie etwas. Elefanten vergessen auch nie. Und du hast noch nie vergessen, Marie einen dieser Briefe zu geben.
Die Mutter schmunzelte, doch John funkelte den Kleinen wütend an. Der hingegen blickte ohne Unterlass zurück, bis irgendwann sein rechter Mundwinkel zuckte. Er war verletzt. Konnte nicht begreifen, warum sein Bruder diesen Spitznamen, dieses Zeichen seiner Wertschätzung, nicht grandios fand.
Während der Kleine überall in der Welt Elefanten sah, war der Große immer am Kicken. Wenn er aus der Schule kam, ging er zum Bolzplatz. Für John war der Ball kein Sportgerät, sondern ein Teil seines Körpers, er schwebte mit ihm über die Wiese und flog durch die Lüfte. Später musste er immer wieder seinen kleinen Bruder mitnehmen als ihre Eltern anfingen länger und härter zu arbeiten. In der Zeit bolzte er verbissener und ehrgeiziger als zuvor.
Der Mann namens John steht nach wie vor hinter dem Tor des Bolzplatzes und beobachtet seinen kleinen Bruder von damals beim Schnitzen. Die Gitterstäbe zwischen ihnen. Der Kleine sieht ihn nicht, kann nicht wissen, dass er da ist, und doch blickt er plötzlich auf, dreht sich um und sieht in seine Richtung. Benni zieht die Augenbrauen hoch, dann zuckt sein rechter Mundwinkel. Er schaut ein paar weitere Sekunden ins Leere, wo sein heute dreißig Jahre älterer Bruder steht, dann dreht er sich weg und wendet sich wieder seinem Stück Holz zu. Sein drei Jahre älterer Bruder hat nichts bemerkt, er ist ganz auf den Ball fokussiert.
John steht einfach da und schaut seinem kleinen Bruder beim Schnitzen zu, wie er dabei in seine eigene Welt abtaucht, die Welt der Elefanten, die mächtig und stark sind. Mächtiger und stärker als seine Krankheit, und so wie sein großer Bruder, der immer beständig seinen Weg gegangen ist, ohne nach links und rechts zu schauen. Oder war er getrampelt? Wie ein Elefant?
Der Mann erinnert sich, wie sein kleiner Bruder Benni einst erzählte, dass eine Elefantenherde ihr ganzes Leben lang beständig dieselben Wege entlangschreitet, so beständig, dass, wer sich ihnen in den Weg stellt, Gefahr läuft niedergetrampelt zu werden. In Namibia stehe ein Hotel, das genau auf einer solchen Route gebaut wurde, und immer, wenn die großen Tiere kommen, werden die Vorder- und Hinterpforten geöffnet, damit sie – beständig wie sie sind – hindurchwandern können.
John blickt auf und sieht sein vierzehnjähriges Ich, immer noch scheinbar mit dem Ball verwachsen, am Kicken, keine Notiz nehmend von seinem kleinen, kranken Bruder, der einst so sehr zu ihm aufgeschaut hatte, diese Anerkennung jedoch nie erwidert bekam, bis er schließlich aufgab. Dem die Ärzte noch fünf bis zehn Jahre gaben, die er aber nicht bekam. Und das, obwohl sich sein großer Bruder so sehr daran geklammert hatte. John dachte er hätte noch Zeit und versteifte sich auf das Fußballspielen.
Benni
(genervt vom Schnitzen aufblickend)
John, wie lange müssen wir noch bleiben? Langsam hab ich kein Bock mehr!
Der Große ignoriert ihn.
Da wird der Mann mit einem Mal wütend, er geht um das eiserne Fußballtor mit den kalten Gitterstäben, in dem sein kleiner Bruder sitzt, herum und schreitet auf den bolzenden Bengel zu, bereit ihn zu packen und zu schütteln, ihn anzuschreien.
Doch plötzlich ist John allein. Sein jüngeres Ich mitsamt Ball – weg! Der schnitzende Benni – weg! Da schreit der Mann trotzdem, denn das alles ist schon so lange her, aber ein Elefant vergisst nie.
Irgendwann merkt John, dass er auf dem Boden kauert. Er fühlt kalte Nässe an seinem Gesicht und nimmt den Geruch von Erde und Gras wahr.
Langsam rappelt er sich auf und blickt sich auf dem leeren Bolzplatz um. Der Himmel ist grau, die Luft feucht. Nichts ist zu hören, außer dem leichten Rauschen des Windes in den umstehenden Bäumen.
Er will sich gerade in Bewegung setzen, um diesen Ort zu verlassen, da hört er schnelle Schritte hinter sich. John wirbelt herum und sieht einen etwa zwölfjährigen Jungen auf sich zu rennen. Er ist aufgeregt, aber auch ein bisschen schüchtern.
„Entschuldigung“, keucht er. „Können wir ein Foto machen?“
Kurz ist John irritiert, dann nickt er, und routiniert posiert er für das Selfie, das der Junge mit seinem Handy aufnimmt. Der Mann lässt es über sich ergehen, wie er es so oft tut, wenn Fans begeisterter von ihm sind als er selbst.
Kurz scheint der Junge mit sich zu hadern, dann stößt er hervor: „Wenn ich groß bin, will ich auch Profifußballer werden. Ich trainiere jeden Tag.“ Er deutet auf den Fußball, der unter seinem Arm klemmt, und schaut John begeistert an.
Der denkt, er sollte dem Jungen vielleicht einen wichtigen Tipp geben, weiß aber nicht, was er sagen soll. Oder wie. Deshalb nickt er nur und hasst sich dafür.
Da verabschiedet sich der Junge und geht zu einem der Tore, wo er sich aufzuwärmen beginnt, immer wieder einen Blick in Richtung John werfend.
Der setzt sich nun jedoch wirklich in Bewegung. Er hat noch ein paar wichtige Termine hier in der Gegend, in seiner Heimat, und morgen steht ein wichtiges Spiel an.
Er wird nie vergessen, aber er geht beständig seinen Weg, auf dem so einige Hotels gebaut wurden, damit er als berühmter Fußballer hindurchwandern würde. Doch waren sie vielleicht genauso wenig für ihn gebaut, wie das Hotel in Namibia nicht für die Elefanten gedacht war?
Ach Brüderchen, denkt John. Du und deine verdammten Elefanten… Wo das nur herkam?
Da bleibt er plötzlich stehen. Es ist ihm eingefallen. War er es nicht, der Benni erstmals ein Buch über Elefanten geschenkt und es sich mit ihm angesehen hatte? Er grinst mit glänzenden Augen. Ja, so muss es gewesen sein.